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Der Krill will nicht. Zumindest nicht mit Ton. Ulrich Bathmann blickt skeptisch vom Beamer, der über ihm an der Decke hängt, hinunter auf den Laptop. An der Wand über der Tafel wurlt ein Schwarm garnelenartiger Krebstiere durchs Wasser. Arktischer Krill, Bathmanns Spezialgebiet. Zu hören ist nichts.

»Marine Stoffkreisläufe« heißt die Vorlesung, die der Professor gleich halten wird. Sie steht im Lehrplan des Masterstudiengangs »Biologische Meereskunde« an der Universität Rostock. Dass die Technik nicht will, bringt Bathmann nicht aus der Ruhe. Er ist Polar-, Meeres- und Küstenforscher. Auf seinen Forschungsfahrten hat der 62-Jährige schon Spannenderes erlebt. Stürme und im Eis steckengebliebene Forschungsschiffe zum Beispiel. Geschlossene Eisdecken im Ozean, die plötzlich knackend zu brechen begannen. Oder unvorsichtige Kollegen, die man von Schollen retten musste. Wie zum Beweis für seine Ausgeglichenheit streicht sich Bathmann bedächtig durch den mächtigen grauen Bart. Sein Markenzeichen.

Ob ihn die Studierenden bisweilen »Batman« nennen, will die Reporterin wissen. Nach dem Comic-Superhelden im Fledermauskostüm? Bathmann muss lachen. »Nein«, sagt er und gluckst: »Manchmal Neptun, aber das ist nicht so schlimm«. Dann guckt er auf die Uhr. »Oh! Zehn nach! Ich muss mal die Truppe reinholen.« Behände eilt der einen Meter siebzig kleine Mann zur Türe, öffnet sie schwungvoll und blickt in überraschte Gesichter. Die angehenden Forscher haben es nicht gewagt, die Klinke herunterzudrücken, um zu sehen, ob der Raum auch tatsächlich verschlossen ist. Nun fädeln sie sich umso eiliger in die Bankreihen.

Bathmann will diese Vorlesung nutzen, um von früher zu erzählen. Von seiner eigenen Forschungsfahrt in die Antarktis. Damals war er noch als Polarforscher am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven angestellt. Es galt, den Lebenszyklus des Planktons zu dokumentieren, herauszufinden, wie sich dieser im Jahresverlauf und bei veränderten Lebensumständen verhält — und wie das wiederum mit dem globalen Kohlenstoffkreislauf und damit auch mit dem Klimawandel zusammenhängt. »Plankton nimmt CO2 aus der Atmosphäre auf, klumpt zusammen und sinkt auf den Meeresboden«, sagt Bathmann. »Damit puffert es den Klimawandel ab.«

Insgesamt zwölf Mal ist der Meeresbiologe in die Antarktis gereist, zwei Mal während des dunklen antarktischen Winters. Auf der Polarstern — dem Flaggschiff der deutschen Forschungsflotte. Detailliert beschreibt der Professor, in welchem Winkel sich das Schiff seinen Weg am effizientesten durchs Packeis bahnt (»mit dem Bug seitlich auf das Eis auffahrend und dann im Zick-Zack-Kurs«), und wie die deutsche Forschungsstation am Südpol auf Stelen errichtet werden musste, um der extremen Kälte und den Schneemassen standhalten zu können.

Immer wieder zeigt er Bilder von gemeinsamen Essen in der Schiffsmesse und dem gemütlichen Beisammensein der Crew. Im Vordergrund seines Vortrags stehen nicht die Strapazen, die Beengtheit, das tagelange monotone Wummern der Turbinen beim Brechen der Eisdecke oder die Mikroskope, die bei starkem Seegang festgeschnallt werden müssen, sondern der Gemeinschaftssinn. »Soziale Highlights« nennt er das.

Wenn man Bathmann zuhört, wird klar: Da draußen, auf dem Schiff, auf der Brücke, beim Manövrieren der schweren Gerätschaften ins eiskalte Wasser, eingepackt in oranges Ölzeug — erst unter diesen Bedingungen und dem arktischen Himmel ist er wirklich in seinem Element. Selbst der Kälte kann er etwas abgewinnen und zeigt ein Bild, auf dem die Forscher durch ein Loch ins Eismeer abtauchen. »Wenn es draußen Minus 40 Grad hat, sind null Grad sehr angenehm.«

Immer diese Robbenaugen. Bakterien sind doch viel wichtiger.

ULRICH BATHMANN

Ulrich Bathmann steht an Deck eines Schiffs auf knallgrünem Boden.
Ulrich Bathmann mit Fernglas hinter ebenso grüne Pflanze.

