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Pro

Adäquate Impfraten könnten die Masern ausrotten.

MARYLYN ADDO

Vor mehr als 200 Jahren machten Mediziner bei dem Versuch, die Pocken auszurotten, erstmals die Beobachtung, dass Personen, die in Berührung mit den verwandten Kuhpocken kamen (etwa Milchmägde), gegenüber der Vireninfektion unempfänglich waren. Ausgehend von dieser Erkenntnis entwickelte und verabreichte der englische Landarzt Edward Jenner 1796 den ersten Lebendimpfstoff.

Heute verfügen wir über eine große Anzahl geprüfter und hochwirksamer Impfstoffe und konnten Krankheiten wie Diphtherie, Tetanus und Polio in Deutschland nahezu eliminieren. Durch den Einsatz moderner Technologien werden viele Vakzine mittlerweile gezielt hergestellt. In meiner Forschung habe ich mich in den vergangenen Jahren viel mit dem Thema Impfstoffentwicklung beschäftigt, zunächst im Bereich HIV und später im Kontext von neu- und wiederauftretenden Infektionen wie dem Middle East Respiratory Syndrome (MERS) und der Ebolavirusinfektion. Es ist hochmotivierend zu sehen, dass die Ebola-Vakzine, an deren Entwicklung wir beteiligt waren, während des derzeitigen Ebola-Ausbruchs in der Demokratischen Republik Kongo schon mehr als 120.000 Mal sicher verimpft wurde, eine Wirksamkeit von über 97 Prozent zeigt und dadurch schon viele Menschenleben gerettet hat.

Neben der Verfügbarkeit von sauberem Trinkwasser gibt es weltweit keine andere Gesundheitsintervention, deren Einfluss auf die Senkung der globalen Sterblichkeit so groß ist wie die von Impfungen. Und gerade aus diesem Grund erstaunen mich die niedrigen Impfraten in Deutschland. Sie sind nicht immer eine Folge strikter Impfablehnung, zeigen aber doch die Geringschätzung gegenüber der Bedeutung von Impfungen, ein unzureichendes Risikobewusstsein und nicht selten schlicht Nachlässigkeit.

Als eine der ansteckendsten Infektionskrankheiten, die wir kennen, sind Masern keineswegs — wie oft fälschlicherweise angenommen — eine harmlose Kinderkrankheit. Die Infektion kann gravierende Folgen haben, etwa Lungen- oder Gehirnentzündungen. Doch weil viele geimpft sind, sieht man insgesamt wenig Erkrankte und das Risiko wird nicht wahrgenommen. Wir sind das einzige Reservoir für das Masernvirus, es kann nur von Mensch zu Mensch übertragen werden. Durch adäquate Impfraten könnte die Krankheit — wie die Pocken — komplett ausgerottet werden. Dann müsste auch niemand mehr gegen sie geimpft werden!

Nichtsdestotrotz zeigen Studien und Erfahrungswerte anderer Länder, dass sich eine partielle Impfpflicht gegen Masern negativ auf das generelle Impfverhalten auswirken könnte. Zwar halte ich eine verpflichtende Impfung gegen Masern für richtig, vor allem für besondere Zielgruppen wie medizinisches Personal, man sollte jedoch versuchen, die flächendeckende Impfung auch mit anderen Mitteln zu bewirken. In anderen EU-Staaten, etwa in Portugal, werden hohe Impfraten auch ohne gesetzlich verpflichtende Impfungen erreicht. Entscheidend sind etwa niedrigschwelliger Zugang zu Impfungen sowie detaillierte Aufklärung über die Erkrankungsrisiken durch Ärzte. Auch innovative Wege, beispielsweise systematische Erinnerungen durch Apps oder regelmäßige Impfkampagnen in Schulen und Kitas, können zielführend sein.

Meine eigenen Kinder haben den ersten Teil ihrer Kindheit in den USA verbracht, wo ein strikteres Impfsystem vorherrscht. Schulen und Kitas verlangen jährlich Bescheinigungen über den aktuellen Impfstatus des Kindes. So ist es fast unmöglich, eine Folgeimpfung zu vergessen.

Ich bin leidenschaftlich pro Impfen und dankbar für diese Errungenschaft der Medizin, die leider nicht überall auf der Welt so selbstverständlich verfügbar ist wie in Deutschland. Dieses wertvolle Gut müssen wir als Gesellschaft schützen, wir müssen aktiv werden, damit die allgemeinen Impfempfehlungen, insbesondere im Kontext der Masernimpfung, endlich umgesetzt werden.

