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Meist betrachten wir den Klimawandel als globales Phänomen. Gerade Politiker beziehen sich gerne auf quantitativ messbare Werte: Es geht um Gradzahlen. Der Sozial- und Kulturanthropologe Christian Reichel vom Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung findet, dass die individuelle Wahrnehmung dabei viel zu kurz kommt. Wie etwa nehmen Menschen, die einen sehr direkten Kontakt zur Natur haben, den Klimawandel wahr, welches Wissen haben sie über die Generationen angehäuft – und wie wirkt sich das auf ihren Umgang mit den Veränderungen aus? Um das herauszufinden, reiste Reichel in das Safiental in der Schweiz, eine traditionell geprägte Bergregion im Kanton Graubünden. Dort sprach er mit Wildhütern, einem Schreiner und dem Bürgermeister – und lebte mit Bergbauern unter einem Dach.

Herr Reichel, für Ihre Forschung sind Sie in ein kleines Tal in den Schweizer Bergen gezogen. Wie war das für Sie als Städter?

Ich bin mit meinem alten Volvo ins Tal gefahren. Das Berliner Kennzeichen hat die Leute neugierig gemacht, für sie war ich wahrscheinlich ein total schräger Vogel. Was ist denn das für ein Typ, der da von Hof zu Hof zieht und naive Fragen stellt? Vielleicht hat mir genau das geholfen. Weil die Leute den seltsamen Fremden kennenlernen wollten, waren sie bereit zu Interviews. Ich profitierte von einer Art Schneeballsystem: Eine Person hat mich der nächsten vorgestellt, die mich dann wieder weiterempfohlen hat.

Den Klimawandel assoziiert man meist mit Tsunamis, Stürmen und Dürren in fernen Ländern. Sie waren in der Schweiz unterwegs.

Am Anfang dachte ich auch: Die Alpen, das ist nicht exotisch genug. Ich hatte vorher in Indonesien und anderen außereuropäischen Regionen geforscht und plante einen riesigen Vergleich. Dann wurde mir bewusst, dass ich die Alpen bisher eigentlich nur vom Wandern, Bergsteigen und Snowboarden kannte, als Tourist. Aber es gibt dort auch die Gletscherschmelze mit ihrem gewaltigen Einfluss auf die Wasserversorgung von Norditalien bis nach Bayern. In 70 Jahren werden wohl alle Gletscher abgeschmolzen sein – und die Bewohner bis ins Voralpenland bekommen ein Problem. Diese Dimension machen sich viele gar nicht bewusst. Das Safiental ist eine Kontrastregion zu den durch Massentourismus geprägten Gebieten der Alpen, eine uralte Kulturlandschaft. Auch wenn sich hier gerade vieles ändert, ist die Landwirtschaft noch immer wichtiger als der Tourismus.

In den Interviews habe ich versucht, eine Art Novize zu sein.

CHRISTIAN REICHEL

Christian Reichel sitzt im Gras und streichelt Schafe.

CHRISTIAN REICHEL

recherchierte als Mitarbeiter des interdisziplinären Forschungsprojekts Alpine Naturgefahren im Klimawandel im Safiental, bevor er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung wurde. Mittlerweile forscht der Sozial- und Kulturanthropologe im Forschungszentrum für Umweltpolitik der Freien Universität Berlin.

Das klingt auch nach einem Abenteuer.

Es mag nach Erlebnisreise klingen, ist aber anstrengende Wissenschaft. Ich habe mich von Berlin aus so gut es geht vorbereitet, zu Extremereignissen wie Lawinenniedergängen recherchiert und mich eingelesen zur Entwicklung der Region im geschichtlichen Kontext. Die Landwirtschaft im Safiental ist spannend, weil sie ursprünglich eine Art Mosaik war: Jeder Bauer hatte viele kleine Felder. Erst mit der Technisierung im Jahr 1959 begann man, Land zu tauschen. Es entstanden größere, zusammenhängende Flächen und die mosaikhafte Landschaft verschwand. So konnte man viel schneller und effizienter landwirtschaftliche Güter erzeugen. Gleichzeitig ging aber auch die Vielfalt der Habitate verloren, die es hier vorher auf engstem Raum gab.

Inwiefern ist das problematisch?

Wenn es beispielsweise viele Wälder oder Hecken gibt, die Äcker voneinander trennen, werden die Übergangsbereiche von Vögeln besiedelt. In monostrukturellen Gebieten gibt es meiner Ansicht nach weniger Raum für breite Biodiversität.

