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SUNHILD KLEINGÄRTNER
ist Geschäftsführende Direktorin des Deutschen Schifffahrtsmuseums — Leibniz-Institut für Maritime Geschichte.

 

BIRGIT KNEBEL
ist Leiterin der Arbeitsgruppe »Genomik« am Deutschen Diabetes Zentrum — Leibniz-Zentrum für Diabetes-Forschung.

 

REINHARD POLLAK
leitet am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, einem Leibniz-Institut, die Projektgruppe »Nationales Bildungspanel: Berufsbildung und lebenslanges Lernen«.

Das Wetter könnte nicht passender sein: Ende September, fast 30 Grad. Am Ende eines ungewöhnlichen Sommers hat leibniz auf den Potsdamer Telegrafenberg geladen. Mit fünf Leibniz-Forscherinnen und -Forschern wollen wir darüber sprechen, was Erbe für sie bedeutet und was wir kommenden Generationen hinterlassen. Aber erst einmal steigen die Archäologin Sunhild Kleingärtner, die Genforscherin Birgit Knebel, der Soziologe Reinhard Pollak und der Materialforscher Hans-Werner Zoch hinauf in die alte Kuppel des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung. Oben angekommen erzählt Gastgeber Johan Rockström von der Mission des Leibniz-Instituts, das er seit Anfang September leitet. Dem Nachhaltigkeitsforscher liegt etwas auf dem Herzen.

JOHAN ROCKSTRÖM Hinter mir liegt ein 24-stündiges Schlamassel. Ich komme gerade aus New York, wo ich beim »One World Summit« eine Rede zum Klimaschutz gehalten habe. Danach habe ich erst meinen Flug nach Berlin verpasst, weil ich schon in Manhattan im Stau stecken geblieben bin, dann musste ich über Frankfurt fliegen, statt wenigstens für das letzte Stück die Bahn zu nehmen. Ich habe Unmengen an fossilen Brennstoffen auf dem Gewissen, um an diesem Gespräch teilzunehmen.

BIRGIT KNEBEL Bei Reisen wäge ich immer ab: Lebensqualität versus Klimaschutz. Was ist günstiger, was geht schneller? Heute bin ich geflogen, aus Düsseldorf.

HANS-WERNER ZOCH Ich habe die Deutsche Bahn genutzt und war pünktlich am Ort. Als Ingenieur bin ich ansonsten leidenschaftlicher Autofahrer. Aber am Steuer kann man nicht arbeiten. Noch nicht. Beim autonomen Fahren könnte das bald gehen.

SUNHILD KLEINGÄRTNER Mit der Bahn bin ich auch gekommen, aus Frankfurt ...

REINHARD POLLAK ... und ich mit der S-Bahn aus dem Berliner Süden.

KLEINGÄRTNER Vom Bahnhof bin ich zu Fuß gegangen, statt ein Taxi zu nehmen. Weil die Strecke durch den Wald einfach sehr schön ist, aber auch wegen des Klimas.

Ein Schiffswrack kann Identität stiften.

SUNHILD KLEINGÄRTNER

Porträt von Sunhild Kleingärtner.
Sunhild Kleingärtner, (ehem.) Direktorin des Deutschen Schifffahrtsmuseums — Leibniz-Institut für Maritime Geschichte (DMS).

JOHAN ROCKSTRÖM
ist Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, einem Leibniz-Institut.

 

HANS-WERNER ZOCH
ist Direktor des Leibniz-Instituts für Werkstofforientierte Technologien.

LEIBNIZ  Können wir die Erde mit solchen persönlichen Beiträgen denn noch retten, Herr Rockström?

ROCKSTRÖM Wir sind die letzte Generation, die beeinflussen kann, ob wir die planetaren Belastungsgrenzen noch einhalten. Aber wir müssen viel verändern, um die Erderwärmung zu bremsen, die Verringerung unseres CO2-Ausstoßes muss jetzt rasend schnell gehen. In den kommenden 30 Jahren wird sich entscheiden, ob wir den Punkt überschreiten, an dem das System kippt und der Klimawandel unaufhaltsam wird.

