leibniz

GIANLUCA GRIMALDA
ist experimenteller Ökonom am Institut für Weltwirtschaft (IfW). An dem Kieler Leibniz-Institut forscht er zu den Themen Migration, Verhaltensökonomie und Wohlfahrsstaat.

Mein Sitzplatz war ganz hinten in der letzten Reihe. Das versuche ich normalerweise zu vermeiden, weil ich fürchte, dass sich die Lehnen der Rückbank nicht so weit nach hinten klappen lassen wie die der anderen Sitze im Bus. Das könnte einen guten Schlaf verhindern – und auf den 2.292 Kilometern von Berlin nach Moskau, der ersten Zwischenstation meiner Reise, würde ich den bitter nötig haben. Doch der Platz wurde mir automatisch zugewiesen, ich konnte nichts dagegen machen. Auch nicht dagegen, dass der Bus ausgebucht war, ich also keinen freien Platz neben mir hatte.

Ich versuchte, es positiv zu sehen: Ein voll besetzter, also maximal ausgenutzter Reisebus schien mir ein gutes Omen für eine Reise zu sein, deren Ziel es war, CO2-Emissionen zu reduzieren.

Ich war auf dem Weg nach Tokio. Auf der Think20-Konferenz wollte ich dort mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der ganzen Welt über politische Empfehlungen zur Integration von Immigranten für die Staatschefs des G20-Treffens diskutieren. Ich hatte mich für den Landweg entschieden, weil ich finde, dass wir Wissenschaftler eine Vorbildfunktion haben. Ich weiß, dass jedes Flugzeug unseren schönen blauen Planeten noch ein bisschen dreckiger macht. Dafür möchte ich nicht verantwortlich sein!

Und den CO2-Ausstoß mit einer Spende an eine Klimaschutzinitiative zu kompensieren, geht mir schlicht nicht weit genug. Ich würde ja auch keinen Müll in einen Park werfen und dann Geld dafür bezahlen, dass ein Park irgendwo anders aufgeräumt wird. Außerdem ist die CO2-Kompensation viel zu billig: Zurzeit kann man eine Tonne CO2 mit rund acht Dollar kompensieren. Der Wirtschaftsnobelpreisträger William Nordhaus findet, ein vernünftiger Preis sollte bei 25 Dollar starten und dann schrittweise auf 125 oder sogar 200 Dollar erhöht werden.

Gianluca Grimaldi auf einer Brücke mit Roter Fahne.
In Moskau.

Beim Klima sind die Zusammenhänge etwas abstrakter als bei der Verschmutzung eines Parks, man sieht seinen ganz persönlichen Anteil an der Globalen Erwärmung ja nicht unmittelbar. Forschung aber kann ihn sichtbar machen: So haben Klimatologen berechnet, dass pro ausgestoßene Tonne CO2 drei Quadratmeter Sommereis in der Arktis schmelzen. Mit einem Flug von Deutschland nach Japan und zurück hätte ich knapp fünf Tonnen CO2 ausgestoßen, rechnet man die Klimawirkung von Kondensstreifen und die Ozonbildung mit ein. Allein meinetwegen wären 15 Quadratmeter Eis geschmolzen. Zum Vergleich: Eine Person, die jeden Tag 30 Kilometer mit dem Auto fährt, stößt zwei Tonnen CO2 im ganzen Jahr aus. Meine Reise per Bus, Zug und Fähre verursachte rund 0,36 Tonnen CO2.

Für meinen Beruf bin ich viel unterwegs, denn ich interessiere mich für interkulturelle Vergleiche und die Erforschung von Stammesgesellschaften. Einiges kann durch virtuelle Experimente ersetzt werden, aber ideal ist das nicht. Auf unvermeidbaren Reisen versuche ich seit 2009, aufs Fliegen zu verzichten. Stattdessen übe ich mich im Slow Traveling. Damit reduziere ich nicht nur meine CO2-Emissionen, sondern komme auch mit Land und Leuten in Kontakt. Ich habe dreimal Russland durchquert, bin mit einem Frachtschiff nach Kolumbien gefahren, konnte aus Bus-, Zug- und Schiffsfenstern die schönsten Sonnenuntergänge beobachten. Ich sah die atemberaubenden Landschaften zwischen Ankara und Teheran und die Transformation der Frauen, die sich beim Überqueren der türkisch-iranischen Grenze im Zug ihre Schleier anlegten.