Die Modernisierung hat der Gegend also geschadet.

Das greift zu kurz. Der Wandel hat auch zu einer Reduktion der Armut geführt. Dass man früher auch im hintersten Gebirgshang die Wiesen mähen musste, um so viel Heu wie möglich zu ernten, war keine Romantik, sondern ökonomischer Druck: Nur so konnte man die Familie durch den Winter bringen. Es war eine strenge Zeit, in der man die Ernte nur in großen Verbänden bewältigen konnte. Dazu kommt, dass Tradition und Moderne gar nicht im Widerspruch stehen. Kultur bedeutet per Definition ja auch Wandel: Ständig werden neue Wissenselemente integriert. Ja, mancher Bauer trägt Rauschebart und greift zur Sense, um Gras am Steilhang zu ernten. Auf seinem Smartphone hat er dafür eine schnellere Internetverbindung als ich in Berlin. Diese Vernetzung eines durch das lokale Erfahrungswissen mehrerer Generationen geprägten Naturzugangs und der Offenheit gegenüber technischen Innovationen macht das Safiental spannend.

Wie bewerten die Menschen im Safiental den Klimawandel?

Das Thema Klimawandel habe ich nie direkt angesprochen, denn alleine das Wort ist hochgradig emotional aufgeladen. Aber die ganze Schweiz stellt sich ja trotzdem Fragen: Wie umgehen mit den immer häufiger vorkommenden Erdrutschen, die ganze Dörfer bedrohen? Und wie, mit der Gletscherschmelze, die ja auch die Trinkwasserversorgung beeinflusst? Das Safiental ist vor allem durch Hangrutsche und Lawinen betroffen. Also habe ich nach dem Wetter gefragt, nach der Form der Landwirtschaft früher und heute, und wie sich die Waldgrenze in den vergangenen 30 Jahren verschoben hat. Dabei versuche ich in meinen Interviews immer, eine Art Novize zu sein, stelle Fragen und will lernen. Die Leute reagieren offenherzig auf diese Haltung. So sind auch Freundschaften entstanden, mit einem mittlerweile 80 Jahre alten Schreiner im Dorf Tenna beispielsweise. Er kam mich Monate später auch einmal in Berlin besuchen, das war schon toll. In der Schweiz hatte ich ihn mit Fragen gelöchert und zum Erzählen gedrängt. Jetzt konnte ich ihm meine Lebenswelt zeigen: die Großstadt Berlin.

Schneebedeckte Berglandschaft, kleine verschneite Hütten, eine Nebelschicht durchzieht die ansonsten sonnige Landschaft.
Ein Kirchturm erscheint hinter einem verschneiten Hügel, wolkenverhangener Himmel.

Wie haben Sie entschieden, mit wem Sie sprechen?

Ich habe von Berlin aus erst einmal eine Akteursanalyse gemacht. Das heißt: Man schaut sich die Region an und überlegt, welche Schlüsselinformanten es geben könnte und wer mit wem in Beziehung steht und für welche Fragen ein besonders wichtiger Ansprechpartner ist. Der Pfarrer und der Bürgermeister sind vielleicht sehr gut vernetzt und können mir helfen, die informellen Strukturen vor Ort zu begreifen, Beziehungsgeflechte und Hierarchien beispielsweise. Der Wildhüter beobachtet schon seit Jahrzehnten die Natur und besitzt selbst viel Erfahrungswissen.

Warum ist ein Wildhüter wichtig, um den Klimawandel zu verstehen?

Es geht mir darum, lokale Resilienzen für dieses globale Problem zu erforschen. Im Safiental spielen sogenannte Bannwälder eine große Rolle. Als die ersten Siedler in das Tal kamen, hat man überall gesiedelt, wo es gerade passte. Dann kamen Lawinen und manche Weiler wurden zerstört, andere nicht. So haben die Leute über die Jahrhunderte Erfahrungswissen gesammelt: Sie wissen, wo man Häuser bauen kann, wo der Wald Lawinen abhält und wie dicht er wachsen muss, um dem Druck des Schnees standzuhalten. Der Wildhüter weiß um die schützende Wirkung der Bannwälder und auch, wie man sie pflegen muss, damit sie ihre Aufgabe erfüllen.

Ist dieses Erfahrungswissen verlässlich?

