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LEIBNIZ Frau Scholl, ein gängiges Klischee besagt: Macht korrumpiert. Stimmt das?

ANNIKA SCHOLL Diese Frage beschäftigt die Forschung schon lange. Tatsächlich kann Macht Menschen laut Forschungsstand dazu verleiten, nach ihren eigenen Interessen zu handeln und zuweilen auch ihre Position für eigene Zwecke zu nutzen. Das scheint aber nicht immer der Fall zu sein: In der Realität denken Menschen in Leitungspositionen die Folgen ihres Handelns für andere oftmals mit und sind sich ihrer Verantwortung bewusst. Wir haben uns gefragt: Hängt die Art und Weise, wie Menschen ihre Macht nutzen, womöglich davon ab, wie sie sie interpretieren? Dabei unterscheiden wir zwei Sichtweisen: Macht kann als Gelegenheit oder als Verantwortung verstanden werden.

Was zeichnet die jeweilige Sichtweise aus?

Wenn Menschen Macht vor allem als Gelegenheit begreifen, stehen die eigenen Freiräume im Vordergrund: Sie fühlen sich ermächtigt und frei, wichtige Entscheidungen zu treffen. Sie fokussieren ihre Aufmerksamkeit hier stärker auf aktuelle Ziele und darauf, Dinge voranzutreiben. Ich benutze in Präsentationen häufig das Bild einer Person, die am Schreibtisch sitzt, ihre Füße auf den Tisch legt, die Hände hinter den Kopf verschränkt und gelassen auf die eigene Rolle und Aufgabe blickt.

Wie stellen Sie sich dann eine Person vor, die Macht vor allem als Verantwortung versteht?

Ein bisschen wie Spiderman, der versucht, sich um alles zu kümmern – nach dem Motto Mit großer Macht kommt große Verantwortung. Wir gehen davon aus, dass wenn Macht als Verantwortung wahrgenommen wird, eben nicht nur das Ziel im Fokus steht, sondern auch andere Aspekte, etwa das Wohlergehen der Mitarbeitenden. Diese Menschen erleben ihre Macht eher als Verpflichtung, wichtige Dinge zu erledigen.

Womöglich ist es am besten, wenn Mächtige beide Seiten im Blick behalten und je nach Situation flexibel wechseln können.

ANNIKA SCHOLL

Porträt von Annika Scholl
Foto PAAVO RUCH

ANNIKA SCHOLL ist stellvertretende Leiterin der Arbeitsgruppe Soziale Prozesse am Leibniz-Institut für Wissensmedien. Neben dem Interview hat sie uns fünf Tipps für Führungskräfte in der Pandemie gegeben.

Wie wirkt sich das auf ihr Handeln aus?

Unsere Studien haben gezeigt, dass Menschen, die ihre Machtposition als Verantwortung und nicht als Gelegenheit verstehen, weniger risikobereit agieren und vorsichtiger in ihren Entscheidungen sind. Sie behandeln andere fairer und teilen wichtige Ressourcen zum Beispiel finanzieller Art eher mit ihren Mitarbeitenden. Sie schätzen Ratschläge und nehmen diese eher an. Was wir aber auch herausgefunden haben: Erkennen Führungskräfte ihre Macht eher als Verantwortung, führt das physiologisch zu mehr Stress. Womöglich haben sie das Gefühl, besonders vielen Anforderungen gerecht werden zu müssen.

Was kann man dagegen tun?

Das ist eine spannende Frage, zu der wir noch forschen. Aus der Stressforschung können wir ableiten, dass die Führungskraft wahrscheinlich besser mit ihrer Verantwortung umgehen kann, wenn sie wahrnimmt, dass sie unterstützt wird – sei es durch die Organisation, durch eigene Vorgesetzte oder durch das Team. Ich könnte mir auch individuelle Coachings vorstellen, um zu lernen, mit der Verantwortung so umzugehen, dass man gar nicht erst gestresst reagiert.

TIPP 1: ACHTEN SIE AUF IHR STRESSLEVEL!

Behalten Sie das eigene Stresslevel im Blick: Denken Sie daran, genug Pausen einzulegen und zögern Sie nicht, um Unterstützung zu bitten, wenn es nötig ist. So können Sie als verantwortungsvolle Führungskraft weiterhin zur guten Zusammenarbeit beitragen.

Alles in allem klingt es trotzdem so, als würden Menschen, die Macht als Verantwortung verstehen, die besseren Führungskräfte abgeben.

Das ist schwer zu sagen. Was wir nämlich noch nicht betrachtet haben, sind die Folgen für die Leistung, also die Frage: Welche Führungskräfte sind erfolgreicher in der Zielerreichung? Erfolg hängt von vielen verschiedenen Aspekten ab. Ich könnte mir vorstellen, aber dazu forschen wir noch, dass es auf die Kriterien oder die konkrete Aufgabe ankommt. Es gibt Situationen, in denen risikobereites Handeln gefordert ist und zu mehr Erfolg führt, was nicht nur für die Führungskraft selbst, sondern auch für ihr Team oder die gesamte Organisation positive Konsequenzen haben kann. An anderen Stellen ist es hingegen sicher hilfreich, wenn die Führungskraft stärker ihre Verantwortung wahrnimmt und sich für eine gute Zusammenarbeit mit anderen einsetzt. Womöglich ist es am besten, wenn Mächtige beide Seiten im Blick behalten und je nach Situation flexibel wechseln können.

Was beeinflusst, ob ein Mensch seine Macht als Gelegenheit oder als Verantwortung sieht?

