Ob Stadtporträt oder Trachtenfoto: Mit der Erfindung der Postkarte begann Ende des 19. Jahrhunderts der Siegeszug eines visuellen Massenmediums. Welche Bilder und Klischees transportierten die handgeschriebenen Kurznachrichten und Urlaubsgrüße und wie beeinflussten sie das Denken der Zeit? Maren Röger vom Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) hat es am Beispiel einer Region ganz im Osten des früheren Habsburger Reichs untersucht: der Bukowina.
LEIBNIZ Frau Röger, wo liegen die Ursprünge der Ansichtskarte?
MAREN RÖGER Die goldene Ära der Postkarte begann gegen Ende des 19. Jahrhunderts und reicht bis ungefähr 1918. Ansichtskarten zu schreiben, zu verschicken und zu sammeln, war damals weltweit äußerst beliebt, und auf jeden verschickten Gruß kam eine weitere, nicht verschickte Postkarte, die im Album landete. Kurz: Es herrschte eine Art Postkartenfieber, noch lange bevor Zeitungen, Zeitschriften, Plakate und das Telefon aufkamen.
Worauf gründete die Erfolgsgeschichte der Postkarte?
Dieses erste visuelle Massenmedium machte es möglich, sich große Teile der Welt über das eigene Sammelalbum visuell anzueignen. Der Austausch exotischer Ansichten ließ fremde Welten näher rücken, und alle Bevölkerungsschichten konnten daran teilhaben. Im Vergleich zum Telegramm waren Postkarten nämlich sehr günstig und einfach zu handhaben: Während die hohen formalen Standards einer Brief-Korrespondenz nur dem bessergestellten Bürgertum vertraut waren, konnte man beim Kartenschreiben nichts falsch machen. Übrigens beschrieb man anfangs nur die Bildseite, weil die Rückseite dem Adressfeld vorbehalten war.
Was verrät diese frühe Form der Nachrichtenübermittlung über die damalige Zeit?
Was um die Jahrhundertwende notiert wurde, eröffnet uns heute rare Einblicke in die Alltagskultur, über die man viel zu wenig weiß, weil kaum alltägliches Schriftgut überliefert ist. Lapidare Sätze wie »Komme morgen 14 Uhr an«, »Habe mir zwei Anzüge gekauft« oder »Was für eine schöne Stadt!«, die von jungen Rekruten fern der Familie oder von Kurgästen stammten, dienten dem knappen Informationsaustausch. Eine Funktion, die später das Telefon übernahm. Weil mit dem Ausbau der Eisenbahn auch der Tourismus aufkam, wurden Ansichtskarten zunehmend auch als Werbemittel für die Region eingesetzt.
Weshalb haben Sie primär Ansichtskarten aus der Bukowina in den Blick genommen?
Mich faszinieren diese Karten als visuelle Protokolle des Habsburger Imperiums an der Peripherie, die viel darüber verraten, wie diese Region damals wahrgenommen – und wie deren regionale Identität als Armenhaus der Monarchie geprägt wurde. Dann stieß ich auf eine Privatsammlung von Ansichtskarten. Weil ich dieses Material sehr spannend fand, wurde es schließlich zur Basis meines Buchprojekts »Karten in die Moderne«.
Untersuchen Sie dabei sowohl die Bild- als auch die Textseite der Karten?
Ja, denn zum einen geben die Motivauswahl und -gestaltung Aufschluss darüber, auf welche Art und Weise die Region von den Postkartenverlegern damals ins Bild gesetzt wurde. Und zum anderen zeugen auch die Grüße und Kurztexte auf der Rückseite von einem spezifischen Umgang der Gesellschaft mit Nationalisierung und Multiethnizität, der für das Europa von damals zeittypisch war.
Welches Bild der Region zeichnen die Postkarten?
Ein Aspekt ist die ambivalente Modernisierungsgeschichte der Bukowina, die hier zum Ausdruck kommt. So spiegeln viele Postkarten den erfolgreichen imperialen Ausbau der städtischen Infrastruktur wider: neu erbaute kaiserlich-königliche Bahnhöfe, Schulen und Poststationen, die für die Dominanz des Habsburger Reiches stehen. Andere Motive dagegen thematisieren die vermeintliche Rückwärtsgewandtheit der Region und bilden sogenannte Volkstypen ab – stilisierte Porträts der Landbevölkerung samt bäuerlicher Trachten.
Heißt das, die Bukowina sah in der Realität ganz anders aus?
Tatsächlich galt das Kronland Bukowina als strukturschwächste Verwaltungseinheit, in die es nur wenige Touristen verschlug. Aber zugleich lebten viele unterschiedliche Ethnien zusammen, die nur teilweise auf den Karten abgebildet sind. Was fehlt, sind Abbildungen bürgerlich gekleideter Menschen, die aber auf die Adressaten in der Heimat vermutlich nicht exotisch genug wirkten.
