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Vergessen fängt mit D an. Glauben Sie nicht? Fragen Sie Dagmar Bittner. Sie ist Linguistin, sie muss es wissen, und sie hat etwas Erstaunliches herausgefunden. Zu den Details kommen wir später, aber es hat damit zu tun, dass manche die sagen, wo andere sie sagen und dass dieser Unterschied helfen könnte, Jahrzehnte später einer Alzheimer-Demenz entgegenzuwirken. Was allein schon deshalb bemerkenswert ist, weil Dagmar Bittner eben Linguistin ist und nicht Medizinerin oder Neuropsychologin.

Aber der Reihe nach: Die Alzheimer-Demenz ist aus zwei Gründen eine der schlimmeren Krankheiten, mit denen ein Mensch im Lauf des Lebens rechnen muss. Erstens: Sie ist nicht heilbar, weder mit einem Medikament noch mit einer Operation. Zweitens: Sie endet in völliger Hilflosigkeit. Zunächst werden die Patienten vergesslich. Erinnern sich nicht, was am Vortag geschah. Finden nicht mehr die richtigen Worte. Verlernen dann Lesen, Schreiben, Rechnen, werden depressiv, aggressiv, entwickeln Wahnvorstellungen. Schließlich können sie praktisch keine alltägliche Tätigkeit mehr allein verrichten. In Deutschland leiden anderthalb Millionen unter einer Form von Demenz – Alzheimer ist die häufigste. Das sind über acht Prozent der Menschen über 65.

Was Alzheimer auslöst, ist nicht bekannt. Bei Patientinnen, die nach dem Tod obduziert wurden, beobachteten die Ärzte, dass das Hirn deutlich geschrumpft war. Außerdem hatten sich Fasern in den Nervenzellen verändert und Eiweiße abgelagert. In jedem zehnten bis zwanzigsten Fall gibt es Häufungen in der Familie; ein Alzheimer-Gen wurde bisher aber nicht entdeckt.

Eine weiß gekleidete, ältere Frau steht vor einem Wohnmobil und scheint es anschieben zu wollen.

Doch es ist durchaus bekannt, was das Risiko erhöht, im Alter an dieser Form der Demenz zu erkranken: sich in einem engen sozialen Umfeld zu bewegen, also weder häufig Angehörige zu treffen noch viele Freundschaften zu pflegen. Oder kaum Hobbys zu nachgehen. Der Nachteil dieses Wissens ist, dass es sich erst im Rückblick entfaltet. Das bedeutet, man weiß, dass in einer Gruppe Alzheimer-Patienten überproportional viele Menschen mit engem sozialem Umfeld sind. Man weiß aber nicht, wer aus einer Gruppe junger Menschen mit engem sozialem Umfeld die Krankheit später entwickeln wird. 

Und hier kommt die Linguistik ins Spiel. Dagmar Bittner, die am Berliner Leibniz-Zentrum Allgemeine Sprachwissenschaft den Erwerb und die Entwicklung von Sprache erforscht, kam auf die Idee, Daten aus einer Langzeitstudie – Heidelberger Psychologen interviewten seit den 1990er Jahren immer wieder dieselben Personen aus Jahrgängen um 1930 und 1950 – auf Anzeichen von Demenz auszuwerten. Dafür verwendete sie eine quantitative Textanalyse.

Die Probanden waren bei der ersten Befragung Anfang 60, bei der bisher letzten Mitte 70. Bittner verglich den Sprachgebrauch einer Gruppe von Probanden, die im Verlauf der Studie an Alzheimer erkrankten, mit dem Sprachgebrauch einer Gruppe gesund Alternder. Dabei achtete sie auf ein winziges, scheinbar unbedeutendes Detail. Wenn ich mir die Interviews anhöre, fällt mir selbst der dort bestehende Unterschied nicht auf, sagt Bittner. Die systematische Untersuchung aber habe einen klaren Unterschied zwischen Alzheimer-Patienten und gesunden Probanden gezeigt.

Das Detail, das Bittner untersucht hat, ist der Gebrauch bestimmter Pronomen: Wer über eine andere Person spricht und weder deren Namen (Anna) noch ihre Funktion (Mama) oder ihren Beruf (Forscherin) nennt, hat die Wahl zwischen zwei Pronomen: sie oder die. Dasselbe gilt für er oder der. Die Pronomen drücken unter anderem unterschiedliche Haltungen des Sprechers aus: In dem Satz die kommt näher schwingt etwas Abwehrendes, Distanziertes mit. Verwendet der Sprecher im selben Satz das aus der Schriftsprache entlehnte Pronomen sie, wird die Aussage dagegen als sachlich-neutral empfunden. Kinder, die sich die Sprache aneignen, verwenden häufig die oder der, um andere zu bezeichnen. Erst später lernen sie – oft ermahnt durch die Eltern – das als höflicher geltende sie oder er.

