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Der politische Wind hat sich in den vergangenen zehn Jahren gedreht. Wut, Hass und Empörung werden auf den Straßen Deutschlands immer lauter. Menschen unterschiedlicher Altersgruppen und Herkunft bekunden bei Demonstrationen ihren Unmut über unser politisches System und seine Vertreterinnen und Vertreter. Sie fühlen sich nicht gesehen, nicht gehört, nicht repräsentiert.

Es herrscht eine skeptische Grundstimmung gegenüber demokratischen Prozessen, die mich als Politikwissenschaftlerin hellhörig werden lässt. Denn obwohl in der Öffentlichkeit über ein Repräsentationsdefizit geklagt wird, bestätigen wissenschaftliche Untersuchungen dieses negative Bild nicht. Natürlich kann man einiges verbessern, wenn es zum Beispiel um die Vertretung von Frauen und Minderheiten im Bundestag geht. Doch insgesamt zeigen Datenerhebungen immer wieder, dass die Interessen deutscher Bürger:innen gut durch ihre Repräsentant:innen vertreten werden. Das beklagte Repräsentationsdefizit ist also eine gefühlte, keine empirische Wahrheit. Trotzdem hält sich der negative Eindruck in der Öffentlichkeit: Unsere Demokratie befindet sich in der Krise! Warum?

Wer seinen Prinzipien treu bleiben will, muss den Mut besitzen, sie kurzzeitig über Bord zu werfen – der Demokratie wegen.

POLA LEHMANN

CARLOTTA WALD
ist Schülerin der 60. Lehrredaktion der Deutschen Journalistenschule. Vor der Ausbildung zur Redakteurin in München studierte sie Kulturtheorie und Politik in Paris und London.

Politiker:innen werden an ihren Versprechen gemessen: Wie viele von ihren Wahlversprechen landen im Koalitionsvertrag? Was versprechen sie im Wahlkreis und was bringen sie im Bundestag ein? Was steht nur im Parteiprogramm und was ist am Ende der Legislaturperiode als Gesetz umgesetzt worden? Auch in der Politikwissenschaft ist es üblich, die politische Repräsentation danach zu bemessen, wie viele Wahlversprechen eine Partei am Ende durchsetzt.

Diese binäre Sichtweise auf die Repräsentation in Deutschland hatte mich schon vor meinem Studium der Verwaltungswissenschaften an der Universität Potsdam stutzig gemacht. Nach dem Abitur zog es mich nach Brüssel, ins Parlament der Europäischen Union. Ich arbeitete an der Seite eines Abgeordneten und konnte den Werdegang einer politischen Entscheidung vom Ursprung bis zum Ende mitverfolgen. Dabei erlebte ich, dass mehrheitsfähige Politik nicht schwarz-weiß gedacht werden kann, sondern vor allem im Graubereich stattfindet. Zwischen einer politischen Forderung und einem Entschluss, der sich tatsächlich ins Gesetz und somit in das Leben der Menschen einschreibt, lagen zähe Verhandlungen.

Hier zeigten sich die Spielregeln der Politik: Wer seinen Prinzipien treu bleiben will, muss den Mut besitzen, sie kurzzeitig über Bord zu werfen – der Verhandlung wegen, des politischen Macht-Spiels wegen, der Demokratie wegen. Nur so bleibt Bewegung im System. Nur so können die Abgeordneten den Bedürfnissen aller Wähler:innen Gehör verschaffen. Mir wurde damals bewusst, dass Demokratie aufwendig ist. Stets und ständig müssen individuelle Bedürfnisse einzelner Wähler:innen und Interessengruppen mit dem Allgemeinwohl vereinbart und ausbalanciert werden.

Meine Erfahrung ist: Wenn man Politiker:innen schlicht daran misst, ob sie ihr Wort halten, verkürzt man, was das demokratische System eigentlich leisten kann und soll. In meiner Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin trat ich daher einen Schritt zurück, zoomte raus, um mit Distanz besser auf das Thema blicken zu können. Ich wollte herausfinden, was wir als Bürger:innen von dem Recht auf Repräsentation und unseren Repräsentant:innen eigentlich erwarten können. Ich wollte wissen, was genau dieses Versprechen der Repräsentation eigentlich ist, welche Prozesse sich dahinter verbergen, und ich wollte das Missverhältnis zwischen gefühlter und tatsächlicher Repräsentation klären.

