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ISABELLA HELMREICH
ist psychologische Psychotherapeutin und leitet den Bereich »Resilienz und Gesellschaft« am Leibniz-Institut für Resilienzforschung in Mainz.

LEIBNIZ Frau Helmreich, wieso hat sich im Zuge der Evolution eigentlich ein so leidvolles Gefühl wie Trauer entwickelt?

ISABELLA HELMREICH Ganz allgemein sind Emotionen Hinweisgeber, sie sollen uns helfen, in einen Zustand des Gleichgewichts zurückzukehren. Das Gefühl der Trauer entsteht zum Beispiel, wenn wir einen Verlust erlitten haben. Verlieren wir einen geliebten Menschen, wird unser Grundbedürfnis nach Bindung verletzt. Je enger die Bindung war, desto stärker ist auch die emotionale Reaktion. Wenn wir für diese belastende Situation nun keine ausreichenden Bewältigungsmöglichkeiten zur Verfügung haben, entsteht Stress. Trauer soll mir helfen, meine Ressourcen zu mobilisieren, um den Verlust zu bewältigen. In der Psychologie nennen wir das »Coping«. Die Emotion soll mich also anregen, zu fragen: Was kann ich tun, dass ich wieder mit meinem Leben zurechtkomme? Wie kann ich diesen Verlust irgendwie ausgleichen, zumindest emotional? 

Wie schaffen es Menschen dann, Antworten auf diese Fragen zu finden?

Jeder Mensch trauert anders und auch unterschiedlich lange. Das hängt davon ab, was der Verlust mir bedeutet, welche Ressourcen ich besitze und wie meine Lebensumstände sind. In der Forschung wurden verschiedene Prozessmodelle der Trauer aufgestellt, das bekannteste ist das 5-Stufen-Modell der Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross. Wenngleich diese Modelle für die Trauerarbeit hilfreich sind, verläuft der Prozess der Trauer dann aber nicht linear, sondern sehr individuell. Trauernde können Phasen überspringen, in scheinbar abgeschlossene Phasen wie Wut oder Verleugnung zurückfallen oder zwischen Polen wie Konfrontation und Vermeidung pendeln.

Wie macht sich das bei Trauernden bemerkbar?

In meiner psychotherapeutischen Praxis bin ich einer Patientin begegnet, die ihr Kind bei einem Unfall verloren hatte. Es fiel ihr extrem schwer, den Verlust anzunehmen. Noch drei Jahre später hatte sie das Zimmer ihrer Tochter erhalten – wie ein Museum. Da war es wichtig, erst mal andere Phasen anzustoßen, sie etwa zum Zorn auf die Ungerechtigkeit dieses Todes zu ermutigen. Denn wer wütend ist, akzeptiert, dass der Auslöser stattgefunden hat. In einer Trauerphase länger zu verweilen oder zwischen Phasen zu pendeln, heißt nicht, dass man sofort Hilfe braucht. Wenn man aber das Gefühl hat, es geht gar nicht mehr weiter, weil die Last nie wirklich nachlässt, sollte man sich professionelle Hilfe suchen. Das ist keine Schande, sondern zeigt Stärke.

Trauer ist kein Problem, sondern ein Prozess.

ISABELLA HELMREICH

Wann ist Trauer abgeschlossen?

»Abgeschlossen« heißt auf keinen Fall, dass es wie mit einer Schublade wäre: Schublade auf, Trauer rein, Schlüssel umdrehen, fertig. Trauer ist kein Problem, sondern ein Prozess. Abgehakt wird ein schwerer Verlust nie sein. Es geht beim Abschließen vielmehr darum, ihn annehmen zu können, einen gewissen Sinn darin zu erkennen, den Verlust in das eigene Leben zu integrieren.

Wie kann das gelingen?