In einem lichten, von Schilf durchwachsenen Birkenwald steht eine ältere Frau. Sie wird von einem Baumstamm halb verdeckt.
Eine ältere Frau sitzt auf einer Küchenbank, ihre Arme hat sie vor sich auf den Tisch gelegt. Eine andere Person legt seine Hand über ihre Hände.

Solche Formen, die zusätzliche Konnotationen enthalten, zu lernen, bedeutet eine Zunahme an Komplexität, sagt Bittner. Menschen, deren Sprachvermögen durch Demenz nachlasse, durchliefen diesen Prozess spiegelverkehrt: Die Komplexität im Ausdruck nehme ab. Genau das beobachtete Bittner, als sie die Daten der Heidelberger Psychologen auswertete, bei der  Verwendung der Pronomen: Wenn Alzheimer-Patienten über Familienmitglieder sprachen – Personen, für die man eher keine distanzierte Sprache wählt –, verwendeten sie deutlich häufiger die und der als sie und er. Bei den Gesunden war es umgekehrt.

Das Überraschende an Bittners Untersuchung: Der Unterschied zeigte sich nicht erst in den Daten der Mitte-70-Jährigen, bei denen die Krankheit bereits ausgebrochen ist – sondern schon bei der ersten Befragung zwölf Jahre früher. Es ist durchaus möglich, sagt Bittner, dass diese Menschen ihr ganzes Leben lang so gesprochen haben. Vermeidung von Komplexität im sprachlichen Ausdruck, enges soziales Umfeld und geringes Interesse an Hobbys könnten auf eine gemeinsame Ursache zurückgehen: ein schwaches Arbeitsgedächtnis.

Das Arbeitsgedächtnis ist ein Begriff aus Psychologie und Neurowissenschaft und beschreibt die Fähigkeit, sich Informationen zu merken, parallel zu verarbeiten und zielgerichtet einzusetzen. Es ist zum Beispiel nötig, um einen Satz anzufangen und sinnvoll zu beenden. Oder um zu entscheiden, wann es sicher ist, eine viel befahrene Kreuzung zu überqueren. Wer über ein schwaches Arbeitsgedächtnis verfügt, so Bittners These, meide unbewusst Situationen, die es herausfordern. Das kann die Pflege sozialer Kontakte sein oder ein anspruchsvolles Freizeitvergnügen – einen Pullover stricken, ein Modellflugzeug zusammensetzen – oder eben eine komplexere Ausdrucksweise in der Sprache. Ich nehme an, sagt Bittner, dass ein schwaches Arbeitsgedächtnis ein ernst zu nehmender Faktor ist, der das Risiko erhöht, an Alzheimer-Demenz zu erkranken.

Eine andere Sprachstudie erhärtet diese Vermutung: Der amerikanische Psychologe David Snowdon befragt seit den 1980er Jahren immer wieder mehrere hundert Nonnen. Diese hatten bei ihrem Eintritt ins Kloster einen Lebenslauf hinterlegt. Diejenigen unter ihnen, die den Text in lebendiger und detailreicher Sprache verfassten, erkrankten später seltener an Alzheimer. Diejenigen, die eine weniger komplexe Sprache verwendeten, waren einem höheren Risiko ausgesetzt.

Messbare Muster in der Sprache, die Jahrzehnte vor Ausbruch der Demenz auftreten, könnten helfen, ein Frühwarnsystem einzurichten. Menschen mit erhöhtem Alzheimer-Risiko hätten so eine Chance, ihr Arbeitsgedächtnis rechtzeitig zu trainieren. Dass die Krankheit ausbricht, könnte wohl auch auf diese Weise nicht verhindert werden. Aber die Patienten könnten den Anfang des Vergessens hinauszögern.

Durch das Fenster eines Osteuropäischen Lokals sieht man ein älteres Ehepaar an einem Tisch sitzen. Die Fenster des Lokals sind mit Fotos von Wein, Desserts und Kaffeebohnen dekoriert. Ein rostbrauner Stromkasten steht zwischen den Fenstern.

UNBEKANNTES TERRAIN

Als die Gärtners ihr Wohnmobil besteigen, liegt Elkes Diagnose zwei Jahre zurück: Demenz. Lothar hatte damals beschlossen, seine Frau so lange wie möglich im gemeinsamen Haus zu pflegen und an ihrer Seite zu bleiben. Jetzt will er eine letzte große Reise mit ihr wagen. Die Fotografin SIBYLLE FENDT begleitet die Gärtners durch halb Osteuropa bis nach Sankt Petersburg und zurück. Ihre Bilder versteht sie nicht als Reisedokumente, sondern als Symbole für eine Fahrt ins Unbekannte.

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