Im ersten Semester seines Biologiestudiums — damals an der Universität Kiel — hätten sie über Sinn, Ziel und konzeptionelle Ausrichtung des Studiums diskutiert. Heute sei das oft gar keine Frage mehr. »Oft spielen vor allem monetäre Gründe eine Rolle. Ich habe mich damals einfach gefragt, wie ich mir meinen späteren Beruf vorstelle«, sagt Bathman später beim Mittagessen in der Uni-Mensa. »Meine Aufgabe sollte theoretische Anforderungen haben. Ich wollte draußen sein, die Hände nass machen, aber auch in der Gruppe arbeiten. Und ich wollte ökologisch relevante Dinge tun.« Dann habe er äußerst rational entschieden, nach dem Ausschlussprinzip.

Eigentlich geht Bathmann selten in die Mensa. Lieber pausiert er mit einer mitgebrachten Stulle am Ostseestrand. »Da kann ich gut nachdenken.« Nun aber sitzt er an einem der grauen Resopaltische, isst Asianudeln mit Gemüsebuletten und trinkt eine Cola. »Ich hatte null Ahnung von Biologie, aber in diesem Fach sah ich meine Kriterien erfüllt.« Und dann kommt noch so ein Satz, der typisch für Bathmann ist: »Wenn ich das wirklich will und mich das als Mensch in der Gesamtheit anspricht, dann ist es falsch, das nicht zu tun.«

Überhaupt, Rationalität. Sie ist Bathmanns wohl charakteristischste Eigenschaft. Egal worum es geht, stets seziert der Naturwissenschaftler jedes Problem, jeden komplexen Sachverhalt, bis es nicht mehr weiter geht. Je länger man ihm zuhört, diesem Mann mit den wild vom Kopf abstehenden Locken, desto mehr drängt sich die Frage auf, ob es vielleicht einfach glücklich macht, die Welt derart konsequent in verstehbare Einheiten zu zerlegen.

Bathmanns Studium fiel in die Zeit der Außerparlamentarischen Opposition (APO). Die Ökologiebewegung war im Erwachen begriffen. Bathmann war im Fachschaftsrat aktiv und bei der Blockade von Veranstaltungen dabei. Mit seiner Frau, mit der er mittlerweile 34 Jahre verheiratet ist und vier erwachsene Kinder hat, kam er in der Republik Freies Wendland zusammen, jenem Hüttendorf, das die Atomkraft-Gegner 1980 in der Nähe von Gorleben errichteten und das nach einem Monat gewaltsam geräumt wurde. Seine Frau, auch sie ist promovierte Biologin, hatte den Umweltschützern damals ihren blauen VW Käfer zur Verfügung gestellt. Nur unter Protest ließ sich Bathmann von der Polizei wegtragen.

»Aber mir ging es immer um konstruktive Kritik«, sagt er heute. Radikal oder dogmatisch, gar gewalttätig wie die Baader-Meinhof-Gruppe, wollte er nicht sein. Also fand er sich bisweilen in der Opposition zur APO wieder. »Zwischen den Fronten zu stehen und meine Meinung logisch zu argumentieren, war ein gutes Training«, erinnert er sich.

Bis heute fremdelt Bathmann immer mal wieder mit der Ökologiebewegung, wenn sie wissenschaftliche Aspekte außer Acht lässt. »Immer diese Robbenaugen. Bakterien sind doch viel wichtiger.« Natürlich verstehe er, dass »Schlüsseltiere« Aufmerksamkeit schaffen. Aber die anderen Komponenten deshalb ausklammern? »Das ist falsch!« Mit emotional geführten Auseinandersetzungen kann er nicht viel anfangen. Die Kehrseite seiner Rationalität.

»Ich bin ein Kopfmonster«, sagt er selbstkritisch, auch deshalb, weil ihn andere schon so schimpften. Das Meer zu schützen, hat bei Bathmann nichts mit Idealismus oder romantischen Vorstellungen zu tun. Es sind vielmehr die biologische Notwendigkeit und die Faszination für die Mechanismen der Natur, aus denen sein unbedingter Wunsch entspringt, die Menschen mögen die Meere nachhaltig nutzen.

Vielleicht ist er deshalb beim Zooplankton geblieben. Bei jenen Kleinsttierchen, die ihm bei seiner ersten Forschungsfahrt in die Kieler und Flensburger Förde als Student zugewiesen wurden und zu denen auch der Krill zählt. Aus Leidenschaft fürs Kleine, fürs entscheidende Detail, das erst im großen Zusammenhang Sinn ergibt. So unscheinbar die Organismen sein mögen, ihr Leben und Sterben kann das gesamte Ökosystem beeinflussen. Nicht das einzelne Tier, wohl aber das Kollektiv, der Schwarm.

So ernährt sich der Krill im Sommer von Phytoplankton, mikroskopisch kleinen, im Wasser schwebenden Pflanzen. Im Winter frisst er Algen, die auf der Unterseite von Treib- und Packeis leben. Das Problem: Die Verteilung der Plankton-Masse hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in fast allen Weltmeeren deutlich verschoben, sowohl was die Arten betrifft als auch das örtliche Vorkommen. Schuld ist die Erwärmung der Ozeane. Werden die winzigen Pflanzen aber in bestimmten Regionen weniger, findet auch der Krill dort nicht ausreichend Nahrung.