Erste Studien dazu haben sich mit der Rolle der Kultur beschäftigt. Sie konnten zeigen, dass Menschen in westlichen Kulturen Macht eher als Gelegenheit wahrnehmen, da hier das Erreichen individueller Ziele besonders geschätzt wird. In kollektivistischen Gesellschaften, etwa in Asien oder Lateinamerika, dagegen wird oft mehr Wert auf das soziale Miteinander und das Wohlergehen anderer gelegt, was ein Verständnis von Macht als Verantwortung nahelegt.

Wie sieht es bei uns aus?

Tatsächlich haben wir hierzulande in unserer Forschung die Verantwortung in den Fokus gerückt und herausgefunden, dass unter anderem die Identifikation mit dem Team förderlich für das Verantwortungsbewusstsein von Menschen in Machtpositionen ist. Ein zweiter Punkt ist die Aufmerksamkeit: Eine Führungsperson wird sich ihrer Verantwortung dann eher bewusst, wenn sie sich vor einer Entscheidung vor Augen führt, welche Folgen ihr Handeln für andere haben wird. Und schließlich spielt auch die Art des Kontakts eine wichtige Rolle: Erfolgt er direkt oder virtuell?  

Das ist mit Blick auf die derzeitige Lage spannend. Wegen der Corona-Pandemie hat sich bei vielen die Arbeitsstruktur quasi über Nacht geändert.

Tatsächlich haben wir uns schon vor der Pandemie gefragt, was passiert, wenn Menschen rein digital statt face-to-face zusammenarbeiten würden. In unseren Experimenten zeigte sich, dass die Teilnehmenden Macht stärker als Verantwortung wahrnahmen, wenn sie erwarteten, ihre Mitarbeitenden auch persönlich vor Ort zu treffen, statt digital.

TIPP 3: STEUERN SIE BEWUSST IHR AUFMERKSAMKEIT!

Ob vor einem Meeting oder einer wichtigen Entscheidung – nehmen Sie sich kurz und bewusst die Zeit, Ihre Aufmerksamkeit auf die Mitarbeitenden zu richten. Fragen Sie sich: Wie ist ihre Situation? Was brauchen sie von mir? Welche Konsequenzen hat mein Handeln für andere?

Woran könnte das liegen?

Die Forschung hat gezeigt, dass direkter Kontakt wichtig ist, um ein Gefühl von Nähe und Präsenz zu erzeugen. Eine ausschließlich digitale Kommunikation mindert dieses Gefühl oftmals. Ein weiterer Aspekt kann die Aufmerksamkeit sein: Ist die andere Person nicht im selben Raum, zieht sie auch weniger Aufmerksamkeit auf sich. Menschen konzentrieren sich dann eher auf sich selbst und nehmen womöglich deshalb weniger Verantwortung für andere wahr.

Vielleicht ist es auch Gewöhnungssache?

Das ist möglich. Es kann sein, dass Menschen mit zunehmender virtueller Zusammenarbeit Strategien entwickeln und mehr Erfahrungen sammeln, sodass das Verantwortungsgefühl bei digitaler Führung nicht abnimmt. Auch das müssen wir noch erforschen. Übrigens fiel bei einer unserer Studien der zweite Erhebungszeitraum auf den Beginn der Corona-Pandemie. Da haben wir bereits etwas Interessantes herausgefunden: Aus Mitarbeiterperspektive schien es auf Dauer gar nicht so wichtig zu sein, ob der Kontakt zur Führungskraft digital oder persönlich stattfindet. Eine größere Rolle hat die Häufigkeit des Kontakts gespielt. Wir werden hier noch genauer untersuchen müssen, was Kontakthäufigkeit genau ausmacht und bewirkt. Geht es zum Beispiel nur darum, wie oft Mitarbeitende zu ihrer Führungskraft Kontakt haben? Oder geht es dabei auch um die Qualität, also ob der Kontakt als vertrauensvoll und angenehm erlebt wird?

TIPP 4: BLEIBEN SIE IN KONTAKT!

Überlegen Sie gemeinsam mit ihren Mitarbeitenden, wie häufig der Kontakt für beide Seiten angemessen ist und auf welche Art und Weise Sie sich austauschen wollen. Behalten Sie dabei die Regelmäßigkeit im Blick.

Als stellvertretende Leiterin der Arbeitsgruppe Soziale Prozesse haben Sie selbst eine Führungsposition inne. Was beobachten Sie bei sich und Ihrem Team, seitdem mehr virtuell gearbeitet wird?

Ich persönlich erlebe es als Herausforderung, ein Gespür dafür zu bekommen und zu behalten, wie der Stand bei den einzelnen Projekten ist und wie es den Mitarbeitenden geht. Informelle Kontakte auf dem Flur oder auf dem Weg zur Besprechung fallen jetzt weg. Wir versuchen das durch mehr kurze, virtuelle Treffen aufzufangen.

Mit Erfolg?

Bei uns funktioniert es ganz gut. Ich erlebe durch das Arbeiten im Home Office an vielen Stellen mehr Flexibilität und Bereitschaft zu spontanen und kurzfristigen Terminen. Was ich auch interessant finde: Jede und jeder scheint eigene Strategien zu entwickeln, um auch im virtuellen Kontext das soziale Miteinander nicht zu verlieren. Sei es, dass man in Videokonferenzen ein wenig Einblick ins  Alltagsleben erlaubt oder die eigenen Mails ein wenig persönlicher als sonst schreibt.

TIPP 5: ERMÖGLICHEN SIE INFORMELLEN AUSTAUSCH!

Ob es die virtuelle Feier eines Erfolgs, ein digitales Treffen nach der Arbeit oder ein kurzes Update in der Kaffeepause ist: Ermöglichen Sie bei Bedarf auch Gelegenheiten und Angebote für kurze, informelle Gespräche und soziale Interaktion mit und unter den Mitarbeitenden.

Annika Scholl am Schreibtisch, auf dem ein Laptop und ein größerer Bildschirm stehen.
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