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Die Standpunkte der anderen abschreiten.

Nennen Sie’s Haltung! Position! Standpunkt! Wie immer Sie es auch nennen: Eine bestimmte Perspektive auf einen Sachverhalt eröffnet unweigerlich ein Blickfeld, das auch andere mögliche Perspektiven mitenthält. Es ist wie an einer Kreuzung: Blickfelder von Passanten, Autofahrerinnen und Fahrradfahrern kreuzen und überlagern sich, man kann gar nicht anders als wahrzunehmen, dass auch von vorn, von den Seiten, von hinten geblickt wird auf das Gleiche — nur eben aus anderen Winkeln, die andere Einsichten möglich machen können, aber nicht müssen. Und dass daraus ganz unterschiedliche Schlüsse gezogen werden können, etwa für das Überqueren oder Stehenbleiben.

Die Kreuzung ist ein einfaches, dabei doch treffendes Bild für einen wissenschaftlichen oder wissenschaftlich begründeten Standpunkt, der von vornherein berücksichtigt — jedenfalls berücksichtigen sollte —, dass die eigene Perspektive eben nur eine der Perspektiven ist. Wer sich dieser Tatsache bewusst ist und stets bleibt, wird immer auch nach Evidenz streben. Ein Wissenschaftler oder eine Wissenschaftlerin will aber — um in diesem Bild zu bleiben — nicht nur die Straße überqueren, sondern die Kreuzung verstehen, Verkehrsströme erfassen, Aufkommen analysieren. Darin liegt ein gutes Stück Unabhängigkeit von einem singulären Standpunkt: Er begrenzt nicht länger das Blickfeld, das auf diesem Wege zu einer 360°-Rundumsicht werden kann.

Gelegentlich ist man im wirklichen Leben mit einer gewissen Unbelehrbarkeit konfrontiert, die der beharrliche, meist doch auch einsame Rückzug auf den eigenen, vereinzelten Standpunkt mit sich bringt. Dem Vernehmen nach häufen sich diese vielen einsamen Standpunkte. Vielleicht haben wir Glück, und diese Häufung bringt wenigstens die Nähe, die Schopenhauers Stachelschweine (nicht Katzen oder Elefanten) zwischen Stacheln und gegenseitigem Wärmen miteinander ausloten. Besser wäre es natürlich, wir würden ab und an die Standpunkte der anderen einmal abschreiten. Oder sie in Form wissenschaftlicher Evidenzen und Darstellungen wahrnehmen. Manche davon — so halten wir’s in der Leibniz-Gemeinschaft jedenfalls meist — denken Anwendung und Beratung gleich mit. Nur so ein Vorschlag: auf fundierten Wegen einfach einmal die eigene Perspektive infrage stellen. Das hat was!

MATTHIAS KLEINER

ist seit 2014 Präsident der Leibniz-Gemeinschaft. Zuvor war er von 2007 bis 2012 Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Von 1976 bis 1982 studierte Matthias Kleiner Maschinenbau an der Universität Dortmund, wo er 1987 promoviert wurde und 1991 auch die Habilitation im Fach Umformtechnik erlangte.

Weitere Folgen seiner Kolumne Nur so ein Vorschlag ... finden Sie hier.

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