Wie konnten wir überhaupt an diesen Punkt kommen?

ROCKSTRÖM Das Perfide ist, dass wir Menschen die langfristigen Folgen unseres Verhaltens nicht sehen können. Das Eis in Grönland wird nicht zu unseren Lebzeiten vollständig schmelzen, sondern vielleicht erst in 500 Jahren — der Meeresspiegel würde dadurch um sieben Meter steigen. Aber die Entscheidung treffen wir heute mit dem Verfeuern von Kohle und Öl. Es ist eine schleichende Veränderung, die im Hintergrund abläuft, während wir gebannt auf Wetterextreme starren.

Wie in diesem Sommer.

ROCKSTRÖM Ich sage voraus, dass 2018 in die Geschichte eingehen wird. Als erstes Jahr, in dem an so vielen Stellen auf unserem Planeten praktisch zeitgleich extreme Wetterereignisse aufgetreten sind — in einem Maß, wie wir es so nie zuvor gesehen haben.

Die Wissenschaft warnt seit Jahrzehnten. Warum hört man erst jetzt auf Sie?

ROCKSTRÖM Sie erwarten zu viel. Eine wissenschaftliche Erkenntnis allein führt selten zu schnellem Handeln, besonders, wenn es um fossile Brennstoffe und Energie geht, von denen unsere Gesellschaft lange abhängig war. Heute könnte Ihnen der Planet völlig egal sein — es rechnet sich einfach, das Klima zu stabilisieren. Schon jetzt beobachten wir, wie große Konzerne untergehen, weil sie versäumt haben, auf nachhaltige Technologien umzustellen.

Was können Sie als Materialforscher zu diesem Wandel beitragen, Herr Zoch?

ZOCH Wir verstehen Werkstoffe heute besser und können sie immer gezielter mit bestimmten Eigenschaften versehen. So können wir Bauteile leichter machen, und Leichtbau ist ein Treiber für Fortschritt — was dem Klimaschutz entgegenkommt. Wir verbrauchen beispielsweise weniger Energie, um ein Flugzeug in die Luft zu bringen. Der Airbus A380 ist wegen seiner Größe kein Leichtgewicht, aber er bietet 500 Passagieren Platz. Wenn man den Treibstoffverbrauch pro Kilometer und Kopf betrachtet, liegt er niedriger als bei einem VW Golf.

Wir müssen die Inseln der Erkenntnis verbinden.

JOHAN ROCKSTRÖM

Porträt von Johan Rockström.
Der Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), Johan Rockström.

Welche Rolle spielt die Forschung Ihrer Vorgänger für solche Innovationen, bauen Sie auf ihrem Wissen auf?

ZOCH Als Materialforscher müssen Sie nicht alle 4.000 Stähle auswendig lernen, die man bis heute entwickelt hat — aber Sie müssen ihre Grundeigenschaften kennen. Wenn Sie mit ausreichender Vergrößerung in so einen Stahl hineinschauen, merken Sie, dass er ein Kristall ist. Sie können sehen, wie seine Atome sich zueinander verhalten: Gleiten sie übereinander ab, verformt sich der Werkstoff. Geben sie die Bindung auf, bricht das Bauteil. Wenn Sie diese Mechanismen einmal verstanden haben, können Sie heute mit Stahl, morgen mit Keramik und übermorgen mit Kunststoff arbeiten.

Plastik ist ein gutes Beispiel dafür, dass Entdeckungen ungeahnte Erblasten mit sich bringen können. Es ist heute überall — auch in der Umwelt.

ZOCH Polymere sind nicht mein Spezialgebiet, aber es gibt da einen Kalauer, den muss ich jetzt einfach loswerden: Wer Kunststoff kennt, wählt Stahl. Kunststoffe haben sich unglaublich schnell verbreitet, weil sie einige fantastische Eigenschaften haben: einfach herzustellen, gut verformbar, leicht. Leider haben wir negative Nebeneffekte, wie das aktuell diskutierte Mikroplastik, nicht vorhergesehen.

