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Die wichtigste Entdeckung meiner wissenschaftlichen Karriere machte ich, als ich auf eine Excel-Tabelle starrte. Ich war im Labor und hatte gerade eine Nervenzelle analysiert. Der Computer zeigte eine Liste mit Proteinen. Auf einmal bemerkte ich: Viele dieser Proteine hatten etwas gemeinsam. Sie stammten vom sogenannten Endoplasmatischen Retikulum. Dieses Organell – so nennt man einzelne Strukturen einer Zelle, zu denen auch der Zellkern und die Mitochondrien gehören – hatte ich zuvor wenig beachtet. Es spielte aber offenbar eine wichtigere Rolle, als ich dachte.

Ich bin Neurowissenschaftlerin und Zellbiologin. Ich untersuche, was in Nervenzellen geschieht. Alles, was wir tun, denken, fühlen und spüren, wird gesteuert von Milliarden von Neuronen, die Signale den Körper hinauf- und hinuntersenden. Das heißt auch: Schäden an unserem Nervensystem können fatale Folgen haben.

Schon heute leiden viele Menschen oder deren Familienangehörige unter einer neurodegenerativen Krankheit . Meine Großeltern hatten zum Beispiel Demenz. Unsere Gesellschaft wird immer älter, Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson oder Amyotrophe Lateralsklerose – ALS – werden deshalb häufiger. Als Grundlagenforscherin entwickle ich zwar keine Behandlungen für diese Krankheiten. Aber Erkenntnisse wie meine könnten die Basis für neue Medikamente und Therapien bilden.

Oft scheint mir: Je mehr wir herausfinden, desto klarer wird uns, wie wenig wir wissen.

MARIJN KUIJPERS

JASPER RIEMANN
ist Schüler der 60. Lehrredaktion der Deutschen Journalistenschule. Vor der Ausbildung zum Redakteur in München studierte er Geschichte und Philosophie in München und Istanbul. Als freier Autor schrieb er unter anderem für ZEIT ONLINE

Wenn Nervenzellen so wichtig sind, könnte man ja annehmen, dass wir sie schon gänzlich erforscht hätten. Aber in Neuronen passiert so viel! Das fasziniert mich immer wieder. Oft scheint mir: Je mehr wir herausfinden, desto klarer wird uns, wie wenig wir wissen.

Nehmen wir das Endoplasmatische Retikulum, das ich bislang so wenig beachtet hatte. Neuronen enthalten mehrere Organellen, aber das größte ist das Endoplasmatische Retikulum. Mit seinen Hohlräumen und Kanälen sieht es im Querschnitt aus wie ein Labyrinth. Es produziert und transportiert Proteine und Lipide, und außerdem speichert es Kalzium. Ohne das Endoplasmatische Retikulum könnten Neuronen nicht das tun, was sie tun sollen: nämlich über lange Distanzen miteinander kommunizieren. Dennoch wissen wir bislang wenig darüber, wie genau das Endoplasmatische Retikulum die Nervenzellen unterstützt. Das möchte ich nun erforschen. Im Sommer starte ich mein eigenes Labor, für das ich 1,5 Millionen Euro Förderung von der EU erhalten habe. Rund fünf Jahre nach meinem Aha-Moment vor der Excel-Tabelle kann ich das Endoplasmatische Retikulum jetzt genauer unter die Lupe nehmen.

»DJS TRIFFT LEIBNIZ«

Der Text über Marijn Kuijpers Forschung ist im Rahmen des Workshopformats »DJS trifft Leibniz« entstanden, das wir seit Anfang 2021 regelmäßig mit der Deutschen Journalistenschule organisieren. Die Idee ist einfach: 15 Journalistenschülerinnen und -schüler – eine Klasse der DJS – treffen auf 15 junge Forschende von Leibniz-Instituten. Gemeinsam üben sie Interviewsituationen: Wie bereitet man ein Interview mit einer Wissenschaftlerin vor? Wie erzählt man Journalisten so von seiner Forschung, dass keine Missverständnisse entstehen? Wie tickt die jeweils andere Seite? Außerdem diskutieren sie mit renommierten Wissenschaftlerinnen und werten die Interviews mit erfahrenen Wissenschaftsjournalisten aus. Am Ende landen die Texte in unserem Onlinemagazin – wo ihr sie ab sofort regelmäßig in der Rubrik »Die Welt in 10 Jahren« lesen könnt.

Ein eigenes Labor aufzubauen ist aufregend. Ich freue mich darauf, Chefin zu sein und die Richtung meiner Forschung selbst bestimmen zu können. Aber es ist auch einschüchternd. In der Vergangenheit war ich nur für mich selbst verantwortlich. Bald muss ich mich auch um die Belange von anderen kümmern. Ich muss Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einstellen, es soll ein drei- bis vierköpfiges Team sein. Ich muss spezielle Geräte kaufen, sogenannte Fluoreszenzmikroskope. Mit ihnen kann ich Proteine markieren, um dann zu beobachten, wie sie sich in einem Neuron bewegen. Und ich muss umziehen: Seit mehr als sieben Jahren arbeite ich in einem Labor in Berlin. Jetzt kehre ich in die Niederlande zurück, meine Heimat. Ein neuer Lebensabschnitt beginnt.

Ich werde aber nicht nur untersuchen, wie sich das Endoplasmatische Retikulum verhält, sondern auch schauen, was passiert, wenn es defekt ist. Es gibt eine Gruppe von Krankheiten, die damit in Verbindung gebracht wird. Die „hereditären spastischen Paraplegien“ sind seltene vererbte Erkrankungen des Rückenmarks, die zu Steifheit und Schwäche der Beinmuskeln führen. Darüber hinaus hängt das Endoplasmatische Retikulum mit vielen Krankheiten zusammen, weil es Kalzium speichert und reguliert – und Kalzium ein wichtiger Faktor für die Übertragung von Nervenimpulsen ist.

Krankheiten wie die eingangs erwähnte Alzheimer-Erkrankung haben verschiedene Ursachen, die teils mit Genen, teils mit der Umwelt zu tun haben. Das ist einer der Gründe, warum wir diese Krankheiten noch nicht effektiv behandeln können. Mir ist bewusst, dass meine Forschung nicht unmittelbar zu einem Medikament führen wird, dafür braucht es ohnehin eine Zusammenarbeit von Forschenden verschiedener Disziplinen. Nicht häufig, aber manchmal kommt es daher vor, dass ich im Labor sitze und mich frage, was eigentlich der Nutzen davon ist, ständig in ein Mikroskop zu schauen. Doch wenn ich möchte, kann ich meine Forschung leicht in einen Zusammenhang stellen mit Menschheitsproblemen wie neurodegenerativen Krankheiten. Auch deshalb liebe ich es, in mein Mikroskop zu schauen und etwas zu sehen, was noch niemand zuvor gesehen hat. Man weiß nie, was man dabei entdecken könnte. Und vielleicht können wir in einigen Jahrzehnten dann Menschen wie meinen Großeltern viel besser helfen.

MARIJN KUIJPERS ist Post-Doktorandin am Leibniz-Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit Molekularer Physiologie und Zellbiologie.

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