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JENS KRAUSE
ist Professor für Fischökologie und leitet die Abteilung »Biologie und Ökologie der Fische« am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei. Dort erforscht er hauptsächlich die Schwarmintelligenz.

Im Büro des Biologen Jens Krause steht ein Aquarium mit kleinen schwarzen Fischen. Aus einem der Fenster blickt man auf den Müggelsee. Er wolle ja, dass seine Mitarbeiter auch während der Arbeitszeit schwimmen gehen, aber sie täten das viel zu selten. Es ist Anfang Januar, einer der ersten eisigen Tage. »Jetzt ist bald wieder Anbaden«, sagt Krause und freut sich. »Wir hüpfen aber nur kurz rein.«

LEIBNIZ Sie erforschen die kognitiven Fähigkeiten von Fischen — ausgerechnet, denn denen sagt man doch nach, dumm zu sein.

KRAUSE Nun, es gibt viele Tierarten, bei denen das Individuum nicht unbedingt viele Fähigkeiten besitzt. Was eine Biene kann oder eine Ameise, das ist sehr überschaubar. Aber wie die gemeinsam ein Nest bauen oder sehr effizient den kürzesten Weg finden — unglaublich raffiniert! Diese Insekten haben da Lösungen gefunden, von denen wir Menschen bislang nur träumen konnten.

Und was kann ein Fischschwarm Eindrucksvolles?

Als Wissenschaftler bin ich womöglich verblüfft von Dingen, die Laien nicht unbedingt erstaunen würden. Ein großer Teil unserer Forschung besteht ja darin, im Alltäglichen das Besondere zu sehen. Ich war beeindruckt, als ich verstanden habe, wie die Entscheidungen eines Fischschwarms ablaufen.

Wie sehen Sie das denn, von außen?

Wir schauen den Fischen sehr lange zu. Die Guppys in diesem Aquarium zum Beispiel: Nehmen wir an, sie fressen am Boden, und es kommt ein Schatten. In den Tropen, ihrem natürlichen Lebensraum, könnte das ein Eisvogel sein. Eisvögel fressen Fische. Es könnte aber auch ein Schmetterling sein, und der ist harmlos. Die Guppys sehen nur den Schatten, müssen aber trotzdem eine Entscheidung treffen — wegschwimmen oder bleiben?

Wegschwimmen, zur Sicherheit.

Wenn es dann nur der Schmetterling ist — wir nennen das ein false positive, falscher Alarm —, frisst jemand anders das Futter. Das ist ein Kostenfaktor. Aber wenn es der Eisvogel ist, ein true positive, also ein wahrer Alarmfall, dann müssen sie natürlich wegschwimmen.

Schwierig.

Die Fische schaffen es aber fast immer, wegzuschwimmen, wenn es der Eisvogel ist, und dazubleiben, wenn es nur der Schmetterling ist. Das funktioniert so: Statistisch gesehen entscheiden etwa zehn Prozent von ihnen falsch, das ist die spontane Fehlerrate. Also schwimmt der Schwarm nur dann weg, wenn mehr als zehn Prozent der Fische wegschwimmen wollen. Der Schwarm hat also ein Entscheidungsprinzip gefunden, dank dem er mit dem Problem besser umgehen kann. Genau damit beschäftigen wir uns: wie in der Natur Information verarbeitet wird. Das gucken wir uns an und leiten daraus mathematische Modelle ab.

Bringt das denn irgendwas?

Sehr viel, wenn wir so einen Algorithmus auf ein hartes Problem beim Menschen anwenden. Wir haben das für die Brustkrebsdiagnose in den USA gemacht. Die Rate unentdeckter Krebsfälle liegt dort bei etwa 20 Prozent, das ist erheblich. Es heißt, bei jeder fünften Frau, die Krebs hat, wird er bei der Mammografie übersehen. Diese Quote kann man auf Basis von kollektiver Intelligenz verbessern. Dafür haben wir die Röntgenaufnahmen verschiedenen Ärzten vorgelegt, die unabhängig voneinander eine Beurteilung vornehmen. Dann haben wir ihre Einschätzungen miteinander verrechnet. Eine Behandlung würde man erst empfehlen, wenn die Anzahl der Ärzte, die eine Behandlung befürworten, über der spontanen Fehlerrate von Ärzten liegt.

