Um 10:32 Uhr verlässt ICE 802 den Erfurter Bahnhof in Richtung Vergangenheit. Er bringt mich zurück nach Berlin, wo ich fünf Jahre lang gelebt habe, und nimmt mich mit in eine andere Welt – in die Welt von Ahmad und die eines Paradoxes. Ahmad und ich haben uns 2012 über das Patenschaftsprogramm »Neuköllner Talente« kennengelernt, das die Bildungschancen von Kindern im Grundschulalter fördern will.
Seine kurdische Familie stammt aus Syrien und der Türkei, ist vor fast 20 Jahren nach Deutschland gekommen. Ahmads Eltern haben mittlerweile einen deutschen Pass, Ahmad sowieso. Er ist in Berlin geboren. Heute leben die Khalils (Name von der Redaktion geändert) an der Hasenheide, an der Grenze zwischen Neukölln und Kreuzberg, in einer Gegend, durch die sehr viele Grenzen verlaufen: Die Lebenswelten von Muslimen wie Ahmads Familie prallen dort auf die der Berliner Hipster und die von Drogen- und Alkoholabhängigen, die vor dem Eingang des U-Bahnhofs Hermannplatz auf Kleingeld hoffen.
Aus dieser Neuköllner Welt, die durch Brandbriefe an der Rütli-Schule und Thilo Sarrazins »Deutschland schafft sich ab« in die negativen Schlagzeilen geraten war, wollte ich Ahmad damals mitnehmen – mit in meine bildungsbürgerliche, geordnete Welt, in der Kinder mehr Chancen haben. Ahmad war gerade neun und ich herrlich naiv. Eineinhalb Jahre lang haben wir uns wöchentlich getroffen und gemeinsam etwas unternommen: Wir waren im Zoo, im Technik-Museum, in der Bibliothek, waren schwimmen und haben im Kletterwald wagemutige Stunts hingelegt.
Im Anschluss saßen wir oft bis spät abends mit Ahmads Familie im Wohnzimmer. Wir diskutierten über eine kalte Leistungsgesellschaft und die Ungläubigen, über den Islam und die Deutschen. Dabei wurde jedes Mal klar, wie tief die kulturellen Gräben waren, über die wir uns da bei einem Glas Tee zu hangeln versuchten. Aber zum Schluss stand immer ein Lächeln und der Satz: Du bist zwar anders, aber ich mag dich trotzdem.
Auch dieses Mal, viele WhatsApp-Nachrichten später und fünf Jahre nach unserem letzten Treffen, wollen wir wieder eine Runde Kulturgraben-hangeln gehen: Heute rüber in meine Welt – Mittagessen beim Vietnamesen und ein Abstecher in die Gemäldegalerie –, morgen dann zurück in seine: Spaziergang durch Neukölln.
Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, stand Ahmad kurz vor dem Wechsel von der Grund- in die weiterführende Schule. Er stand an einem Punkt, von dem Pädagogen und auch Eltern, die mit dem deutschen Bildungssystem vertraut sind, wissen, wie entscheidend er für die weitere Laufbahn ist. Seine Eltern hatten sich für das Albert-Schweitzer-Gymnasium in Neukölln entschieden – eine Schule, die ihren Kiez gut widerspiegelt: Der Anteil der Schüler mit nichtdeutscher Herkunftssprache liegt bei etwa 95 Prozent.
Auch Ahmad spricht mit seinen Eltern nicht Deutsch. Im weichen Tonfall seiner Sprache klingt das Kurdisch durch, das er zu Hause spricht – und das Kiezdeutsch der Berliner Jugendlichen. Seine Stimme ist tiefer geworden und er fragt mich, ob ihm der Bart stehe. Bei vegetarischem Glasnudelsalat und Mangoschorle bringen wir uns auf den neuesten Stand. Ich bin beeindruckt, wie Ahmad sich entwickelt hat. Er ist sehr höflich, aufgeweckt und direkt.
Im Schnelldurchlauf tasten wir uns zueinander vor: Seinen Eltern und den sieben Geschwistern geht es gut. Ahmad betet jetzt fünfmal am Tag. Er spielt nicht mehr »Super Mario« auf dem Nintendo, sondern »Dragon Ball FighterZ« auf dem PC. Mit der Schule steht er auf Kriegsfuß, hadert mit dem Unterricht und seinen Lehrern. Als Leistungskurse hat er Mathe und Englisch belegt. Er würde lieber in Japan zur Schule gehen: Ich glaube, die Schüler da haben Bock zur Schule zu gehen. Bei uns will jeder nur nach Hause.
Er ist nun in der elften Klasse, in der sogenannten Q1, der Qualifikationsphase fürs Abitur. Der Weg dorthin war mühsam. Die dritte und zehnte Klasse hat er wiederholt.