ROCKSTRÖM Die einzige Lösung ist es, Plastik durch andere Stoffe nachhaltig zu ersetzen. Das wird nur mit schärferen Gesetzen gelingen, Italien und Kenia machen es vor. Plastikverpackungen wurden dort komplett verboten, für Lebensmittel wie für Ersatzteile. Wir müssen unsere Wertschöpfungsketten neu aufziehen. Und das ist in unserer globalisierten Welt schwierig, denn erst Plastik hat es uns ermöglicht, Waren um die ganze Welt zu verschiffen.

Trägt man die Verantwortung für die Folgen seiner Forschung?

ZOCH Ich habe lange in der Industrie gearbeitet. Die Bauteile, die wir herstellten, wurden für friedliche Zwecke eingesetzt; aber manchmal konnte das gleiche Bauteil auch verwendet werden, um Waffensysteme zu betreiben. Dieser Dual Use steckt leider in vielen Anwendungen. Deshalb ist Ethik sehr wichtig.

KNEBEL Auch die biomedizinische Forschung öffnet Tür und Tor für Missbrauch, zum Beispiel, wenn wir mit Big Data oder genetischen Informationen arbeiten. Selbstverpflichtungen von Wissenschaftlern, Ethikkommissionen und strenge Regeln sind unumgänglich. Trotzdem können wir nicht ausschließen, dass eine Erkenntnis für dunkle Machenschaften benutzt wird, sobald sie veröffentlicht ist.

POLLAK Oft können wir gar nicht absehen, wie etwas in 15 oder 20 Jahren eingesetzt werden kann. Das heißt nicht, dass wir uns aus der Verantwortung stehlen können.

Alle Gesprächsteilnehmerinnen und -teilnehmer mit den Autorinnen des Interviews an einem runden Tisch im Gespräch.

Als Forscher muss man Missbrauch also in Kauf nehmen?

ZOCH So hart sich das anhört: Ich glaube, ja. Es würde Fortschritt verhindern, wenn wir uns bestimmte Forschung von vornherein verbieten, nur weil ein Dual Use denkbar ist.

Welche Rolle spielen Ethik und Erblasten im Museum, Frau Kleingärtner?

KLEINGÄRTNER In Museen lagert heute viel Kulturgut, das man als Beute- oder Raubkunst bezeichnet. 1998 haben sich in der »Washingtoner Erklärung« 40 Länder verpflichtet, nachzuverfolgen, woher unsere Wissensbestände stammen. Die Provenienzforschung untersucht Etiketten, handschriftliche Notizen und andere Quellen, um die Wege nachzuzeichnen, auf denen ein Objekt ins Museum gelangt ist — und um zu klären, wer die rechtmäßigen Eigentümer sind. Das ist ein schwieriges Erbe, mit dem wir einen Umgang finden müssen.

Warum bewahren wir Kulturerbe?

KLEINGÄRTNER Kulturerbe ist eine besondere Form gespeicherten Wissens. Aus welchen Objekten sich unsere Sammlungen zusammensetzen, verrät viel über unsere Haltung gegenüber der Welt. Bei Objekten wie Schiffswracks spielt sicherlich auch eine Art Entdeckerfreude mit. Außerdem können sie Identität stiften.

Inwiefern hat sich das Interesse gewandelt?

KLEINGÄRTNER Bei einem Fischtrawler fragt man heute vielleicht seltener, wie Fischer früher gelebt haben, diese Dinge kennt man. Aber ein Wrack kann als historischer Referenzpunkt für Gedanken dienen, die wir uns heute machen müssen — etwa, wenn es um den Schutz der Ozeane geht. Viele sagen, die Fischerei müsse wieder »wie früher« sein, vor der Industrialisierung. Historische Quellen können uns erzählen, wie die Meeresumwelt damals zusammengesetzt war und welche Mengen man ihr mit bestimmten Schiffen und Fangtechniken entnommen hat. Wir setzen das Wrack in Beziehung zu einer Frage, die uns heute umtreibt: Nachhaltigkeit.

Vor welchen Herausforderungen stehen Sie beim Erhalt solcher Objekte?