Auf meiner Reise musste ich lernen, dass es nicht immer möglich ist, auf das Fliegen zu verzichten.

GIANLUCA GRIMALDA

Gianluca Grimalda im Abteil mit viel Proviant und einer Postkarte.
In der Transsibirischen Eisenbahn (oben) und mit einer Schaffnerin in Novosibirsk (rechts).
Gianluca Grimalda mit einer Schaffnerin auf dem Bahnsteig.

Mit meiner Art zu reisen bin ich übrigens nicht allein: Ich bin einer von knapp 200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich in der internationalen Bewegung NoFlyClimateSci zusammengeschlossen haben. Wir tauschen uns über unsere Erfahrungen aus und lernen voneinander.

Ich will aber nicht nur meinen Kollegen, sondern auch allen anderen zeigen, dass weite Reisen über Land nicht nur möglich, sondern persönlich bereichernd sind – und auch ziemlich einfach. Heutzutage kann man schließlich so gut wie alles online buchen, und in Reiseforen findet man viele gute Tipps. Es mag klischeehaft klingen, aber ich glaube, dass wir unser Denken übers Reisen ändern und uns auf ein uraltes Motto besinnen müssen: Der Weg ist das Ziel.

Für meine Reise nach Tokio bedeutete das: 20 Tage in Bussen, Zügen und Fähren quer durch Deutschland, Polen, Litauen, Lettland, Russland und Japan zu fahren – statt 20 Stunden zu fliegen. Da ich auf dem Weg arbeiten wollte, ließ mich mein Arbeitgeber, das Kieler Institut für Weltwirtschaft, zu Glück einen Großteil der Reisezeit als Arbeitszeit abrechnen.

Als ich auf der Rückbank des Busses auf dem Weg von Berlin nach Moskau – ausgestattet mit zwei Schlafmasken, Ohrstöpseln und einem Nackenkissen – schließlich doch noch in den Schlaf glitt, hatte ich das ganze Abenteuer noch vor mir. Doch schon in Riga wartete beim Buswechsel gleich die erste Herausforderung: Ich musste den Fahrer des nächsten Busses überzeugen, mich trotz all meines Übergepäcks mitzunehmen.

Für meine unterschiedlichen Vorhaben hatte ich massig Equipment dabei: zwei Laptops, 13 Tablets, mehrere Power Banks, einen halben Medizinschrank (Malaria-Tabletten, Antibiotika, Verbandszeug … ), Moskitonetz und -spray, Solar- und Taschenlampen als Gastgeschenke, Kleidung und natürlich jede Menge Essen, weil man als Vegetarier nie weiß, was man auf dem Weg bekommt. Das alles hatte ich in zwei Koffer, zwei Rucksäcke und eine Umhängetasche gepresst. Unter Einsatz von Händen und Füßen konnte ich den Fahrer schließlich überzeugen, dass ich all die Kilos schon in Berlin bezahlt hatte.

Riesige Steinskulptur von Lenins Kopf auf einem Sockel.
Lenin-Statue in Ulan-Ude.

REISETIPPS

Seine Reisen plant Gianluca Grimalda so gut es geht im Voraus. Busse und Bahnen lassen sich meist unkompliziert online buchen, es gibt allerdings auch Reisebüros, die sich auf Slow-Traveler spezialisiert haben und beispielsweise Fahrten auf Fracht- oder Segelschiffen vermitteln (www.langsamreisen.de). Inspiration liefern auch Onlineforen, in denen sich Reisende austauschen können, zum Beispiel www.forum.lonelyplanet.de oder www.caravanistan.com. Hilfreich sind unterwegs klappbares Reisebesteck, Desinfektionsmittel, Chlor (um Keime im Wasser abzutöten) und eine medizinische Grundausstattung. Grimaldas Geheimtipp ist ein Bildwörterbuch, mit dem es sich im Ausland deutlich einfacher kommuniziert. Das Slow-Traveling verursacht zwar deutlich weniger CO2-Emissionen als das Fliegen – wer den Fußabdruck seiner Reise dennoch kompensieren möchte, findet im Internet entsprechende Angebote, zum Beispiel auf www.atmosfair.de oder www.carbonfootprint.com.