Findet sich dieses verzerrte Bild auch in den Texten wieder?
Nicht selten wird da im Stil von Entdeckungsreisenden die überfällige Modernisierung vor Ort moniert und in Zweifel gezogen, ob sich die Bukowina jemals ins Imperium integrieren lässt. Viele Kartenschreiber wähnten sich gar im Orient, nannten die Einheimischen »komisch« und »rückständig« und nutzten ironische Abschiedsformeln wie zum Beispiel »Herzliche Grüße aus Halbasien«.
Und was verrät diese Voreingenommenheit über die damalige Gesellschaft?
Um die Jahrhundertwende lässt sich eine Art Typisierungsrausch beobachten, von dem auch die Fotografie stark geprägt war. Die klassifizierende Methoden der Volkskunde wurden breit angewandt. Problematisch ist, dass damit eine Tendenz zur Entindividualisierung einherging. Zum Beispiel griffen Postkarten-Verleger häufig auf Fotos von Hochzeitspaaren aus der Region zurück, die in der Bildunterschrift als »ruthenische« – also ukrainische – Bauern bezeichnet wurden, ohne dass man mehr über sie erfährt, etwa ihren Namen oder Beruf.
Waren diese Karten also nicht zuletzt Ausdruck des aufkommenden Nationalismus?
Zumindest wirkte das dahinterstehende Konzept von Volkstypen, das massenmedial verbreitet wurde, wie ein Katalysator, der das Denken in nationalen und ethnischen Kategorien nachhaltig befördert hat. Aufschlussreich waren in diesem Kontext übrigens auch Postkarten mit ambivalenten Signalen, also wenn etwa das Deutungsangebot der Bildseite im Text zurückgewiesen wird. So wie im Fall einer Ansichtskarte, deren Absender die Hauptstadt der Bukowina als äußerst unzivilisierten Ort beschreibt, obwohl das Fotomotiv Czernowitz als überaus moderne Stadt präsentiert. Ein anderes Beispiel sind Karten mit klar antisemitischen Motiven, die mal in der Textnachricht aufgegriffen, in einigen Fällen aber auch gar nicht kommentiert wurden, was diesen Antisemitismus aus heutiger Perspektive seltsam beiläufig wirken lässt.
Erfüllen elektronische Bild- und Textnachrichten heute eigentlich ähnliche Funktionen wie die Kurzkommunikation von damals?
Im Grundsatz ja. Die Chance, unabhängig vom sozialen Milieu die Welt über Abbilder zu erfassen, persönliche Eindrücke zu teilen und den eigenen sozialen Status demonstrieren zu können, machen beide Formate möglich: ob man auf der Postkarte den Liegestuhl am Pool einkringelt oder per WhatsApp ein Beweisfoto des Hotelzimmers verschickt.
Welche Parallelen und Unterschiede nehmen Sie wahr?
Erstaunlich ist, dass die Postkarten damals auch schon sehr stark retuschiert wurden – und zwar ohne die aufwendige Filtertechnik von heute. Mal war es der Mondschein, der nachträglich hineinmontiert wurde, mal eine Gruppe von Personen, um eine Straßenszene dramatischer oder lebendiger wirken zu lassen. Auch bei der Motivwahl ist man dank des Smartphones heute zwar theoretisch völlig frei, sich ein eigenes Bild von der Welt zu machen, um dieses mit anderen zu teilen. Aber in der Praxis werden individuelle Gestaltungsspielräume nur selten ausgeschöpft. Denn was in sozialen Medien zu dominieren scheint, sind Selfies, kombiniert mit Ansichten, die bereits millionenfach fotografiert worden sind. Im Vordergrund scheint eher der Evidenzcharakter zu stehen, der Beleg, an Orten gewesen zu sein, die auf möglichst viele Menschen attraktiv wirken.
Ist die klassische Ansichtskarte vom Drehständer am Urlaubsort Ihrer Meinung nach ein Auslaufmodell?
In diesem Punkt wird es vermutlich vielen Menschen ähnlich gehen: Im digitalen Zeitalter verbindet man mit Grüßen, die handschriftlich verfasst wurden, eine besondere Wertschätzung, allein schon deshalb, weil damit ein viel größerer Aufwand verbunden ist als mit dem Versenden einer SMS, die schnell getippt ist. Ich selbst verschicke immer mal wieder Ansichtskarten, für die ich mir gerne Zeit nehme. In solchen Momenten wird einem bewusst, dass es keineswegs trivial ist, auf engstem Raum wenige, aber persönliche Worte zu finden, um ein Gegenüber zu erreichen, das nicht vor Ort ist.