Das wiederum wirkt sich auf zahlreiche andere Lebewesen aus, weil er vielen größeren Tieren wie Fischen, Robben, Walen, Pinguinen und anderen Meeresvögeln als wichtiges Nahrungsmittel dient. Außerdem bildet Phytoplankton mehr als die Hälfte des Sauerstoffs in der Atmosphäre. Wie sich der Klimawandel darauf auswirkt, ist Gegenstand der wissenschaftlichen Debatte.

Der Ostseeforscher geht beherzten Schrittes am Strand spazieren.

Heute könnte ich mir ein Leben weit weg vom Meer nicht mehr vorstellen.

ULRICH BATHMANN

Mittlerweile fährt Ulrich Bathmann nicht mehr so häufig aufs Meer hinaus. Seit 2011 leitet er das Leibniz-Institut für Ostseeforschung in Warnemünde und hat in dieser Managerposition alle Hände voll zu tun. Er trägt die Verantwortung für 260 Mitarbeiter, davon forschen 120 in der Physikalischen Ozeanographie, der Biologischen Meereskunde, der Meereschemie und der Marinen Geologie.

Seine Aufgabe sei es, das Forschungsprofil des Instituts so aufzustellen, dass es an der Spitze der weltweiten Meeresforschung mitspielen könne, sagt Bathmann und rollt dabei Akten ordnend und Dokumente unterzeichnend auf seinem roten Bürostuhl über das blankgebohnerte Parkett, um die Regale an der Wand erreichen zu können.

Früher, als junger Forscher, habe er sich das nie vorstellen können, sagt Bathmann. Heute gehe er in den Forschungsministerien in Berlin oder in Schwerin ein und aus und sei immer wieder als Experte in Parlamentarischen Ausschüssen angefragt. »Ich transportiere mein Wissen an die Entscheidungsträger heran«, sagt er. Und dass ihn einige Politiker mittlerweile wiedererkennen würden. »Ich nehme an, es liegt am Bart. Den rasiere ich nie.« Selbst seine Frau habe sein Gesicht in all den Jahren nie ohne Bart gesehen.

Immerhin, der Blick aus seinem Bürofenster in Warnemünde geht direkt aufs Meer hinaus. Das Fernglas steht griffbereit auf dem Fensterbrett. »Da gucke ich dann, welches Forschungsschiff gerade rausfährt oder wieder kommt«, sagt Bathmann. Die »Elisabeth Mann Borgese«, das Forschungsschiff des Landes Mecklenburg-Vorpommern, ist der Stolz des Instituts. Sie ist an diesem Tag nicht am Horizont zu sehen, sondern liegt am Rostocker Hafen vertäut. Dort wird sie für die nächste Forschungsfahrt bereit gemacht.

Mit dem Umzug nach Warnemünde vor fünf Jahren ist der Polarforscher ein Stück weit zu seinen Wurzeln zurückgekehrt. »Mein Vater hat mit uns im Sommer immer wieder Ausflüge an die Ostsee gemacht«, berichtet Bathmann, der zwar in Würzburg geboren wurde, danach aber häufig mit den Eltern umgezogen ist. »Heute könnte ich mir ein Leben weit weg vom Meer gar nicht mehr vorstellen.«

Bathmann zieht einen dunkelblauen Segelanorak über das karierte Hemd und stapft über den Sandstrand, der nur durch die sanften Hügel einer Düne und die Promenade vom Institut getrennt ist. Der Wind stemmt die Kitesurfer hinter ihm über die Wellen und lässt die Spitze seines Bartes waagerecht zur Seite wehen. Die Brandung hat Seegras angespült, das stark riecht. »Nach Brom«, kommentiert Bathmann routiniert.

Die Herausforderungen und Probleme sind über die Jahrzehnte andere geworden. Statt Schwermetallen verschmutzen heute andere Stoffe die Ozeane: Mikroplastik, Hormone und chemische Wirkstoffe aus Medikamenten. Auch die Nutzung der Meere habe zugenommen — ebenso wie die Proteste dagegen. Bathmann sieht es wie so oft pragmatisch. »Man kann nicht gegen Atomkraftwerke und den Klimawandel sein, aber keine erneuerbare Energie mit Hilfe von Offshore-Windanlagen gewinnen wollen«, sagt er und seufzt.

Bathmann und das Meer, das lässt sich nicht voneinander trennen. »Die Weite, die Dynamik, die Unterschiedlichkeit im System, mal stürmisch, mal ruhig«. Hier komme er zur Ruhe und auf gute Ideen.

Dann wendet er sich zum Gehen. Auf halber Strecke zwischen den Dünen bleibt er stehen. »Wie leise das auf einmal wieder ist, oder?«, sagt er beglückt. »Die Schallintensität nimmt im Quadrat zur Entfernung ab.«

Der Ostseeforscher stützt sich auf die Reling und Blickt in die Ferne.

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