Es ist erstaunlich präzise und hilfreich. Aber es kennt auch seine Grenzen. Der Wildhüter erzählte mir von einem sehr strengen, harten Winter 1951 mit vielen Toten im gesamten Alpenraum. Im Safiental war eine Lawine besonders dramatisch, weil niemand erwartet hatte, dass sie so tief ins Tal vordringen würde. Die Katastrophe hat eine ganze Familie ausgelöscht, nur ein Kind hat überlebt hat. In dieser Gegend, in der jeder jeden kennt, war diese Lawine ein traumatisches Ereignis, das die regionale Geschichte noch immer prägt – bei Feiern und am Stammtisch ist das Unglück bis heute ein Thema. Damals haben manche entschieden: Hier können wir nicht mehr leben, wir ziehen weg!

Sie haben nicht nur mit den Menschen gesprochen, Sie haben auch auf einigen Höfen mitgearbeitet.

Das kam erst, nachdem ich mir einen guten Überblick verschafft hatte. Man nennt diese wissenschaftliche Methode Teilnehmende Bobachtung. Sie basiert auf Netzwerken, die man vor Ort erst einmal etablieren und fortlaufend weiterentwickeln muss. Am Anfang habe ich mich auf eine strukturierte Begehung fokussiert, habe also die verschiedenen Regionen fotografiert, Skizzen angefertigt, mir besondere Merkmale notiert und einen kartografischen Ansatz verfolgt. Die Menschen vor Ort halfen mir, indem sie auf Karten, die ich ihnen mitgebracht hatte, landschaftliche Besonderheiten einzeichneten oder Wissenswertes vermerkten. Dadurch habe ich auch erfahren, dass manche Gebirgshänge noch immer bewirtschaftet werden – nicht um Gewinn zu machen, sondern um die Kulturlandschaft zu erhalten. Weil die Familien im Safiental seit Jahrhunderten von der Natur abhängig sind, haben sie ein extremes Bewusstsein dafür entwickelt, dass jeder menschliche Eingriff für die Landschaft tiefere Folgen hat. Letztendlich entschied ich mich gezielt für drei Höfe, auf denen ich dann länger mitarbeitete.

Verliert man mit der Zeit die kritische Distanz?

Das ist sicher ein Risiko. Durch die Mitarbeit wird der Bezug zum Thema immer tiefer. Wo ich länger mitarbeiten konnte, habe ich dafür Alltagssituationen viel differenzierter wahrgenommen. Zum Beispiel sprechen wir Deutsche ja sehr oft im Imperativ: Gib mir mal bitte die Butter! Das gilt im Safiental als grob unhöflich. Dort formulieren die Leute viel indirekter. Eher: Magst du mir mal bitte die Butter geben? Das ist mir nur aufgefallen, weil ich lange Zeit mit den Menschen verbracht habe, sowohl auf dem Feld, als auch anschließend beim Abendessen. Trotzdem ist es wichtig, aus dieser sehr subjektiven Situation auch wieder herauszutreten. Da hat es mir geholfen, mich am Abend hinzusetzen und meine Gedanken aufzeichnen, in Videoprotokollen, Audiomemos oder Tagebucheinträgen. Manchmal habe ich auch einen Kollegen angerufen. Das hilft, objektiv zu bleiben.

Das Erfahrungswissen der Menschen im Tal ist erstaunlich präzise.

Blick von oben auf grüne, sonnenbeschienene Felder, Wald, vereinzelte Häuseransammlungen und Straßen.
Blick ins Safiental. Im Sägewerk werden Bretter fürs Schulgebäude von Tenna zugeschnitten.
Mann mit gelbem Sonnenhut und und blauem Arbeitshemd neben einem Baumstamm vor einem Gebäude aus Holz.

Einmal musste ich in der Kammer über dem Stall schlafen.

Gerieten Sie auch in Konflikte?