Aus meiner Familie kenne ich das so, dass wir am Geburtstag meines Vaters Erinnerungen teilen. Für den Alltag hat er uns Andenken hinterlassen, kleine Vögel oder ein Windspiel, die er aus Holz und Kupfer gefertigt hat. Es geht also darum, schöne Momente mit dem Verstorbenen im Gedächtnis zu behalten, und für sie dankbar zu sein. Natürlich wird es immer wieder Phasen geben, in denen uns das schwerfällt und wir sehr traurig sind. Auch verletzende Erlebnisse können hochkommen, aber das ist okay. Es ist wichtig, sich an den Menschen als Ganzes zu erinnern.

Wie kann man sich auf einen Verlust vorbereiten?

Gar nicht. Man kann aber seine Resilienz, also die psychische Widerstandskraft, stärken. Dabei helfen verschiedene Faktoren. Wenn ich beispielsweise schon einmal erfolgreich einen Trauerprozess durchschritten habe, ist das wie eine Stressimpfung: Ich bin in Zukunft besser vorbereitet auf eine ähnliche Situation. Ein zweiter Faktor ist soziale Unterstützung, es ist wichtig, Menschen zu haben, die mich halten und mit meiner Trauer umgehen können. Auch in ein religiöses Netzwerk oder eine Gemeinschaft wie einen Verein eingebunden zu sein, kann helfen. Ein weiterer Faktor ist die Sinnfindung im Verlust, und auch sie kann mit Religion verbunden sein. Je nachdem, an was oder wen ich glaube, könnte ich zum Beispiel denken: Gott hat diesen Menschen zu sich gerufen und er hat es dort besser. Eine hohe Resilienz haben zudem Menschen, die sich aktiv mit dem Sinn des Lebens, des Todes und der Trauer auseinandersetzen und ihren Alltag bewusst nach ihren Werten gestalten.

Zwei Personen malen Herzen auf eine Mauer.
Die »National Covid Memorial Wall« in London wurde von Angehörigen und Bekannten zum Gedenken an die Opfer der Corona-Pandemie erschaffen. Foto EHIMETALOR AKHERE UNUABONA/UNSPLASH

Wie komme ich zu so einem stabilen Wertesystem?

Dafür gibt es Übungen wie die Grabrede, die man aus dem Coaching-Kontext kennt – was soll einmal über mich gesagt werden, wenn ich sterbe? Die Übung hat eine zweite Ebene: Wer sich aktiv mit der eigenen Vergänglichkeit beschäftigt, ist besser vorbereitet, wenn es im Umfeld zu einem Todesfall kommt.

Welchen Raum haben Tod und Trauer in unserer Gesellschaft?

Wir streben nach immer mehr. Nach Erfolg. Nach Wohlstand. Verlust bedeutet immer erst mal etwas Negatives für uns. Wenn wir etwa den Job verlieren, geht es höchstens darum, sich schnell aufzurappeln und noch schneller weiterzumachen. Der Tod konfrontiert uns mit der eigenen Sterblichkeit: Irgendwann ist eben doch Schluss. In unserer Leistungsgesellschaft hat das Thema auch deshalb wenig Platz. Wir versuchen, es wegzuschieben, auch als Art der Konfliktvermeidung. Oder sagen sogar zu anderen: Jetzt hast du aber genug getrauert, raff dich mal wieder auf und mach weiter! Als Trauernde oder Trauernder bin ich aus dieser Leistungsdynamik herausgerissen und habe grundlegend andere Bedürfnisse. Doch als Gesellschaft schließen wir dafür die Räume. Trauernde finden wenig Orte, ihren Schmerz zu verarbeiten, ihn mit anderen zu teilen und mit ungelösten Konflikten umzugehen.

Hat die Corona-Pandemie daran etwas verändert? Ob man wollte oder nicht, Bilder vom Tod waren überall. 