Künstlerisch verwischtes Foto von Jens Krause auf einer Brücke.
Künstlerisch verwischtes Foto von Jens Krause auf einer Brücke.

Aber trifft ein Arzt nicht eine komplexere Entscheidung als ein Fisch, der überlegt, vor einem Schatten zu fliehen?

Nicht unbedingt. Beide Fragestellungen teilen bestimmte Bedingungen, unter denen Schwarmintelligenz funktioniert. Erstens: Die Individuen nehmen unabhängig voneinander Informationen aus ihrer Umwelt auf, sie werden also zunächst nicht durch andere in ihrem Urteil beeinflusst. Zweitens: Diese Informationen werden verarbeitet. Bei Tieren geschieht das durch soziale Interaktion, wir machen das mit Computern. Drittens: Es gibt ein gemeinsames Interesse an der Lösung. Durch die Verarbeitung der unabhängigen Informationen entsteht eine Problemlösung, die nur dem Schwarmmitglied, nicht aber dem Einzelnen zur Verfügung steht. Genau dann spricht man von kollektiver oder Schwarmintelligenz.

Mehr Fische beziehungsweise Ärzte sehen mehr als einer. Das klingt trivial.

Klar, jeder kennt es aus dem Alltag, auch ich als Wissenschaftler. Ich sitze in meinem Büro, denke über ein Problem nach, und merke, dass ich mich im Kreis drehe. Dann rede ich mit Kollegen. Aber erstaunlicherweise haben wir Menschen bisher kaum systematische Techniken dafür entwickelt. Wir sagen: Treffen wir uns mal und diskutieren. Regierungen setzen Experten nach Gefühl zusammen und denken, so bekomme man das Problem in den Griff. Das ist sehr dilettantisch.

Was ist an dem Ansatz falsch?

Diskussionen werden oft durch Individuen beeinflusst, sei es, weil sie höher in der Hierarchie sind, sei es, dass sie generell mehr reden. Dadurch kann die Entscheidungsqualität der Gruppe in den Keller gehen. Es kann aber auch passieren, dass sich in der Unterhaltung neue Ideen entzünden und dass die Entscheidungsqualität weit über das hinausgeht, was der Einzelne jemals leisten könnte. Die Frage ist nur, wann was passiert. Dazu muss man die Instrumente kennen, die kollektive Intelligenz ermöglichen.

Sie beraten auch Unternehmen und Politiker hinsichtlich ihrer Entscheidungsstrategien. Also scheint es zumindest ein Interesse zu geben, diese zu professionalisieren?

Das ist eine neue Entwicklung. Ich denke, sie liegt daran, dass unsere Umwelt enorm veränderlich geworden ist, und dass es schwierig ist, mit dem Wandel Schritt zu halten. Und genau hier liegen die Stärken der Schwarmintelligenz. Wenn man das Sammeln von Informationen auf Viele verteilt, dann hat nicht der Einzelne den Stress, alles mitverfolgen zu müssen. Nehmen Sie die Finanzkrise, die Flüchtlingskrise. Offensichtlich ist es sehr schwer, so etwas kommen zu sehen, gleichzeitig haben Bevölkerung und Regierung ein Rieseninteresse daran, zu erfahren, wie es weitergeht.

Die Geheimdienste interessieren sich sehr dafür.

Jens Krause

Aber die Flüchtlingskrise lässt sich nun wirklich nicht mit dem Eisvogel vergleichen.

Natürlich! Auf Konferenzen tauscht man sich derzeit eifrig darüber aus, wie sich Methoden kollektiver Intelligenz auf die großen Krisen unserer Zeit anwenden lassen. Gerade die Geheimdienste interessieren sich sehr dafür.