MARYLYN ADDO ist Leiterin der Sektion »Infektiologie« am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und Leiterin der Arbeitsgruppe »Emerging Infections« des Leibniz-Instituts Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin.

Contra

Das Problem sind die Impfgegner.

HENRIK HERRMANN

Seit langer Zeit wissen wir, dass Impfen im Rahmen der Primärprävention die einfachste, wirksamste und nachhaltigste Maßnahme ist. Es gehört zu den großen medizinischen Errungenschaften, dass gut verträgliche Impfstoffe gegen eine ganze Reihe von teilweise hochansteckenden Krankheiten zur Verfügung stehen. Durch den weltweiten Einsatz dieser Impfstoffe sind wir in der Lage, die Krankheitsrate und vor allem die Sterblichkeit dieser Infektionskrankheiten drastisch zu senken oder sie sogar auszurotten.

Vor diesem Hintergrund sind in Deutschland mit seinem hochentwickelten Gesundheitswesen die Impfrealitäten nicht zufriedenstellend. Es liegt nicht an fehlender Aufklärung oder an einem mangelnden Zugang zum Impfen. Seit Jahrzehnten wird für das Impfen geworben, es gibt Informationskampagnen und genügend Vorsorgetermine, an denen — entsprechend den stets aktuellen Empfehlungen der Ständigen Impfkommission — auch geimpft oder eine Auffrischungsimpfung vorgenommen werden kann.

Umso erschreckter ist die Öffentlichkeit, wenn es immer wieder zu Ausbruchssituationen kommt, zuletzt in mehreren Bundesländern durch eine Maserninfektion, die schwere Komplikationen bis hin zu Todesfällen mit sich bringen kann. Zwar liegt die Impfrate bei Masern bei über 90 Prozent, aber eben nicht bei fast 100 Prozent, die für einen vollständigen Schutz erreicht werden müssten! Haben wir nicht genügend aufgeklärt? Gibt es zu wenige Impfmöglichkeiten?

Hier lautet meine Antwort: Nein! Die, die wir erreichen können, impfen wir. Das Problem stellen die verbliebenen fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung dar, die aus unterschiedlichen Gründen einer Impfung grundsätzlich ablehnend gegenüberstehen. Die Gründe dafür sind vielfältig, es werden Vorurteile, nicht belegbare Gegenargumente, Ängste, Befürchtungen und zuletzt eigene Weltanschauungen angegeben. Hier hilft als letztes Mittel die Impfpflicht, um weitere Ansteckungen zu vermeiden und schlussendlich die entsprechende Krankheit, hier die Masern, zu eliminieren. Danach ist eine Impfflicht nicht mehr notwendig. Die Älteren werden sich noch erinnern: Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurde die verpflichtende Pockenschutzimpfung eingeführt, in einer schwierigen Zeit. Das Ergebnis: Seit 1972 gab es in Deutschland keinen Pockenfall, danach wurde die Impfpflicht aufgehoben. Weltweit ist die Krankheit seit 1980 nicht mehr aufgetreten — ein großartiger Erfolg. Wiederholen wir diesen Erfolg auch bei den Masern!

Als weiteres Argument gegen eine Impfpflicht werden rechtliche Bedenken genannt. In Deutschland wird immer wieder diskutiert, ob eine Impfpflicht, wie es sie in verschiedenen europäischen Staaten gibt, gegen das im Grundgesetz verankerte Persönlichkeitsrecht verstoße. Dabei nimmt das Grundgesetz dazu Stellung: Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt. Freiheit besteht darin, dass man alles tun kann, was einem anderen nicht schadet: Ansteckung mit Masern schadet!

Ich bin überzeugt, dass eine Impfpflicht mehr Leben rettet. Ich bin für verpflichtende Bescheinigungen über den Impfstatus bei Kindern, ausgestellt von sozialen Einrichtungen und im Gesundheitswesen. Zusätzlich zu begleitenden Maßnahmen wie zum Beispiel intensiver Aufklärungsarbeit sollte es weitere Impfmöglichkeiten durch jede Ärztin und jeden Arzt geben, unabhängig davon, in welchem Bereich sie oder er arbeitet. Diese sollten nicht zuletzt durch digitale Impfaufforderungen und Dokumentationen ergänzt werden. Alle Maßnahmen zusammen sind erforderlich und wichtig, denn es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, weil sie wirklich jeden von uns betrifft — ohne Ausnahme.

HENRIK HERRMANN ist Präsident der Ärztekammer Schleswig-Holstein.

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