KLEINGÄRTNER Die Bremer Kogge ist ein gutes Beispiel dafür. Sie war das erste archäologische Großobjekt, das geborgen wurde und ein riesiges Experiment. Die Archäologen holten das Schiff in 3.000 Einzelteilen aus dem Schlick der Weser. Dann mussten sie eine Methode zur Konservierung erfinden: 18 Jahre lang lag die Kogge in einem Tank voll Polyethylenglykol, einer wachsartigen Substanz. Man hat nichts gesehen, aber alle waren begeistert und haben sie bestaunt wie das Goldene Kalb. Erst als der Konservierungsstoff das Wasser aus den Poren des Holzes verdrängt hatte und es damit stabilisierte, holte man sie aus dem Tank. Heute steht die Kogge bei uns im Museum in Bremerhaven — und plötzlich merken wir, dass sie doch nicht »für die Ewigkeit« konserviert ist. Sie reagiert auf Veränderungen ihrer Umgebung, etwa des Klimas.

Zwei Prozent des Genoms bestimmen unser Wesen.

BIRGIT KNEBEL

Porträt von Birgit Knebel.
Birgit Knebel vom Deutschen Diabetes Zentrum — Leibniz-Zentrum für Diabetes-Forschung (DDZ).

Was sind die Lehren aus diesem Experiment?

KLEINGÄRTNER Heute würde man so ein Wrack nicht mehr bergen. Man würde es unter Wasser dokumentieren und an seinem Fundort belassen. Denn normalerweise bleibt ein Wrack in seinem bewährten Milieu am besten erhalten. Doch mit dem Klimawandel verändern sich die Lagerungsbedingungen — die Wassertiefen, die Temperatur, der Salzgehalt des Wassers.

ZOCH Die Denkmalpflege ist auch für uns Materialwissenschaftler ein Thema. Mit welchen Werkstoffen können wir Holz haltbar machen? Im Deutschen Schifffahrtsmuseum haben wir an einer Ausstellung zu dieser Frage mitgewirkt.

KLEINGÄRTNER In der Ausstellung »Zahn der Gezeiten: Maritime Schätze unter der Lupe« zeigen wir noch bis Mitte Dezember, wie wir hinter den Kulissen arbeiten. Die Zusammenarbeit mit den Materialwissenschaftlern ist auch abseits der Frage der Konservierung fruchtbar. Mit ihrer Expertise können sie die Geschichte von Objekten ablesen: In einem Schutzanzug aus den 1970er Jahren entdeckten sie Keramikanteile — diese sollten Werftarbeiter bei Bränden schützen. Übrigens, Frau Knebel: Auch die Genetik spielt mitunter eine Rolle. Zum Beispiel, wenn wir Human Remains wie Moorleichen oder Mumien untersuchen.

Was haben wir mit diesen Vorfahren aus grauer Vorzeit heute noch gemein?

KNEBEL Von den Jägern und Sammlern unterscheidet uns das permanente Nahrungsangebot. Eigentlich ist der Mensch dafür gemacht, mit möglichst wenig auszukommen — aber dann ist er im Überfluss gelandet. Genetisch verbindet uns aber noch vieles mit ihnen: Wir teilen denselben Genotyp, alle Menschen haben im Wesentlichen eine identische DNA. Mit zwei Milliarden Basenpaaren ist sie unendlich komplex. Unser Genom hat sich im Laufe der Evolution als wahre Schatzkiste erwiesen, die immer wieder unsere Anpassung ermöglicht hat.

Wie weit bestimmen unsere Gene, wer wir sind?

KNEBEL Gerade einmal zwei Prozent des Genoms besitzen codierende Informationen — diese rund 20.000 Gene machen uns zu Individuen. Was der Rest macht, ist nicht immer ganz klar, obwohl wir das menschliche Genom mittlerweile komplett entschlüsselt haben. Auch über den Einfluss der Umwelt und unseres Lebenswandels auf unsere Gene wissen wir noch nicht genug, über die Epigenetik.

Dafür wissen wir, dass bestimmte Krankheiten genetisch bedingt sind.