In den kommenden Wochen erlebte ich vieles, an das ich heute gerne zurückdenke: In Moskau geriet ich in die Feierlichkeiten zum 9. Mai, die an den Sieg über das Deutsche Reich im Zweiten Weltkrieg erinnern, am Baikalsee traf ich in eisiger Kälte eine alte Bekannte und in der Transsibirischen Eisenbahn schenkte ich russischen Soldaten mein Taschenmesser und eine Solartaschenlampe.

In Ulan-Ude, der Hauptstadt der russischen Republik Burjatien, übernachtete ich als Couchsurfer bei einer blinden Frau, die mich zu einer Lenin-Statue führte und mir alles darüber erzählte, obwohl sie selber das Denkmal nie gesehen hat. Mein Gastgeber in Wladiwostok ganz im Südosten Russlands ließ mich allein in seiner Wohnung und sagte, er würde am nächsten Morgen wiederkommen; ich sah ihn nie wieder. In Tokio schließlich tauchte ich, knapp drei Wochen nach dem Start in Berlin, in eine futuristische Megacity ein und war überwältigt vom nächtlichen Blick vom 238 Meter hohen Mori-Tower.

Auf meiner Reise musste ich jedoch auch lernen, dass es nicht immer möglich ist, ganz auf das Fliegen zu verzichten. Nach der Konferenz in Tokio wollte ich weiter nach Papua-Neuguinea reisen, um dort Feldforschung zu betreiben. Nur: Ich fand kein Schiff, das mich von Japan auf die Inselgruppe im südwestlichen Pazifik hätte bringen können.

Radikal gesehen hätte ich das Forschungsprojekt streichen und die Rückreise antreten müssen. Da ich in Papua-Neuguinea aber auch mehrere Vorträge über den Klimawandel halten wollte und einige Gemeinden besuchen würde, die wegen des steigenden Meeresspiegels bereits umgesiedelt werden mussten, befand ich, dass meine Reise unterm Strich einen Netto-Nutzen für das Klima haben würde. Zähneknirschend buchte ich die Flüge. Die nächsten Wochen verbrachte ich in einer einfachen Holzhütte fernab jeder Zivilisation.

Ich fühlte mich als Teil einer großen und universellen Familie.

Gianluca Grimalda mit zwei Männern. Sie Schauen auf ein Papierdokument.
Gianluca Grimalda steht kniehoch in einem Fluss.
In Papua-Neuguinea.

Auf dem Rückweg flog ich zunächst nach Singapur, von dort ging es über Land weiter: In Laos holperte ich über unbefestigte Straßen vorbei an Bambushütten, gleich hinter der Grenze zu China schossen Hochhäuser in den Himmel. Auf meiner Fahrt durch Südostasien, Kasachstan, Russland, Lettland, Litauen und Polen zurück nach Deutschland schloss ich Freundschaften, verhandelte mit Grenzpolizisten, lernte Wörter in fremden Sprachen und fühlte mich als Teil einer großen und universellen Familie.

Jetzt, in Zeiten der Corona-Pandemie, ist natürlich alles anders. Slow Traveling ist riskanter – und vielerorts wegen geschlossener Grenzen und Quarantäne-Bestimmungen ja auch gar nicht möglich. Ich wäre dieses Jahr eigentlich zur nächsten Think20-Konferenz nach Saudi-Arabien und erneut nach Papua-Neuguinea gereist; beides wird höchstwahrscheinlich nicht möglich sein. Aber sobald es geht, werde ich mich wieder in die Busse und Züge dieser Welt setzen.

Ich selbst komme ursprünglich aus Mailand im Norden Italiens. Im Italienischen gibt es das Wort sorvolare. Übersetzt bedeutet das etwas überfliegen, etwas übergehen oder oberflächlich sein. Ich denke oft, dass Menschen, wenn sie ein Flugzeug nehmen, tatsächlich oberflächlich reisen, da sie die Schönheit, der man auf dem Weg begegnet, verpassen.

Sonnenuntergang über dem Meer.
Am Japanischen Meer.
Gianluca Grimalda vor einem großen Banner des T20-Gipfels, neben ihm zwei Flaggen.
Auf dem T20 Summit 2019 in Tokio.
Glitzernde Lichter, erleuchtete Straßen und Gebäude bei Nacht.
Blick auf Tokio bei Nacht.
See mit Blick auf Berge.
Am Baikalsee in Sibirien.

Vielleicht auch interessant?