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Oft ist es schwer, vernünftig zu sein. Etwa, wenn unter der Woche ein weiteres, wirklich allerletztes Bier mit einem Freund lockt. Oder weil eine Situation so komplex ist, dass man gar nicht mehr weiß, was nun eigentlich vernünftig ist. Eine ganze Armada von Algorithmen soll helfen: Mit Apps sollen wir gesund essen und rechtzeitig schlafen gehen. Und wenn wir erst im selbstfahrenden Auto sitzen, gehören auch unvernünftige Überholmanöver der Vergangenheit an, so der Plan.

Der Mensch schafft auf diese Weise Technologien, die wiederum den »Faktor Mensch« überwinden sollen, mit all seiner Impulsivität, seinen irrationalen Vorurteilen, Affekten und Gefühlsverwirrungen. Begründen sie ein neues Zeitalter der Vernunft?

Gottfried Wilhelm Leibniz definierte Vernunft als »das Vermögen, welches die Verbindungen der Wahrheiten untereinander einsieht«. Er stellte sie in den Mittelpunkt seiner Philosophie und bereitete so den Weg für die Aufklärung, deren Grundgedanken Immanuel Kant später als »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit« formulierte. Vernunft wurde also früh mit Selbstverantwortlichkeit zusammengedacht.

Der Mensch, so meinten Leibniz, Kant und andere Gelehrte, könne im Gegensatz zu anderen Tieren selbstbestimmt handeln, wenn er sich nicht von Leidenschaften und inneren Trieben »regieren« ließe. Und auch die Bevormundung durch äußere Autoritäten könne er abschütteln — wenn er sie hinterfragt und sich eigene Gedanken macht. Vernünftig sein heißt dabei immer auch, die eigenen Ziele und Werturteile zu reflektieren und die Frage nach dem Warum zu stellen. Digitale Anwendungen können das nicht. Sie sind allenfalls instrumentell rational und optimieren Prozesse auf programmierte Ziele hin. Das mag smart sein. Vernünftig ist es nicht.

Ein Zeitalter der Vernunft kann deshalb kein Zeitalter allumfassender Rechenleistung sein, denn auch hinter Algorithmen stehen Menschen mit eigenen Interessen. Nur wenn wir die Analysen der Codes kontinuierlich hinterfragen, kann die digitale Gesellschaft auch eine aufgeklärte Gesellschaft sein. Und im Privaten können wir ob unserer kleinen Irrationalitäten ganz beruhigt sein. Sie unterscheiden uns von Robotern, denen wir obendrein überlegen sind — wenn wir den Mut haben, uns unseres Verstandes zu bedienen und mündige Menschen zu sein.

CHRISTIAN UHLE

Porträt von Christian Uhle.

ist Philosoph und lebt in Berlin. Wenn er sich nicht gerade für uns durch Leibniz‘ umfangreiches Werk gräbt, beschäftigt er sich unter anderem mit Fragen von Sinn, Freiheit oder neuen Technologien. Außerdem moderiert er die Veranstaltungsreihe Philosophie des Digitalen.

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