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Sechs, vielleicht sieben Jahre ist es her, da hatte Martin Husemann einmal mehr dieses Hier-ist-irgendwas-komisch-Gefühl. Er war mit seinem Team unterwegs im Iran. Auf der Suche nach neuen Arten waren sie stundenlang über ein Hochplateau in der Provinz Ghom gefahren, immer tiefer in eine Salzwüste hinein. Nun sind Salzwüsten nicht gerade bekannt für ihre Artenvielfalt; einige scheinen sogar eher Krieg gegen jedes Leben zu führen. In der Dasht-e Kawir etwa – der berühmtesten Salzwüste Irans – flimmert die Luft an Sommertagen mehr als 50 Grad Celsius heiß, in den Nächten schneidet sie kalt in die Lunge. Die Temperaturen schwanken innerhalb von 24 Stunden um bis zu 70 Grad.

Nur einige Autostunden westlich von dort waren Husemann und sein Team unterwegs, als sie an den Ausläufern einer Bergkette inmitten der Wüste auf eine Insel des Lebens stießen. Husemann entdeckte dort Heuschrecken, die anders waren als alle, die er bisher gesehen hatte. Später bestätigte die Analyse des Erbguts: eine völlig neue Art!

Ich glaube, alle Taxonomen kennen diese Intuition, dass an einem Fund irgendetwas anders ist, die einen auf die richtige Spur bringt, sagt Martin Husemann. Der 39-Jährige leitet die Sektion »Hemimetabola & Hymenoptera« am Museum für Natur Hamburg, das sich im Sommer 2021 mit dem Zoologischen Forschungsmuseum Alexander Koenig in Bonn zusammengeschlossen hat. Dem neuen Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB) geht es unter anderem darum, die Artenvielfalt des Planeten besser zu kartieren; also exakt festzuhalten, welche Arten es gibt und in welchen Regionen der Erde sie vorkommen. Bei den Insekten zum Beispiel sind erst rund eine Million Arten beschrieben – obwohl wenigstens fünfmal so viele existieren dürften. Einigen Schätzungen zufolge könnten es sogar bis zu 30 Millionen sein.

Forscher wie Martin Husemann entdecken neue Arten auf zwei möglichen Wegen. Entweder sie gehen ins Feld, wie damals in der Salzwüste im Iran. Solche Reisen sind wichtig. Sie verschlingen aber auch viel Geld und Zeit, und am Ende kann es sein, dass ein Team mit 100 neuen Arten zurückkommt – oder mit kaum einer Neuigkeit. Der andere Weg führt weder in Wüsten noch in den Wald, sondern tief in von Regalen gesäumte Räume. Seit mehr als 100 Jahren sammeln Naturforschende Heuschrecken, Fische, Schildkröten, aber auch Greifvögel und Wildkatzen, die seitdem in Sammlungen rund um den Globus lagern – zum Beispiel in Hamburg und Bonn. Ein großer Teil dieser Funde ist bis heute nicht bestimmt worden.

Ein konservierter Schmetterling.
Heuschrecken in einem Glaskasten, bei einigen ist der linke Flügel ausgeklappt.

Wir können noch wahre Schätze finden.

MARTIN HUSEMANN

Da gibt es noch eine ganze Menge zu tun, sagt Husemann. Fast jeden Tag geht er in den Archiven auf Spurensuche, vorbei an Dutzenden Regalmetern mit Holzschubladen, auf denen bunte Etiketten kleben. Buchstabenund Zahlencodes weisen darauf hin, welche Funde darin lagern – oder ob der Inhalt noch bestimmt werden muss.

Öffnet Martin Husemann eine Schublade, liegen darin teils 100 Jahre alte Insekten, so farbenfroh und frisch – jedes Käsebrötchen in der Kantine wirkt älter. Die Tiere sind mit einer Nadel fixiert. Sie wurde durch den Schwerpunkt des Körpers gestochen, bei Insekten meist durch den Rücken, knapp unterhalb des Kopfes. Vielen wurde ein Flügel ausgeklappt, oft der linke, der andere eng an den Körper gefaltet. So lässt sich beides untersuchen: die aufgespannte genauso wie die ruhende Gestalt.

Wenn weder Licht noch andere Einflüsse dem Material schaden, bleibt es über Jahrhunderte optisch frisch. Größere Tiere werden vor dem Einlagern ausgenommen, damit keine Feuchtigkeit im Körper bleibt – das verhindert Zersetzungsprozesse. Dadurch können wir noch wahre Schätze finden, die hierzulande möglicherweise bereits ausgestorben sind, sagt Husemann. Hat er sich für eine Schublade entschieden, sieht er sich die Tiere – bei ihm sind das meist Heuschrecken – genau an: Wie groß sind sie? Welche Flügelzeichnungen weisen sie auf? Gibt es Auffälligkeiten in der Farbe? Manchmal geht es ihm wie bei den Tieren im Iran – er kann nicht genau sagen was, aber irgendetwas ist da neu. Diese Funde gibt er dann zur genaueren Untersuchung weiter in ein Labor.

