leibniz

CHRISTINE KOLCZEWSKI
ist Chemikerin und Kuratorin für Nano- und Biowissenschaften am Deutschen Museum, dem Leibniz-Forschungsmuseum in München.

»Auf das Schaf gekommen bin ich über die Wolle. Ich sollte als Kind stricken lernen, hatte aber nie Lust. Ich hatte immer selbst gestrickte Socken von Oma. Nachdem alle kaputt waren und meine Oma verstorben, beschloss ich, selbst zu stricken. Das war vor 15 Jahren. Seitdem bin ich wollsüchtig, stricke, spinne und webe. Ich habe mich mit Wollarten befasst — und mit den Tieren. Ich kann mich in den Stall setzen und ihnen beim Wiederkäuen zugucken. Dieses leise Schmatzen ist wahnsinnig friedlich. Die Tiere sind liebenswert und süß und es gibt ausgesprochen hübsche Schafe. Dumm sind sie ohnehin nicht. Mittlerweile bin ich nicht nur woll-, sondern auch schafsüchtig.

Weil neben meinem Job im Museum kaum Zeit für Natur und Tiere bleibt, habe ich immer darüber nachgedacht, einen Sommer auf einer Alm zu verbringen. Also habe ich auf einer Stellenbörse für Schafjobs eine Anzeige geschaltet und drei Antworten erhalten. Einen Schäfer im Westerwald habe ich besucht und mir ihn und die Herde angeguckt — und er sich mich. Wir haben beschlossen: Wir versuchen es. Drei Monate sollte ich bei ihm bleiben.

Als es im Sommer 2017 losging, war ich aufgeregt. Im Gepäck hatte ich meinen Fotoapparat und Anziehsachen, die dreckig werden konnten: Gummistiefel, Gamaschen, einen Hut gegen die Sonne, einen Rucksack und Arbeitsschuhe, weil Schafe die Angewohnheit haben, einem auf den Zehen herumzutrampeln. Im Nachhinein muss ich sagen, dass ich blutige Anfängerin war. Es ist etwas völlig anderes, ob man mal einen Sonntagnachmittag beim Scheren hilft oder sich drei Monate lang um eine Herde kümmert. Ich hatte Angst, das körperlich nicht zu schaffen. Schließlich sitze ich sonst am Schreibtisch und mache kaum Sport. Der Hüteschäfer ist täglich draußen mit seinen Tieren. Ganzjährig.

Jeden Morgen um halb sieben bin ich aufgestanden, um die Tiere zu versorgen. Im Umkreis seines Bauernhofs hat der Schäfer Flächen, die er mit seinen Tieren beweidet. Wenn die eine Fläche abgegrast ist, zieht man weiter zur nächsten. Nachts sind die Schafe draußen eingepfercht, morgens mussten wir sie auspferchen. Am Nachmittag steht man dann lange mit ihnen herum. Es dauert sechs bis sieben Stunden, bis die Tiere satt sind. Wobei sie nicht ununterbrochen futtern, erstmal rennen sie wild durch die Gegend, nach ein, zwei Stunden Fressen kommt die erste Phase Wiederkäuen. Dann fressen sie noch einmal.

Und jeden Abend, wenn man sie einpferchen will, sind sie der Meinung, dass sie noch nicht genug gefressen haben. Am Anfang fand ich das auch mal langweilig. Nach zwei Stunden habe ich gedacht: Was machst Du die nächsten fünf? Zum Glück konnte ich den Schäfer Löcher in den Bauch fragen. Er hat mir auch erzählt, dass er nie einfach dasteht, sondern die Tiere beobachtet. Er guckt, ob eines lahmt, ob es sich häufig kratzt, ob die Herde gesund ist. 550 Schafe hat er, 300 Mutterschafe plus Lämmer. Sie alle kann er unterscheiden. Ich konnte das bis zum Schluss nicht.

Ob ich mal eigene Schafe will? Mal schauen, bis dahin habe ich mein Patenschaf »Schnecki«.

CHRISTINE KOLCZEWSKI

Kopf eines dunklen Schafs.

Mit der körperlichen Arbeit bin ich schnell klargekommen. Den Stall ausmisten, tränken, füttern. Mehr als 20 Mal am Tag habe ich zwei 15-Liter-Trinkeimer von der Wasserstelle zur Tränke geschleppt. Wenn wir um elf Uhr abends Pizza gegessen haben, konnten wir das ohne Reue tun, so viele Kalorien hatten wir am Tag verbrannt. Schlimmer war das viele Stehen, ich habe mir irgendwann einen klappbaren Hocker gekauft.

Das Schlimmste aber war, bei Wind und Wetter draußen zu sein. Wenn die Schafe bei über 30 Grad in der prallen Sonne standen, hatten selbst die Hütehunde keine Lust mehr; sie saßen in den Tränkbottichen und waren da nicht mehr rauszukriegen. Wir hatten Sturm und Sommergewitter. Auch eine Woche Dauerregen. Trotz aller Funktionskleidung ist man so durchgefroren, dass nichts mehr geht. Und das mitten im Sommer.

Man kann dann fluchen und schimpfen, aber das ändert ja nichts. Diese Gelassenheit habe ich vom Schäfer im Westerwald mitgenommen — und die Lust, schwierigen Momenten etwas Positives abzugewinnen. Auch nach sieben Stunden Dauerregen findet man etwas, das den Tag wieder schön macht, sei es ein tropfnasses Schaf, das besonders lustig über die Wiese hüpft, oder ein seltener Vogel.

Als es zurück nach München ging, war ich todtraurig. Der Schäfer witzelte beim Abschied, ob ich auch kein Schaf eingepackt hätte. Ob ich mal eigene Schafe will? Nach den ersten zwei Wochen im Westerwald habe ich gesagt: Nie im Leben, das ist mir zu viel Arbeit! Mit der Zeit wurde meine imaginäre Herde aber immer größer. Zum Schluss war ich bei 50 Schafen, von jeder Rasse eins.

Heute kann ich mir zwar nicht vorstellen, selbst Schäferin zu werden; aber mal schauen, was sich tut, wenn ich irgendwann in Rente bin. Bis dahin habe ich mein Patenschaf. »Schnecki« ist ein schwarzes Bergschaf und lebt auf einem Bauernhof. Ich besuche sie regelmäßig und helfe beim Scheren aus, wenn Not am Mann ist.«

Schafe in einem Stall.

Vielleicht auch interessant?