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Es gibt Schiffe und es gibt Freizeitparks mit Schiffsschraube. Bei der »Wonder of the Seas« ist die Sache eindeutig: 19 Pools, ein Fun-Park mit Kletterareal, Surfsimulator, Lasertag-Halle, Eisbahn, eine Wasserrutsche über zehn Decks, Flachbildfernseher über jedem Kinderbett. Ein Kreuzfahrt-Koloss, fünfmal so groß wie die Titanic. Das Urlaubsvergnügen für knapp 8.000 Passagiere erstreckt sich auf 18 Etagen.

Die »Wonder of the Seas« ist also ein Traumschiff – zumindest für diejenigen, die das Riesenangebot in Anspruch nehmen und an einer der zwölf Bars Cocktails schlürfen. Doch wie sieht der Alltag für die aus, die anschließend die Gläser spülen, die Arbeitskräfte, die nur ein paar Decks tiefer schlafen, aber in einem ganz anderen Universum leben? Hinter der weißen Fassade der Kreuzfahrtschiffe verbirgt sich eine Arbeitswelt, von der die meisten Passagiere nichts ahnen und von der sie vielleicht auch nichts wissen wollen.

Katharina Bothe will es genau wissen. Die Kulturwissenschaftlerin arbeitet am Deutschen Schifffahrtsmuseum, dem Leibniz-Institut für Maritime Geschichte in Bremerhaven. »Klimakiller Kreuzfahrt«, »Umweltsünde Ozeandampfer« – immer wieder steht die verheerende CO2-Bilanz der Branche im Blickpunkt. Dabei bleiben die Menschen, die an Board arbeiten und das Rückgrat der Vergnügungsindustrie bilden, oft namenlose Randfiguren. Bothe hat eine Forschungslücke ausgemacht: Als einzige Wissenschaftlerin im deutschsprachigen Raum beschäftigt sie sich derzeit mit den Arbeitsbedingungen in der Kreuzfahrtbranche.

Drei Tänzerinnen tanzen vor auf Sonnenliegen liegenden Passagieren eines Kreuzfahrtschiffs.

Menschen mit unterschiedlich gefülltem Geldbeutel begegnen sich auf engstem Raum.

Kreuzfahrtschiffe sind ein faszinierender Mikrokosmos. Menschen aus mehr als 100 Nationen und mit sehr unterschiedlich gefülltem Geldbeutel begegnen sich hier auf engstem Raum, sagt Bothe. In den kommenden Monaten wird die Postdoktorandin Reisetagebücher lesen, Archivdokumente wälzen, sich Forschungsarbeiten, Zeitungsartikel und Social-Media-Einträge anschauen, um die Muster sozialer Ungleichheit besser zu verstehen. Anfang des Jahres hat Bothe ihren Arbeitsplatz deshalb von dem Leibniz-Forschungsmuseum in Bremerhaven an die University of Cambridge und das Newnham College verlegt. Ein halbes Jahr wird sie mithilfe eines Stipendiums vom Deutschen Akademischen Austauschdienst in den bekanntesten Archiven und Bibliotheken im Vereinigten Königreich recherchieren.

Kürzlich ist ihr eine Crewliste von 1850 in die Finger gefallen. Ein Blatt Papier aus der Pionierzeit der Vergnügungsfahrten. Links die Spalte mit dem Schiffsnamen, rechts daneben die Unterteilung in »Europeans« und »Natives«. Mit Rotstift sind immer wieder Zahlen durchgestrichen und korrigiert. Ein Koch an Board weniger, zwei Ingenieure mehr. 

Für die Kulturwissenschaftlerin liefert das historische Dokument Anhaltspunkte für die zentralen Ausgangsfragen ihrer Habilitationsarbeit: Welche Bedeutung spielt die Ethnie und Nationalität der Crew-Mitglieder für ihre Aufgaben auf dem Schiff? Welche stereotypischen Geschlechterrollen begegnen uns an Bord? Können Gewerkschaften die Arbeitsbedingungen nachhaltig verbessern?