Allein in den vergangenen vier Monaten haben die Analysen bestätigt: Husemann hat drei neue Heuschreckenarten entdeckt. Bei einem Kollegen – dem Kurator der Käfersammlung – waren es im vergangenen Jahr sogar 15 neue Arten. Nimmt man Käfer, Schrecken und andere Bereiche der Sammlung zusammen, finden Husemann und seine Kollegen im Keller in Hamburg jährlich Dutzende bisher unbeschriebener Arten.

Geöffnete Schublade mit Glasdeckel, in der sich konservierte Schmetterlinge befinden.

Manchmal freuen sie sich: Neue Entdeckung! Juche! Dann stellt sich heraus: An der Schublade klebte einfach ein falsches Etikett. Wir hatten das in der Sammlung beispielsweise mit der Ameisengrille. Bisher war nicht bekannt, dass sie einmal in Hamburg heimisch war, sie tauchte in keinerlei Artenliste auf. Aber in der Sammlung haben wir dann zwei aus Hamburg stammende Tiere entdeckt. Später stellte sich heraus: Der Fundort war falsch angegeben, die Ameisengrillen stammten aus Thüringen. Sind die historischen Funde aber korrekt beschrieben, können sie heute zu einer Art Wegweiser werden: Eine Forscherin sucht an der Stelle, wo das Tier vor 100 Jahren gefunden wurde, hat Glück und findet dort lebende Artgenossen. Das ist dann schon eine große Entdeckung.

Aber auch wenn sie in der Natur nicht mehr fündig werden, kann das aufschlussreich sein. Die gefleckte Schnarrschrecke beispielsweise war im alten Hamburg noch weitverbreitet, heute hat man sie in Mitteleuropa seit etwa 100 Jahren nicht mehr gesehen. Auf den ersten Blick macht das Tier nicht viel her: Ihr bis zu 39 Millimeter langer Chitinpanzer ist genauso grau wie der Kies und der Schotter, auf denen sie lebt. Erst wenn die Schrecke abhebt, entfaltet sie die purpurrote Schönheit ihrer Hinterflügel. Vereinzelt ist sie auch heute noch in den Alpen oder in Schweden zu finden, hat sich über die Jahre aber immer weiter zurückgezogen, bis nach Russland. Was ist passiert? Und was müsste geschehen, damit sie wiederkommt?

Sammlungen wie die in Hamburg und Bonn helfen, Antworten zu finden. Wie Zeitkapseln verwahren sie Insekten und andere Tiere. Weiß man etwa, wo genau ein Tier gefunden wurde, kann man untersuchen, wie sich die Landschaft seines einstigen Habitats verändert hat – und warum seine Artgenossen heute andere Regionen besiedeln. Sind Pflanzen verschwunden? Wurden Flüsse begradigt und Kiesbänke abgegraben, auf denen vorher Tiere nisten, rasten oder jagen konnten? Ökologen wissen: In der Natur ist alles mit allem verbunden. 

Sammlungen verwahren also mehr als getrocknete Insektenleiber und »ausgestopfte« Tiere. Mit ihnen kann man erforschen, welche Tiere und Pflanzen besonders aufeinander angewiesen und welche landschaftlichen Gegebenheiten für sie unabdingbar sind. Müssen etwa breite Kiesbänke geradlinigen Flussläufen weichen, kann das zum Verschwinden einer Art führen. Will man den Biodiversitätswandel über die Zeit erforschen – also wie sich Tier- Communitys und ihre Habitate verändern – sind Sammlungen unabdingbar, sagt Martin Husemann.

Viele kleine Schachteln mit kleinen Eiern darin.
Konservierte Elstern in einem Hozkasten.

Deshalb müssen wir uns auch viel mehr und weitgehender mit dem Genom beschäftigen. Wir wissen immer noch viel zu wenig, sagt Astrid Böhne. Die Molekular- und Evolutionsbiologin leitet in Bonn die Sektion »Vergleichende Genomik (Wirbeltiere)« des Museums Koenig. Anders als  Husemann, schlägt sie sich nicht durch wuchernde Wälder, sengende Wüsten und Schubladen in Kellerräumen, aber auch sie bricht fast täglich zu Reisen auf: mitten rein, in den mikroskopischen Code des Lebens.