Dafür habe ich unterschiedliche Texte analysiert: Reden und Parteiprogramme. Früher war eine Analyse dieser Art unglaublich aufwendig. Heute ist es, sofern man das technische Know-how besitzt, kein Problem. Ich habe eine automatisierte Textanalyse durchführen können, in der ich verglichen habe, welche Positionen die verschiedenen Parteien im Deutschen Bundestag zwischen 1990 und 2013 im Wahlkampf und in Parlamentsdebatten vertreten haben. So konnte ich analysieren, wie Parteien ihre Positionen im Laufe von Entscheidungsprozessen abwandeln, warum sie das tun und wie sich das auf die Repräsentation der Wählerinnen und Wähler auswirkt.

»DJS TRIFFT LEIBNIZ«

Der Text über Pola Lehmanns Forschung ist im Rahmen des Workshopformats »DJS trifft Leibniz« entstanden, das wir seit Anfang 2021 regelmäßig mit der Deutschen Journalistenschule organisieren. Die Idee ist einfach: 15 Journalistenschülerinnen und -schüler – eine Klasse der DJS – treffen auf 15 junge Forschende von Leibniz-Instituten. Gemeinsam üben sie Interviewsituationen: Wie bereitet man ein Interview mit einer Wissenschaftlerin vor? Wie erzählt man Journalisten so von seiner Forschung, dass keine Missverständnisse entstehen? Wie tickt die jeweils andere Seite? Außerdem diskutieren sie mit renommierten Wissenschaftlerinnen und werten die Interviews mit erfahrenen Wissenschaftsjournalisten aus. Am Ende landen die Texte in unserem Onlinemagazin – wo ihr sie ab sofort regelmäßig in der Rubrik »Die Welt in 10 Jahren« lesen könnt.

Tatsächlich bestätigte die Forschung meine These. Mein Datensatz zeigt deutlich, dass politische Versprechen nicht immer eins zu eins umgesetzt werden. Man mildert sie ab, findet Kompromisse. Und die Daten zeigen auch, warum das legitim ist: Obwohl ein Kompromiss bedeutet, dass die Partei sich von den Bedürfnissen der einzelnen BürgerInnen entfernt, führt die Annäherung an andere Parteien zu einer besseren Repräsentation insgesamt. Individuelle Bedürfnisse werden zurückgestellt zugunsten des Allgemeinwohls.

Im Kern zeigt meine Forschung daher vor allem eins: Der Kompromiss hat ein Image-Problem. Jede:r zweite Deutsche empfindet Kompromisse in der Politik als einen Verrat an Prinzipien, während sie eigentlich die Repräsentation in Deutschland steigern.

Vielen Bürger:innen scheint also nicht bewusst zu sein, was sie von einer repräsentativen Demokratie und ihren Repräsentant:innen erwarten können. Das lässt den einen oder anderen frustriert und skeptisch zurück. Verschärft sich diese unbegründete Politikverdrossenheit in den kommenden Jahren, ist unsere Demokratie in Deutschland in Gefahr. Damit unsere Welt in zehn Jahren zumindest in Deutschland eine demokratische bleibt, ist es wichtig, dieser Unzufriedenheit entgegenzuwirken und sie mit politikwissenschaftlichen Untersuchungen zu entkräften.

Mit meiner Forschung möchte ich das probieren. Ich will das Missverständnis aufklären und den Kompromiss wieder salonfähig machen. Es ist mir deshalb auch besonders wichtig, die Gesellschaft an meiner Forschung teilhaben zu lassen. Ich will nicht nur für mich allein im stillen Kämmerchen forschen, sondern meine Erkenntnisse direkt in öffentlichkeitswirksamen Debatten einbringen und auf diese Weise unsere Demokratie verteidigen.

POLA LEHMANN ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung in der Abteilung »Demokratie und Demokratisierung«. An dem Leibniz-Institut forscht sie zur thematischen und positionellen Ausrichtung von Parteien und zu Fragen der Repräsentation.

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