KNEBEL Oft ist es eine Kombination mehrerer Genmutationen. Die eine hemmt den Zuckerstoffwechsel, mit der anderen können wir Fett schlechter verarbeiten, mit der dritten schlägt uns Stress stärker auf die Pumpe. Wenn es bei einer dieser Veränderungen bleibt, leben Sie wunderbar damit. Doch wenn sie zusammenkommen, akkumulieren die Risiken. Gerade im Fall von Diabetes kennen wir aber auch Formen, die tatsächlich auf ein einziges verändertes Gen zurückzuführen sind.

Unser soziales Erbe lässt sich überlisten.

REINHARD POLLAK

Porträt von Reinhard Pollak.
Reinhard Pollak vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).

Kann man sich von seinem genetischen Schicksal befreien?

KNEBEL Um beim Beispiel dieser monogenen Diabetesformen zu bleiben: Man kann versuchen gegenzusteuern. Sport, Entspannungstechniken, Ernährung. Mit einem halbwegs gesunden Lebenswandel kann ich den Ausbruch der Krankheit hinauszögern. Verhindern kann ich ihn nicht.

Manche Menschen möchten ihr Risiko auch deshalb lieber gar nicht erst kennen.

KNEBEL Ob man seine genetische Erblast bestimmen lassen sollte, ist tatsächlich eine sehr persönliche Frage. Ich meine: ja. Denn wie soll ich mein Leben meinen Genen entsprechend ändern, wenn ich sie nicht kenne?

POLLAK Was mich interessieren würde: Muss man solche Veranlagungen eigentlich angeben, wenn man sich zum Beispiel für eine Verbeamtung bewirbt? Wie bei einer Vorerkrankung?

KNEBEL Ich kenne die Regelung nicht. Aber ich möchte festhalten: Es geht hier nur um Risiken. Selbst wenn ich mein Risiko kenne, weiß ich nicht, ob ich tatsächlich erkranke und wann.

Herr Pollak, Sie erforschen, wie die soziale Herkunft eines Menschen seinen Lebensweg bestimmt. Können wir denn dieses gesellschaftliche Erbe überlisten?

POLLAK Wenn wir Hilfe bekommen, ja. Ein engagierter Lehrer kann reichen, eine Verwandte, die ein Talent fördert oder auch Freunde, die einander unterstützen. Und auch persönlicher Biss gehört dazu. Was wir aber auch wissen: In Deutschland ist es schwieriger als in anderen Ländern, seine Herkunft hinter sich zu lassen.

Woran liegt das?

POLLAK Besonders die Bildung ist bei uns eine große Sortiermaschine. In Deutschland müssen Kinder mit ihren Eltern früh entscheiden, ob sie eine Berufsausbildung machen oder studieren wollen. Die Erwartungshaltung der Eltern gibt klare Bildungspfade vor. Es ist immer spannend, sie zu fragen: Was soll Ihr Kind später werden, wie lange wird es zur Schule gehen? Da kann man Unterschiede sehen, wer seine Kinder bis zur zehnten Klasse in die Schule schicken möchte und für wen die einzige Option das Abitur ist. Auch diese Prägekraft wirkt in Deutschland stärker als in anderen Ländern.

Das müssen Sie erklären.

POLLAK Unsere Forschung zeigt, dass es nicht nur in naturwissenschaftlichen Disziplinen wie der Genetik klare Regeln der Vererbung gibt. Es gibt auch Regeln, nach denen sozialer Status vererbt wird. Sie befördern die Weitergabe von Geld, Macht und Chancen. Nur ein Beispiel: Ich war einmal in einer Kommission, die sich damit befasste, nach welchen Kriterien eine Universität ihre Studierenden auswählen sollte. Da hieß es, es wäre doch schön, wenn sie schon Auslandserfahrungen hätten, ein bisschen was von der Welt gesehen.

KNEBEL Und so schließt man dann alle aus, die sich ein Auslandsjahr nicht leisten können.

POLLAK Genau. Und in anderen Kulturen und Systemen sind diese Regeln eben ganz unterschiedlich ausgeprägt.

Wo läuft es besser?