Das ist ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite gab es viele Tote, auf der anderen Seite hatten viele nicht die Möglichkeit, sich von ihren Liebsten zu verabschieden. Beerdigungsfeiern konnten entweder gar nicht oder nur im kleinsten Kreis stattfinden. Die Pandemie hat, das zeigen auch erste wissenschaftliche Befragungen, die Trauerverarbeitung deswegen eher noch erschwert. Das lässt sich sogar an körperlichen Prozessen festmachen, etwa an dem Bindungshormon Oxytocin: Es wird bei als angenehm empfundenem Körperkontakt ausgeschüttet und steigert das Wohlbefinden. Eine Quelle der Resilienz, die uns nicht zugänglich ist, wenn zum Beispiel Umarmungen fehlen. Aber natürlich werden wir gedanklich häufiger mit dem Tod konfrontiert: durch Corona, aber auch durch Überflutungen wie im Ahrtal. Plötzlich bemerken wir, dass der Tod uns einholen kann und wir nicht in einer sicheren kleinen Blase sitzen.

Wer sich schon als Kind mit dem Tod beschäftigt, kann später besser damit umgehen.

Kann die Pandemie eine Chance sein, dem Thema Tod als Gesellschaft wieder mehr Raum zu geben?

Corona ist natürlich eine Chance, Räume für Trauer in der Gesellschaft zu öffnen. Meiner Meinung nach haben wir sie aber noch nicht genutzt. Ich würde mir wünschen, dass mehr Austausch stattfindet und wir uns auch bewusst machen, dass es selbst in tiefen Trauerphasen okay ist, Freude und Spaß zu empfinden. Das ist es auch, was wir bei resilienten Menschen sehen: Sie schaffen es immer wieder, Glück durch die kleinen Dinge im Leben zu empfinden. Wenn ein Mensch kommt und mir etwas zu Essen bringt, darf ich mich freuen. Auch die Geburt eines Kindes darf mich trotz meiner Trauer positiv berühren. Gesellschaftlich haben wir diese Haltung: Jetzt muss alles schlimm sein. Da wünsche ich mir einen Wandel.

Wie könnte er aussehen?

Ich finde es wichtig, früh anzusetzen. Tod und der Sinn des Lebens sollten schon in der Schule ein Thema werden. Dadurch wird oft eine Kettenreaktion ausgelöst: Die Kinder tragen das Thema in ihre Familien. Wer sich schon als Kind mit dem Tod beschäftigt, hat später außerdem bessere Kompetenzen, damit umzugehen. Natürlich sollte man ein Kind auf keinen Fall zu etwas zwingen, etwa zu einer Beerdigung zu gehen. Aber manchmal passiert ja eher das Gegenteil und Kinder werden regelrecht ausgegrenzt. Das empfinde ich als den falschen Weg. Ich finde es auch schade, dass der Tod bei uns hauptsächlich negativ konnotiert ist. In Mexiko kommt am Tag der Toten die ganze Familie auf dem Friedhof zusammen und feiert ein rauschendes Fest mit Essen und Lachen.

Ein neuer Raum für Trauer sind die Sozialen Medien. Was halten Sie von virtuellem Gedenken?

Man wird zwischen Katzenbildern und Kurzkommentaren damit konfrontiert, dass jemand einen Menschen verloren hat. Im ersten Moment mag das befremdlich wirken. Auf der anderen Seite kann es für die Trauerbewältigung hilfreich sein, den Verlust nach außen zu tragen und sogar von Fremden Beileidsbekundungen zu bekommen – auch wenn die Gefahr besteht, dass hämische Kommentare oder Hass diese positive Wirkung zunichtemachen. Mir persönlich würde es nichts bringen, ein GIF mit Gedenkkerzen gepostet zu bekommen. Ich schreibe auch lieber Briefe, weil ich so individueller ausdrücken kann, wie traurig ich darüber bin, dass ein Mensch nicht mehr da ist und was ich an ihm geschätzt habe. Aber egal über welche Plattform: Ich finde es wichtig, Anteilnahme in persönlichen Worten auszudrücken.

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