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23. November 1989. Zum ersten Mal öffnet sich das schmiedeeiserne Tor der Waldsiedlung Wandlitz für Journalisten und Kameraleute. Stellvertretend für die DDR-Bürger blicken sie hinter den Schleier, der die geheime Wohnsiedlung der höchsten SED-Funktionäre fast dreißig Jahre lang umgab. Jan Carpentier, Reporter für die DDR-Jugendsendung Elf 99, macht an diesem Tag die Reportage seines Lebens, »Einzug ins Paradies«.

Wer alt genug ist und im Osten lebte, erinnert sich an seine Bilder: Ein Grüppchen Journalisten stapft zunächst zaghaft, später forscher über die Wandlitzer Waldwege. Filmt graue Einfamilienhäuser und entert schließlich auf Einladung des Verwaltungsleiters die Wohnung des ehemaligen Parteifunktionärs Herbert Häber. Während der Offizier erklärt, die Möbel stammten aus »heimischer Produktion«, zoomt die Kamera auf das Markenschild der Spülmaschine: »Miele de luxe«. Später filmen die Reporter in der Kaufhalle der Siedlung. Im Angebot: reihenweise beige Blazer, die zweite Haut der greisen Politbüromitglieder. Aber auch Puma-Shirts mit glitzernden Pailletten. In der Lebensmittelabteilung Berge von Ananas, Bananen, Grapefruits und Orangen. Die Filialleiterin sagt, ihr Sortiment sei dasselbe wie überall. Darauf Carpentier: »Mit Ananas und Birnen is grad’n bisschen schlecht in der Republik.«

Zwanzig Jahre später wird Carpentier sagen, die Reportage sei ein Fehler gewesen. Er hätte die SED-Funktionäre nicht an den Pranger stellen sollen. Das, was man in Wandlitz sah, habe sich schließlich auch so mancher Handwerker leisten können. Eine Einschätzung, die vielleicht mehr über den Status von Handwerkern in der maroden DDR aussagt als über den tatsächlichen Lebensstil in der Waldsiedlung. Ein völlig anderes Bild zeichnet jedenfalls Elke Kimmel, eine der Kuratorinnen der Ausstellung »Waldsiedlung Wandlitz — Eine Landschaft der Macht«, die das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) mit der Gemeinde Wandlitz konzipiert hat. »Die Journalisten besuchten die Siedlung Ende November 1989. Viele Bewohner waren bereits vor Wochen ausgezogen. Der Eindruck leergeräumter Häuser an einem trüben Wintertag führt in die Irre.«

Helmuth Schmidt und Erich Honecker.
Helmut Schmidt besuchte 1981 die DDR. Erich Honecker nahm ihn mit an den Döllnsee im SED-Jagdrevier bei Wandlitz. Foto WELTERS/LAIF
Ein Flaches Haus mit geöffnetem Einfahrtstor.
Einfahrt zur Waldsiedlung. Foto PICTURE ALLIANCE/DPA-ZENTRALBILD

Die Schau lüftet den Schleier, der immer noch über der Waldsiedlung liegt, nun zum ersten Mal mit den Mitteln der Zeithistoriker. Ein gutes Jahr hat das Team um Elke Kimmel und Jürgen Danyel, den stellvertretenden Direktor des ZZF, Quellen gesichtet und eine zweigeteilte Ausstellung konzipiert, die neben dem Barnim Panorama in Wandlitz erstmals auch die authentische Waldsiedlung bespielt. Bislang fanden Interessierte keine Informationen auf dem Gelände, das noch in den letzten Monaten der DDR in eine Reha-Klinik umgewandelt wurde.

»Von der Straße aus machen die 24 Wohnhäuser tatsächlich einen biederen und verschlossenen Eindruck. Ich dachte zuerst, da seien nachträglich Fenster zugemauert worden«, erzählt Kimmel. Auf der Rückseite ist der Anblick ein völlig anderer: Hier öffnen sich Panoramafenster zu parkähnlichen Gärten, die sanft in den brandenburgischen Kiefernwald übergehen. »Die Siedlung war von einer Mauer umgeben, mit Postenkette und Wachtürmen. Aber die Häuser lagen so, dass man das nicht wahrnehmen musste.« Der damalige DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl ließ sich hinter seinem Haus sogar ein Wildgehege anlegen. Der Wildreichtum der nahen Schorfheide war einer der Hauptgründe, warum sich um Wandlitz eine »Landschaft der Macht« entwickelte, sagt Kimmel. Schon Kaiser Wilhelm II. und NS-Reichsjägermeister Hermann Göring hatten hier gejagt. Jetzt pirschte Stasi-Chef Erich Mielke durch den Wald.

