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CHARLES FRÉGER
ist für sein Buch »Wilder Mann« in 18 europäische Länder gereist. Darin zeigt der französische Fotograf mannigfaltige, ursprünglich heidnische Rituale, in denen sich Menschen in Biester verwandeln, um den Wechsel der Jahreszeiten, Fruchtbarkeit, Leben und Tod zu zelebrieren.

Vielleicht war es ein bisschen wie heute. Als im Norden Israels vor rund 12.000 Jahren die erste nachweisbare Feier der Menschheitsgeschichte stattfand, trafen sich die Gäste beim Essen. Statt Käseigel und Nudelsalat naschten die Feiernden gekochte Schildkröte und Auerochsen. 2010 fanden Archäologen die Partyhöhle und schlossen: Der Mensch hat das Feiern erfunden, als er sesshaft wurde.

Claudia Merthen vom Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg warnt, dass prähistorische Funde nicht unbedingt eindeutige Hinweise auf bestimmte Festkulturen liefern. Die Archäologin ist fasziniert vom Aufwand, den unsere Vorfahren für ihre Feiern betrieben haben müssen. In eisenzeitlichen Gräbern habe man Metallkessel gefunden, die vor knapp 2.600 Jahren mit 350 Litern Met gefüllt waren. »Um so viel Honigwein herzustellen, hat die Gemeinschaft vermutlich ein Jahr Arbeit investiert.«

Wie das gute Essen scheint auch der Rausch eine Konstante der menschlichen Feierkultur zu sein. Merthen sagt, dass sich im antiken Griechenland zunächst die Adligen, später auch die Bürger zu Trinkgelagen getroffen hätten. »Die Gäste sind anschließend volltrunken durch die Stadt gezogen und haben Unruhe gestiftet.«

Damals akzeptierte die Gesellschaft dieses Verhalten offenbar. Doch auch das Naserümpfen über den Kontrollverlust und die Kritik an der Ekstase sind konstante Begleiter der menschlichen Feierkultur. Damit eng verbunden sind die Fragen: Verstehen die, die da feiern, eigentlich den ursprünglichen Sinn des Festes? Feiern sie »richtig«?

Denn Feste sind nicht nur Genuss, nicht nur Fraß und Völlerei. Anthropologen sehen in ihnen ein Zeichensystem, das viel über die Gesellschaft aussagt, in der sie gefeiert werden. Samuli Schielke vom Leibniz-Zentrum Moderner Orient nennt Feste »Schlachtfelder für Visionen vom guten Leben«. Er hat ägyptische Mulid-Feiern untersucht. Pilgerfeste, die in der Nähe von Grabstätten heiliger Persönlichkeiten des Sufismus, der mystischen Strömung des Islam, stattfinden, bei denen aber auch Volksfesttreiben und gutes Essen üblich sind.

»Die Feiernden sind großzügig. Sie erleben, dass alle Menschen gleich sind und dass allgemeine Liebe herrscht«, berichtet Schielke. »Aber sie genießen sicherlich auch, dass sie in diesem Moment bestimmte Dinge nicht mitdenken müssen. Zum Beispiel, dass das ägyptische Regime alles andere als liebevoll ist.« Mulid-Feste gehörten zu den wenigen öffentlichen Versammlungen, die in Ägypten noch gestattet seien.

Zwei Personen im Schnee, die in bunte, fransige Kostüme gekleidet sind und grinsende Holzmasken tragen.
In ein riesiges Fellkostüm gekleidete Person, deren Gesicht nicht zu sehen ist.

Das Wort »Fest« ist mittelhochdeutsch und kommt ursprünglich aus dem Lateinischen. »Festus« bedeutet »die für die religiösen Handlungen bestimmten Tage betreffend«.

Für Stunden oder Tage können bei vielen Festen gesellschaftliche Grenzen scheinbar überwunden werden. Grenzen zwischen Armen und Reichen, zwischen Mächtigen und Machtlosen. Der Genuss von Rauschmitteln hilft dabei, der Luxus verschwenderischer Festmähler, Kostüme, wilder Tanz und laute Musik, Kerzen, Feuerwerk oder Laserkanonen. Im Schutz des Feierns sind freche Bemerkungen und körperliche Annäherungen akzeptiert. Manche Feste heben scheinbar sogar die Trennung zwischen Lebenden und Verstorbenen auf, der mexikanische Día de los Muertos etwa oder das ursprünglich irische Halloween.

Andere Feste sind bis ins kleinste Detail reglementiert. An die Stelle der Ekstase treten Besinnung und andächtiger Ernst. Es sind sinnstiftende Feiern zu Jahrestagen, die für Geschichte und Identität der Gemeinschaft wichtig sind. Solche Traditionen können allerdings auch politisch instrumentalisiert werden.

Sven Keller, Leiter der Dokumentation Obersalzberg des Instituts für Zeitgeschichte in München, nennt das nationalsozialistische »Reichserntedankfest« als Beispiel. Zwischen 1933 und 1937 feierten es bis zu 1,2 Millionen Menschen auf dem Bückeberg bei Hameln. »Das Fest wurde sämtlicher christlicher Traditionen beraubt und zu einem Propagandainstrument der Blut-und-Boden-Ideologie gemacht«, sagt der Leibniz-Historiker.

Was genossen die Teilnehmer? Vor allem die Inszenierung der »Volksgemeinschaft«, das Aufgehen in der Masse, mit Marschmusik und Trachtengruppen. »Zentrales Erlebnis war der Auftritt des ›nahbaren Führers‹«, so Keller. Hitler marschierte »durch das Volk«, schüttelte Hände, tätschelte Kinder. »Die Feiernden konnten scheinbar mit den Herrschenden kommunizieren. Demonstrative Zustimmung und Führerkult ersetzten in der Diktatur demokratische Mitwirkungsprozesse.«

Dass viele Zeitzeugen neben dem offiziellen Programm mit Schaukämpfen der Reichswehr auch private Genüsse, Flirts oder Saufgelage erinnern, widerspricht dem nicht. Feste seien stets mehrschichtige Gebilde, schreibt der Schweizer Kulturwissenschaftler Walter Leimgruber: »Befreiende und begrenzende Elemente liegen oft dicht beieinander. Grenze und Entgrenzung, Zwang und Anarchie, Ordnung und Chaos sind Gegensatzpaare, von denen das Fest lebt.

Zwei Personen in bunten Stoffkostümen mit Vogelgesichtern auf einem Feld.

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