Mehr als 70 Prozent der Belegschaft stammt aus Entwicklungs- und Schwellenländern. Eine Nation taucht in den Crewlisten auffallend oft auf: die Philippinen. Kein Land stellt so viele Seefahrer wie der Inselstaat im Westpazifik. Wobei »Seefahrer« eine ungenaue Beschreibung ist. Filipinos arbeiten fast ausschließend an der Bar, in der Küche oder im Kabinenservice. Besser bezahlte Anstellungen, zum Beispiel Manager im Hotelsektor oder im maritimen Bereich Kapitän, Offizier oder Ingenieur, sind in den allermeisten Fällen Angestellten aus Industrieländern vorbehalten. Jedes fünfte Crew-Mitglied ist weiblich, Frauen sind dabei überwiegend im Servicebereich tätig. Diese Zahlen hat ein Forscherteam der Universität Cardiff ermittelt und 2000 veröffentlicht. Aktuellere Daten gibt es leider nicht. Intransparenz ist ein großes Problem in der Branche, sagt Bothe.

Eine Reinigungskraft putzt an Bord eines Kreuzfahrtschiffs.

Im Fokus ihrer Forschung steht der historische Vergleich zwischen Großbritannien und Deutschland seit dem 19. Jahrhundert bis heute. Zwei Nationen, die das Kreuzfahrtschiff früh als Vehikel des Massentourismus für sich entdeckten. Bis zum Spätsommer wird Bothe noch Daten sammeln. Dann wird sie ihren Schreibtisch für mehrere Wochen gegen eine Kajüte eintauschen – zur ethnografischen Feldforschung auf Hoher See.

Neben der Forschung an Deck sind auch Interviews mit Passagieren und Arbeitskräften geplant. Bei der Kontaktaufnahme zu ihren Gesprächspartnerinnen und -partnern sind Gewerkschaften und Online-Foren erste Anlaufstellen. Nach dem Schneeball-Prinzip knüpft die Kulturwissenschaftlerin ein Netzwerk: Ich habe kürzlich zum Beispiel mit einem deutschen Chefkoch gesprochen, der mir im Nachgang angeboten hat, mich mit weiteren Crew-Mitgliedern aus anderen Ländern in Verbindung zu setzen.

Keine Reederei wird Themen wie Lohndumping und prekäre Beschäftigungsverhältnisse offen eingestehen. Trotzdem wird die Forscherin einzelne Reedereien kontaktieren, um auch ihre Perspektive zu erfragen.

Dass Bothe ein Schiff mit schwarz-rot-goldener Fahne am Heck besteigen wird, ist ausgeschlossen. Keines der rund 30 deutschen Hochsee-Kreuzfahrtschiffe fährt unter deutscher Flagge. Reedereien melden ihre Schiffe im Ausland an, um ihre Besatzungsmitglieder zu Niedriglöhnen beschäftigen zu können und Steuern zu sparen. So hat die Rostocker Reederei Aida Cruises alle ihre 14 Schiffe in Italien registriert. Dort müssen Schiffseigner keine Lohnsteuer auf Crewgehälter abführen. Tui Cruises sitzt zwar in Hamburg, an Deck weht aber die Flagge von Malta. Bei der »Wonder of the Seas«, dem Giganten der Superlative, werden die Wege noch verschlungener. Das Schiff gehört einer liberischen Unternehmensgruppe mit Hauptsitz in Miami und fährt unter der Flagge der Bahamas.

An Bord gelten dann immer die Gesetze des Flaggenlandes. Durch das sogenannte Ausflaggen umgehen Reedereien nationales Arbeitsrecht und sparen Millionensummen. Malta etwa verlangt auf Einkommen aus dem Schifffahrtsverkehr keine Steuern. Auch die Quotenregelung für Beschäftigte aus EU-Ländern entfällt, wenn Valetta, also die Hauptstadt des Inselstaates im Mittelmeer, als Heimathafen eingetragen ist.

Kreuzfahrten sind Teil des Massentourismus, der Kostendruck ist enorm hoch. Die Anbieter versuchen zu sparen, wo es nur geht, daher kommt der Kniff mit den Billigflaggen, sagt Bothe. Entsprechend niedrig sind die Gehälter der Belegschaft. Gewerkschaftsvertreter sprechen von Löhnen zwischen drei und fünf Dollar pro Stunde. Die Einschätzung deckt sich mit den Unterlagen, in die Bothe bisher Einsicht hatte.