Die Präsenz der Staatssicherheit. Noch so eine Legende. Hunderte Stasi-Mitarbeiter schirmten die Waldsiedlung nach außen ab. Die Chauffeure, die Gärtner, die Putzfrauen — alle offizielle Mitarbeiter. Totalüberwachung also? In Carpentiers Reportage gibt es eine Begegnung mit Kurt Hager, dem Chefideologen der SED. Er vergleicht das Leben in Wandlitz mit seiner Gefangenschaft 1933 als politischer Häftling im KZ Heuberg, nennt die Waldsiedlung ein »Internierungslager«. Elke Kimmel sagt: »Wir haben keinerlei Aufzeichnung der Stasi über die Bewohner der Waldsiedlung gefunden.« Sie nimmt an, dass sich Erich Mielke täglich Bericht erstatten ließ. Mündlich. Und nicht mit dem Ziel, Kompromittierendes über die Nachbarn herauszufinden. Vielmehr sei die Stasi zuständig gewesen für das Rundum-sorglos-Paket. Glühbirne kaputt? Schon stand ein hilfsbereiter Genosse vor der Tür. Sonja Honecker erwartete ein Kind? Die Stasi fuhr in die »selbständige politische Einheit Westberlin« und kaufte Umstandskleider.

In den Akten der Staatssicherheit können weitere Überraschungen warten.

ELKE KIMMEL

Ein Großteil der Kleidung im Ladenkombinat stammte bis 1972 aus geplünderten Westpaketen. Später gab die DDR bis zu 9 Millionen DM aus, um die Regale mit westlichen Produkten zu füllen. Extrawünsche gaben die Bewohner bei den Verkäuferinnen ab. Sogar Computerspiele wurden beschafft. So bekam Günter Schabowski »auf operativem Wege« seinen Amiga 500. Inklusive Farbmonitor, Drucker und Computerspielen (leider ist nicht überliefert, welche). Elke Kimmel sagt: »Selbst wenn die Intershops manche dieser Waren auch für DDR-Bürger mit Zugang zu Devisen im Angebot hatten, muss man berücksichtigen, dass die Funktionäre in Wandlitz einen besonders günstigen Wechselkurs von 1 DM zu 1,5 DDR-Mark bekamen.« Kaufkraftbereinigt heißt das: Der Amiga war billiger als im Westen.

Der Luxus manifestierte sich anders als in Ceausescus Rumänien nicht in Palästen mit goldenen Wasserhähnen. »Das lag aber wahrscheinlich nur daran, dass die SED-Funktionäre einen anderen Geschmack hatten«, sagt Elke Kimmel. Alle zwei Jahre bekamen sie einen neuen Fernseher. Und wenn die Honeckers einen speziellen Sessel wollten, dann wurde die Produktion eines Möbelwerks auf die Herstellung dieses Einzelstücks umgestellt. Lieferengpässe im Rest der Republik spielten keine Rolle.

Von der Realität nahmen die Greise in der Waldsiedlung sowieso immer weniger Notiz. Man wollte vor dem eigenen Volk geschützt sein. Das war schon der Anlass für den Bau der Siedlung gewesen. Nach den Aufständen 1953 in der DDR und 1956 in Ungarn schien die bisherige SED-Wohnsiedlung in Berlin-Pankow nicht mehr sicher. 1960 zogen die ersten Funktionäre in die 35 Kilometer nördlich von Berlin gelegene Waldsiedlung. Die Protokollstrecke nach Berlin-Mitte, die sie jeden Tag in ihren Volvos entlang rauschten, brachte die Stasi auf Vordermann: Alle Ampeln wurden auf Grün gestellt, die bröckelnden Fassaden gestrichen, die Auslagen der Geschäfte gefüllt.

Je weniger die Politiker von ihrem Volk mitbekommen wollten, desto neugieriger wurde dieses wiederum auf das geheime Leben hinter den Mauern der Waldsiedlung. Gerüchte drangen nach draußen. Schon vor der Fertigstellung plauderten die Baubrigaden einiges aus. Spätestens in der Oberschule trafen die Kinder der Funktionäre auf die Schüler in Wandlitz. Viele Bedienstete wohnten im Ort. Westmedien schlachteten jede Nachricht aus »Bonzenhausen« natürlich gerne aus. Der Spiegel berichtete von den Jagdausflügen, die Honecker gerne nutzte, um Politik zu machen: »Wenn die Strecke zu knapp ausfiel, mussten Arbeiter aus dem VEB Fleischkombinat Erfurt vorsorglich tiefgefrorene Hasen auftauen, die fürs repräsentative Foto zurechtgelegt wurden.« Elke Kimmel sagt, ursprünglich habe sie für die Ausstellung Witze über die Waldsiedlung zusammentragen wollen. »Aber es gab keine Witze.« Nur Wut.

Deswegen wurde Jan Carpentiers Reportage so legendär. Sie scheint einen Mythos zu enthüllen. Dabei fällt sie selbst auf Tricks der Stasi hinein, die natürlich die meisten Luxusgegenstände beiseite geschafft hatte, bevor sie die Reporter in die Siedlung ließ. Carpentier beendete seinen Beitrag mit den Worten: »Macht Euch selbst ein Bild.« Durch die Ausstellung in Wandlitz und die zwei Begleitbände ist dieses Bild nun vollständiger. Elke Kimmel sagt aber auch: »In den Akten der Staatssicherheit können immer noch neue Überraschungen warten.«

Ein toter Hirsch, an dessen Bauch ein Gewehr lehnt, neben ihm ein Hund im Garten vor einem Fachwerkhaus.
Honeckers Spaniel Flex nach der Jagd. Foto PICTURE ALLIANCE/AP IMAGES

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