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Mein Vater ist vor mir dort. Ein viel zu warmer Herbsttag in München, ich bin gerade erst gelandet und stolpere, geblendet vom weißblauen Himmel, in Richtung der Isar. Im Innenhof des Deutschen Museums parkt ja auch schon sein Sportwagen. Im absoluten Halteverbot, weil der Architekt Oskar von Miller auf der Museumsinsel keine Parkplätze vorgesehen hat. Geht denn das?

Eine erste Erinnerung: Früher stand hier doch der Senkrechtstarter, ein Flugzeug, das sofort und ohne Anlauf in die Luft gehen kann. Sein Anblick hat mich als Kind immer erfreut, wenn wir als Familie über den Museumshof geradelt sind. Mir war die Ferne lieb, ein Zufluchtsort. Vater selbst empfängt mich in der Eingangshalle. Wie ein Senkrechtstarter braucht auch er keinen Anlauf und möchte sofort loslegen. Er wedelt schon mit dem Lageplan, ich muss ihn bremsen. Denn wir warten noch auf den Chef des Museums, Wolfgang Heckl.

»Kluger, sehr sympathischer Mann«, meint mein Vater. Warum trägt er eigentlich zwei Jacken übereinander? »Da können wir mal die Klamotten zwischendurch wechseln, für die Fotos! Aber das musst natürlich Du entscheiden!«

Im Gegenlicht an der Pforte zum Museum erscheint Wolfgang Heckl, der Museumsdirektor. Fröhlich kommt er auf uns zu und schüttelt nacheinander energisch jedem die Hand. Zwei Männer einer Generation, die noch zupacken konnte. »Wo sind wir uns schon mal begegnet?« fragt Heckl meinen Vater. Im Fernsehen, natürlich. Irgendeine Talkshow. Plötzlich wedelt auch der Herr Heckl mit einem Infoblatt. Er preist die Mitgliedschaft für mich und meine Familie im Club des Deutschen Museums an. »Die kann doch der Vater übernehmen?« Er zwinkert uns zu. Vater erwidert: »Der steht ja auf eigenen Beinen.« Und sieht dabei recht ernst zu mir herüber. »Aus dem Sohn ist etwas geworden. Das lag doch bestimmt an den Besuchen im Deutschen Museum!« Heckl lacht und ist sich da sicher.

Am liebsten kamen wir sonntags, mein Vater, meine jüngere Schwester und ich. »Da war eure Mutter froh, dass wir aus dem Haus waren!« Aber warum eigentlich das Deutsche Museum? Meinen Vater habe ich bei uns zu Hause nie auch nur eine Glühbirne austauschen sehen. Da ist eher diese theoretische Begeisterung für die Technik, für Automotoren zum Beispiel — wie den in seinem Sportwagen. Bei seinen Kindern wollte er es besser machen. Geduldig verweilte er mit uns vor den Ausstellungsstücken. Sie zu verstehen, stand für mich dabei nie so im Vordergrund, ich wollte sie erfahren, sie erleben. Das geht spitze im Deutschen Museum. Vielleicht habe ich mich auch deshalb für einen Beruf entschieden, in dem ich an beinahe allen Tagen mit der Technik meiner analogen Leica M arbeite.

Jetzt versuchen wir aber erst einmal, uns zu orientieren. Da sind ja immer noch die tollen Flugzeug-Exponate. »Wollen wir mal nach ganz unten, im Bergwerk ein paar Fotos machen?« frage ich. Herr Heckl rät ab: »Sehr dunkel.« Dort unten sei einmal meine Schwester verloren gegangen, erinnert sich dafür mein Vater. Es gibt einen sakralen Raum, eine echte Kirche unter Tage, wie sie auch die Kumpel in echten Bergwerken hatten. »Vielleicht hat die Tochter da einen meditativen Moment erlebt?« wirft Heckl ein.

Wir erkunden also lieber das Innere des menschlichen Körpers. Rechts und links wird mein Vater von leuchtenden Zellen bedrängt. Später möchte der Bibliothekar des Deutschen Museums uns sein Reich zeigen. Zunächst bleibt Vater an einem Band von »Grzimeks Tierleben« hängen, dann geht es hinauf in die »Schatzkammer«, wo die besonders wertvollen Bücher lagern.

Auf dem Weg dorthin sprechen Vater und Heckl über Roy Lichtenstein versus die alten Meister, auf der steilen Treppe rätseln sie über die Identität Shakespeares. Vaters Begeisterung scheint nicht zu versiegen. Unterm Dach angekommen, in der Schatzkammer, liegen historische Exemplare aus den frühesten Tagen des Buchdrucks aufgebahrt. Einige zeigen Sternenbilder, andere handkolorierte Stadtansichten. Kurzes ehrfürchtiges Schweigen. Da beschließt Vater, hier möchte er sich nun regelmäßig zum Tee mit Herrn Heckl treffen.

Irgendwann ist die Luft raus. Ermattet ergeben wir uns der schieren Fülle der Ausstellungsflügel die Namen wie »Geodäsie« tragen oder »Starkstromtechnik«. Wir werden ein anderes Mal wiederkommen, mit meiner Tochter Fanny, Vaters Enkeltochter. Hinter den Teleskopen und dem im Schaukasten veranschaulichten Doppler-Effekt gelangen wir auf die Dachterrasse. Wir lassen den Blick über München schweifen. Am Horizont präsentiert uns der Föhn die Alpen. Herrlich. Mein Vater kreist um die verschiedenen Sonnenuhren. Die gehen noch immer, wie damals, als er uns hier oben ihre Funktionsweise erklärte.

Manfred Zapata in einem Raum mit Unterwasser-Installation, in dem Fische, Pflanzen und weitere Meeresobjekte von de Decke hängen.

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