POLLAK In Ländern, in denen es eine qualitativ hochwertige Kinderbetreuung gibt, die auch von vielen genutzt wird. Wenn die Kleinen in die Grundschule kommen, sind die Unterschiede schon nicht mehr so stark ausgeprägt. Dann gibt es meist eine Gemeinschaftsschule, Kinder und Jugendliche werden lange gemeinsam unterrichtet, sie sollen voneinander lernen. Es gibt einen großen Streit darüber, wie viel das wirklich ausmacht. Aber es ist schon auffällig, dass Länder, in denen man den gesamten Jahrgang stärker fördert und nicht nur einzelne Kinder, auch sozial durchlässiger sind.

Die Förderung muss also kontinuierlich sein, alle miteinbeziehen — und je früher sie beginnt, desto besser?

POLLAK Wir haben vorhin die Epigenetik erwähnt. Mittlerweile schaut man schon auf die ganz, ganz Kleinen. Noch vor der Befruchtung der Eizelle geht es mit der Chancengleichheit los: Wie ernähren sich die Eltern, was nehmen sie zu sich?

Also: Du bist, was du isst?

POLLAK Nein. Du bist, was deine Eltern essen.

Wir müssen uns die Folgen unserer Forschung bewusst machen.

HANS-WERNER ZOCH

Sie haben selbst Kinder. Was wollen Sie ihnen mitgeben?

POLLAK Ich möchte meinen Töchtern ermöglichen, den Weg einschlagen zu können, den sie wollen. Das möchte ich auch als Wissenschaftler: die Menschen ermutigen, die Regeln zu hinterfragen, nach denen in unserer Gesellschaft Positionen vererbt werden. Ich möchte zeigen, dass viele es trotz aller Widrigkeiten schaffen. Im Grunde möchte ich mit meiner Forschung dazu beitragen, dass Menschen das tun können, was sie wirklich wollen.

Welches Vermächtnis möchten die anderen in der Runde hinterlassen?

ZOCH Ich möchte meine Studenten ermutigen, Verantwortung zu übernehmen und bei der Wahrheit zu bleiben. Das kann heißen, sich die Folgen seiner Forschung für die Umwelt bewusst zu machen oder darauf zu achten, dass Materialien recycelbar sind. In der Industrie muss man immer wieder entscheiden, ob ein Bauteil, an dem man lange gearbeitet hat und das vielleicht sehr teuer war, auch wirklich seine Funktion erfüllt — oder Schrott ist. Man muss dann ehrlich zu sich sein. Das ist sehr wichtig für einen Ingenieur.

KLEINGÄRTNER Als Museumsdirektorin will ich Raum für Reflexion und Austausch bieten. In einem Museum können wir erleben, woher wir kommen, was unsere Vorfahren bewegt hat. Nur mit diesem Wissen sind wir als Gesellschaft in der Lage, Entscheidungen für unsere Zukunft zu treffen.

KNEBEL Ich rufe meinen Studenten immer ins Gedächtnis, dass sie mit ihrer Forschung Menschen helfen können und dass es ein großes Ganzes gibt. Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms hat uns gezeigt, wie ähnlich wir Menschen einander sind. Wir alle gehören einer Spezies an.

ROCKSTRÖM Wir müssen jetzt nur noch begreifen, dass wir uns alle gemeinsam aktiv um unseren Planeten kümmern müssen. Wer da nichts tut, tut sehr wohl etwas: Er verändert massiv unser Erbe an kommende Generationen. Wir sollten aber nicht nur von Katastrophen erzählen, sondern auch von Lösungen und Hoffnungen. Eine nachhaltige Zukunft baut nicht nur auf Verzicht auf, sondern bringt neue Möglichkeiten mit sich. Wir stehen vor einer technologischen Renaissance. Und vor einem Generationenwechsel. Ich glaube nicht, dass auf dieser Welt noch ein 15-Jähriger übrig ist, der den Klimawandel leugnet. Die hartnäckigen Klimaleugner sind eine Minderheit pensionierter Männer. Und das stimmt mich positiv. Es ragen schon so viele Inseln der Erkenntnis aus dem Meer der Ignoranz. Wir müssen sie nur verbinden.

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