Indem Wissenschaftlerinnen wie Böhne die DNA der Funde untersuchen, können sie zweifelsfrei feststellen: Hier haben wir eine neue Art! Heutzutage wird eine Entdeckung eigentlich immer doppelt abgesichert: Zuerst kommt die morphologische Untersuchung, die vor allem das Aussehen genauer bestimmt und auf Unterschiede zu bekannten Arten abgleicht. Ist das Verdachtsmoment groß, sequenziert man die Gene. Mit dem entschlüsselten Genom können Forschende dann eine Art Stammbaum der Arten entwerfen. 

Auch hierbei bringen Sammlungen die Forschung weiter: Wann haben sich welche Arten aufgetrennt? Und welche Genmutationen führten daraufhin zu welchen neuen Eigenschaften? Gleicht man die DNA frischer Funde aus lebenden Populationen mit dem Material aus Sammlungen ab, liefern sie Antworten auf diese und viele weitere Fragen. Und je besser Forschende jeden Entwicklungsschritt kennen, desto genauere Aussagen können sie treffen. Ist aber eine einzige Stelle falsch, kann das leicht das ganze Ergebnis verfälschen, sagt Böhne. Es bleibe dann eine eher lückenhafte Annäherung.

Wir gehen die Sache taxonübergreifend an, sagt sie. Wir schauen also über Artengrenzen hinweg: Wie geht es den frei lebenden Populationen? Hat sich das Genom einer Art im Laufe der Zeit verändert – und falls ja, wie? Wie sah es vor 20 Jahren und weiter in der Vergangenheit aus, und wie hat sich etwa die Industrialisierung ausgewirkt? Hat die Art an genetischer Vielfalt verloren? Und hängt das mit den Umweltveränderungen in ihren Lebensräumen zusammen?

Projekte wie der European Reference Genome Atlas, an dem internationale Forschungsteams arbeiten, helfen, das Verständnis für die Genetik der Arten standortübergreifend zugänglich zu machen und zu vertiefen. Dazu muss man wissen: Als die historischen Proben gesammelt wurden, konnte niemand ahnen, dass in 20 oder 100 Jahren jemand kommt und ein Genom sequenzieren will. Das heißt: Auch wenn die alten Schrecken, Schmetterlinge, Fliegen und Bienen erstaunlich frisch aussehen, war die Art ihrer Lagerung nie auf die Arbeit mit molekularbiologischen Methoden ausgelegt.

Die Proben sind nicht immer im Wunschzustand.

ASTRID BÖHNE

Ausgestopfte Strauße.

Sammelt man heute eine Probe, um ein Genom zu erstellen, gibt es einiges zu beachten: Das Tier muss schnell eingefroren werden, um die Körperprozesse in Stillstand zu versetzen, außerdem braucht es eine gewisse Mindestmasse an genetischem Material. Früher wurden Proben dagegen häufig nur unzureichend in minderwertigem Alkohol konserviert oder einfach trocken gelagert. Besonders alte Insektenfunde wurden mit Cyaniden behandelt (gut für die DNA), jüngere dagegen mit Essigäther, der es nun schwer macht, die beschädigte DNA zu entziffern. Bei den Wirbeltieren, an denen Astrid Böhne arbeitet, ist vergällter Alkohol ein häufiges Problem.

Sagen wir es so, sagt sie, die Proben sind nicht immer im Wunschzustand. Astrid Böhne und ihre Kollegen in Bonn untersuchen deshalb oft nicht das gesamte Genom, sondern nur dessen gut erhaltene Abschnitte. Sie werden durch molekularbiologische Methoden wie die PCR vermehrt und anschließend genauer betrachtet.

Ein interessantes Untersuchungsobjekt ist auch die Schnarrschrecke, an der Martin Husemann arbeitet. Die Heuschrecke besitzt das größte bekannte Insektengenom – es ist zehnmal größer als das des Menschen. Inzwischen weiß man: Das Klima von heute würde die Schnarrschrecke noch immer vertragen. Stattdessen war die intensive Landnutzung in Hamburgs Umland ein Problem – große Heideflächen oder unbearbeitete Schotterufer an Flüssen gab es in ihrer Folge kaum noch. Inzwischen hat man viele Flussufer renaturiert, beispielsweise in der Lüneburger Heide. Das Insekt kommt trotzdem nicht zurück. Die Trittsteine sind nicht da, der Weg zu uns ist blockiert, sagt Husemann. Um dieses Tier wieder hier anzusiedeln, müssten wir es züchten und auswildern.

In den Niederlanden laufen solche Projekte bereits. Wissenschaftlerinnen und Naturschützer arbeiten daran, dass die Heuschrecken dort wieder einen Lebensraum finden. Ihren Ausgangspunkt bildet die Forschungsarbeit von Sammlungen aus aller Welt. Auch das LIB steuert wichtige genetische Daten bei.

Konservierte Schmetterlinge mit geöffneten und geschlossenen Flügeln.

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