Keine Reederei wird Themen wie Lohndumping offen eingestehen.

Wir sehen auf den Schiffen koloniale Abhängigkeitsverhältnisse im neuen Gewand.

KATHARINA BOTHE

Portrait der Kulturwissenschaftlerin Katharina Bothe vom Deutschen Schiffahrtsmuseum in Bremerhaven.

Immerhin ist seit 2006 die sogenannte Maritime Labour Convention in Kraft, die auch für Kreuzfahrtschiffe weltweit bindend ist. Sie definiert Mindeststandards für die Schifffahrt und beschränkt beispielsweise die tägliche Arbeitszeit auf 14 Stunden, die Wochenarbeitszeit auf 72 Stunden und stellt Mindestanforderungen an die Größe sowie den Komfort der Crewunterkünfte. Trotzdem häufen sich weiter die Berichte über verdreckte und beengte Kabinen und Rund-um-die-Uhr-Arbeit. Hinter vorgehaltener Hand heißt es: Das Einzige, was sich verändert hat, ist, dass die Reedereien ihre Regelverstöße heute besser verstecken müssen.

Beschäftigungsmodelle, die mehr Ausbeutung als Anstellungsverhältnis sind, haben Methode in der Kreuzschifffahrt. Ungerecht ging es dabei schon immer zu. Als 1844 die »Lady Mary Wood« am Hafen von Southampton ablegt, das Mittelmeer durchkreuzt und einer erlebnishungrigen Oberschicht die Küsten von Malta, Gibraltar und Alexandria zeigt, ist das die Geburtsstunde einer Freizeitindustrie. Es etablieren sich Linienschiffe, die über den Atlantik schippern. Eine Luxusreise für die zahlungsfreudigen Passagiere in der ersten Klasse, die sich im Oberdeck vergnügen. In der zweiten und dritten Klasse reisen eng zusammengepfercht im Zwischendeck europäische Migranten, die sich in Amerika ein besseres Leben erhoffen. Diese Expansionsphase dauert bis zum Ende des Ersten Weltkriegs.

1921 verschärfen die Vereinigten Staaten die Einwanderungsgesetze. Aus Auswandererschiffen werden mehr und mehr Urlaubsdampfer. Die Zahl der ausländischen Crew-Mitglieder steigt sprunghaft an. Ab den 1970er Jahren beginnt eine Zeitspanne, die Bothe als »Boomphase« bezeichnet. Die geringen Löhne für die Angestellten an Bord tragen dazu bei, dass Kreuzfahrten heute für viele erschwinglich sind. 2019, im Jahr vor der Pandemie reisten weltweit knapp 30 Millionen Passagiere mit einem Kreuzfahrtschiff. Wir sehen auf den Schiffen koloniale Abhängigkeitsverhältnisse im neuen Gewand. Der Arbeitsmarkt ist dabei eine einzige Grauzone, sagt Bothe.

Die Pandemie hat die Branche von einem auf den anderen Tag lahmgelegt. Mit fatalen Folgen für die Beschäftigten. Jüngstes Beispiel: P&O Ferries. Die Reederei, die Marktführer für Fährverbindungen zwischen Dover und Calais ist. Ende März kündigt P&O Ferries ohne Vorankündigung 800 Beschäftigten per Video-Call. Plötzlich war ein Sicherheitsdienst mit Handschellen da und eskortierte Seeleute von den Schiffen, berichtet die englische Presse. Sie sollen nun durch billige Arbeitskräfte aus dem Ausland ersetzt werden. Bothe hat die Berichterstattung von Cambridge aus verfolgt. In ihren Augen wird die Pandemie oft als Rechtfertigung für Entlassungen und Lohnkürzungen genutzt.

Bothe will sich die Entwicklungen jetzt genau anschauen, an Bord der Gigaliner mit den Billigflaggen und in den engen Crewkabinen ohne Fenster. Sie will unvoreingenommen bleiben. Sicher ist sie sich nur, dass sie nach ihrer Exkursion Urlaub machen wird. Und das nicht auf dem Kreuzfahrtschiff. 

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