Einmal kippte die Stimmung so sehr, dass ich den Hof verließ. Ich hatte es gewagt, mich mit der Mutter anzulegen. Sie hatte meinem Empfinden nach viel zu pauschal über Ausländer gesprochen und ich habe deutlich gemacht, dass ich das nicht in Ordnung finde. Es ist wohl ein Tabubruch, der Gastmutter so zu widersprechen. Jetzt kann ich darüber lachen, aber vor Ort war das ein heftiges Erlebnis. Auch, weil ich mir eingestehen musste: In dieser Situation bin ich grandios gescheitert, habe die Dinge vielleicht zu unsensibel interpretiert und falsch reagiert. In einer anderen Situation hatte ich mit einem Bauern ausgemacht, dass ich am frühen Abend ankomme und auf seinem Hof übernachte. Aber ich bin nicht früh genug losgefahren und kam erst nach zehn Uhr abends dort an. Eigentlich eine moderate Zeit, wenn man Berlin gewohnt ist, aber dort waren alle schon im Bett. Das war ein totales No-Go, denn die Leute müssen ja in aller Früh aufstehen, um die Tiere zu versorgen. Entsprechend schmallippig hat mich der Bauer begrüßt – und zum Schlafen in eine Kammer über dem Stall verwiesen. An dieser Stelle muss ich aber betonen, dass ich im Safiental alles in allem außergewöhnlich herzlich aufgenommen worden bin!

Wieso war Ihnen der enge Kontakt zu den Menschen im Safiental so wichtig?

Einfach ankommen und sagen: Ich setze mich jetzt mal mit an den Mittagstisch und schaue, wie ihr miteinander esst und sprecht, das geht nicht und wäre wohl überall auf der Welt grob unhöflich. Zunächst bin ich zwar Forscher, da bleibt immer eine gewisse Distanz. Wenn ich aber länger am Alltag teilhabe, gewöhnen sich die Leute an mich und ich kann ihr echtes Leben besser kennenlernen. Das ist für mich besonders wichtig, weil ich mit der Methode der partizipativen Kartierung arbeite.

Was hat es mit der Methode auf sich?

Ich versuche, die subjektive Raumwahrnehmung der befragten Informanten zu erfassen und zu visualisieren. Die Menschen haben dort schon jetzt ein viel größeres Bewusstsein für Phänomene wie die Gletscherschmelze als andernorts. Denn die könnte direkte Folgen für ihre Wasserversorgung haben. Meine Erkenntnisse und Informationen habe ich später mit Fotos und Videos in eine multimediale Karte übertragen.

Was haben Sie durch Ihre Forschung gelernt?

Klimawandel sieht nicht überall gleich aus, selbst wenn seine Folgen sich teilweise ähneln. Es lohnt sich, die soziokulturelle Ebene zu betrachten und zu fragen: Wie können wir Menschen helfen, regionale Resilienz aufzubauen oder zu stärken? Und wie kann ich regionales Erfahrungswissen institutionalisieren? Ich bin überzeugt, dass wir lokale Strukturen besser nutzen müssen, um Umweltkrisen wie der Erderwärmung und dem Schwund der Biodiversität etwas entgegenzusetzen. Ja, wir brauchen globale Maßnahmen. Aber eben auch Lösungen auf lokaler Ebene.

Porträt von Christian Reichel mit Mütze, Sonnenbrille und grüner Outdoor-Jacke vor verschneitem Bergpanorama.
Die Alpen kannte Christian Reichel zuvor vor allem vom Bergsteigen ...
Grau Weiße Gletscher-Landschaft.
... für ein Forschungsprojekt recherchierte er unter anderem im Schweizer Oberengadin. Auf dem Bild: der Gletscher Morteratsch.
Kühe und eine Person an einem sonnigen Wiesenhang.
Es liegt in einer nach wie vor stark landwirtschaftlich Region mit relativ wenig Tourismus.
Ein Mann beugt sich mit einer Lupe über eine Landkarte, am Tisch sitzen auch eine Frau und ein Junge.
Mit den Menschen im Tal sprach Reichel darüber, wie sie mit Klimaveränderungen umgehen, um so lokales Umweltwissen zu erfassen - das Antworten auf den globalen Klimawandel geben könnte.
Umgefallener Baum im moosigen, felsigen Wald.
Interessant sind hierbei beispielsweise sogenannte Bannwälder, die traditionell vor Lawinen und Murengängen schützen. Der Wald auf dem Bild steht mittlerweile übrigens streng unter Schutz - und ist sagenumwoben. Bei den riesigen Felsbrocken handelt es sich einer alten Legende nach, um Steine, die der Teufel verloren hat, als er die Kirche von Thalkirch zerstören wollte.
Mann sitzt mit einer Axt an einem Hang, neben ihm ein kleiner Nadelbaum, im Hintergrund gefällte Bäume am Waldrand.
Hangpflege: Um die Weiden und ihre Ökostysteme vor zu starker Verwaldung zu schützen, halten die Menschen im Tal die Steilhänge frei von Buschwerk. So soll auch die mosaikhafte Struktur der Kulturlandschaft erhalten werden.

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