Wie könnten die denn zum Beispiel herausfinden, ob Assad in einem halben Jahr noch an der Macht ist?

Man würde hunderte, womöglich tausende Aussagen über mögliche Szenarien und Entwicklungen in Syrien machen. Die legt man Experten vor, die sie bewerten sollen. Nun geht man mit Methoden der kollektiven Intelligenz heran: Etwa, indem man prediction markets im Internet einrichtet. Die funktionieren wie ein Aktienmarkt: Der Experte setzt Spielgeld auf die Antwort, die er für wahrscheinlicher hält. Weil die anderen das auch machen, gibt es einen dynamischen Aktienmarkt. Diese prediction markets sind erstaunlich robust. Bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen werden sie bereits verwendet. Sie haben zwei Jahre vor Obamas erster Wahl vorhergesagt, dass die Demokraten gewinnen. Natürlich kann man noch etwas raffinierter zu Werke gehen als die Fische, indem man zum Beispiel die Einschätzungen der Experten, die in der Vergangenheit mit ihren Einschätzungen häufiger richtig lagen, höher gewichtet. Aber die Grundidee für solche Algorithmen findet sich auch im Entscheidungsverfahren der Fische.

Es scheint mir da aber doch fundamentale Unterschiede zu geben. Der Fischschwarm etwa verhält sich in der Gefahrensituation korrekt — bei Menschen kommt es bei Gefahr mitunter zu Massenpaniken, also eher unklugem Verhalten.

Wenn wir von Massenpanik sprechen, geht es in der Regel um eine enorme Verdichtung einer Menschenmenge. Das sieht man, wenn man sich Videos von Mekka oder Duisburg anschaut. Wenn sechs oder sieben Menschen auf einem Quadratmeter stehen, dann hat das Individuum keine Entscheidungsfreiheit mehr, dann will es nur noch überleben. Die hohe Dichte erzeugt die Gefahr, nicht die Tatsache, dass Menschen etwas Idiotisches tun. Tiere würden vielleicht vermeiden, sich so extrem zu verdichten.

Sie haben über das Verhalten von Menschenmengen geforscht. Was hat Sie daran interessiert?

Wir wollten herausfinden, inwiefern einzelne Menschen, die eine Richtungsinformation haben, andere beeinflussen können. Das Ergebnis war, dass fünf bis zehn Prozent wissen müssen, wo es langgeht, damit sich eine Menschenmenge auflöst. Wir haben auch geguckt, was passiert, wenn wir unterschiedliche Informationen geben: fünf Prozent die falsche Information, zehn die richtige. Es ist erstaunlich, wie schnell sich die Menge für die Mehrheit entscheidet. Und zwar, ohne dass die Menschen diskutieren, das kann man ja nicht in so einer Menge. Man geht ja immer davon aus, dass Menschen miteinander reden müssen, um eine Entscheidung zu treffen. Das ist aber gar nicht immer so.

Das nennt man dann Herdentrieb, und der gilt als eher peinlicher Reflex.

Den kann man übrigens auch auf wissenschaftlichen Konferenzen beobachten: Der letzte Vortrag ist vorbei, Mittagspause, und nur sehr wenige wissen, wo die Cafeteria ist. Die meisten laufen einfach anderen nach, die aussehen, als wüssten sie, wo es langgeht. Gut, manchmal läuft man dann jemandem auf die Toilette hinterher, aber im Allgemeinen ist so ein Verhalten recht zielführend.

Dabei sagen wir ja gern von uns, dass wir uns nicht von anderen beeinflussen lassen und unabhängig sind.

Ich würde mir sofort eingestehen, dass viele meiner Alltagsentscheidungen völlig daran orientiert sind, was andere Menschen machen. Nur ab und zu entscheide ich mich unabhängig. Und dass ich die Ergebnisse meiner Forschung als Grundlage für meine alltäglichen Entscheidungen nehme — das passiert relativ selten.

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