Aber Ahmad macht weiter, wie ein kleiner Sisyphos, der stoisch seinen Stein dem Abitur-Gipfel entgegenrollt. Ein bisweilen mäßig motivierter Sisyphos, der nicht immer »Bock« auf seinen Felsblock und den steilen Hang mit den Prüfungen hat und sich lieber Anime-Serien reinzieht oder »zockt«. Ein Teenager eben, bei dem hinzukommt, dass er eine Schule besucht, auf der die meisten wie er einen Migrationshintergrund haben. In einem sozialschwachen »Brennpunkt«, in dem sich mäßige Deutschkenntnisse und schlechte Leistungen häufen.
Trotz ungünstiger Startbedingungen hat Ahmad sein Ziel aber klar vor Augen: Abitur. Wie ein Mantra wiederholt Ahmad das Wort während unseres Mittagessens. Abitur. Abitur. Abitur! Ich höre durch seine Worte seinen Vater, der mir bei unseren Gesprächen auch immer wieder sagte, wie wichtig Bildung sei.
Und während wir da so plaudern, sind wir nichtsahnend bei einem riesigen Forschungskomplex angekommen, mit dem sich Wissenschaftlerinnen wie Gisela Will vom Leibniz-Institut für Bildungsverläufe in Bamberg (LlfBi) beschäftigen. Gemeinsam mit zwei Forschenden der Universität Bamberg leitet sie das Projekt »Aiming High«, bei dem schulische Kompetenzen und Bildungsentscheidungen vor dem Hintergrund hoher Bildungsaspirationen in Zuwandererfamilien untersucht werden.
Will erklärt, dass Migranten und ihre Nachkommen häufig höhere Bildungsziele verfolgten: Bei gleichem Notendurchschnitt gehen Zuwanderer eher aufs Gymnasium als Einheimische. Sie sind überdurchschnittlich motiviert, haben überdurchschnittliche Aspirationen.
Für ihre Forschung steht ihr ein riesiger Datenpool zur Verfügung, den Wissenschaftler am LlfBi seit 2014 füllen: Das dort angesiedelte Nationale Bildungspanel (NEPS) begleitet Bildungsprozesse und Kompetenzentwicklung von 60.000 Menschen über viele Jahre hinweg in verschiedenen Lebensphasen.
In der Studie werden auch Jugendliche wie Ahmad nach ihren Bildungswünschen gefragt und für wie wahrscheinlich sie es halten, ihr Ziel zu erreichen. Da die Wissenschaftler die Jugendlichen lange begleiten, können sie sehen, welchen Abschluss sie tatsächlich machen. Da zeigt sich, dass Migranten unter gleichen Bedingungen eher ambitionierte Entscheidungen treffen. Sogar Kinder, die auf die Hauptschule gehen, sagen, dass sie Abitur machen wollen
, sagt Will und fügt an: Ob sie es tatsächlich umsetzen können, ist eine andere Frage.
Diese Diskrepanz bezeichnen Wissenschaftler als Aspiration-Achievement-Paradox.
Warum Zuwanderer oft so hohe Aspirationen haben, erklärt Gisela Will unter anderem mit dem Phänomen des Immigrant Optimism: Migranten sind eine selektive Personengruppe, die ihr Schicksal selbst in die Hand genommen und den Schritt in ein anderes Land gewagt hat. Von Bildung erhoffen sich viele ein besseres Leben als in ihrem Herkunftsland
, erläutert sie und fährt fort: Manche nehmen zudem eine Diskriminierung wahr und wünschen sich, durch entsprechende Bildung in akademischere Bereiche des Arbeitsmarktes zu kommen, in denen sie weniger Diskriminierung erwarten.
Für manche von Ahmads älteren Geschwistern trifft das zu. Sie haben eine akademische Laufbahn eingeschlagen, auch wenn der Weg dorthin und darauf manchmal holprig war: Schwester Scherin musste sich in den Studiengang »Soziale Arbeit« einklagen, Bruder Ali hat mehrfach Uni und Fächer gewechselt, bis er an der Fachhochschule seinen Abschluss machen konnte. Bruder Idris hat BWL studiert, und aus Nisrin ist eine Architektin geworden.
Doch die jüngeren Geschwister tun sich schwer. Die Noten sind mäßig, Mohammad hat das Gymnasium verlassen, er lernt jetzt auf einer Sekundarschule mit gymnasialem Zweig besser. Und wie Ahmad betont auch er: Man kann da aber Abitur machen!
Immer wenn ich ihn auf seine Probleme in der Schule anspreche, sagt Ahmad: Es liegt am System. Ich finde, das Gymnasium ist wie ein Chillplatz für Lehrer und ein Ort für selbstständiges Lernen für Schüler.
Er fügt hinzu: Ich glaube, ich bin eigentlich auf der falschen Schule. Ich bin nur aufs Gymnasium gekommen, weil es einen hohen Rang hat.
Wenn es nach ihm ginge, würde er lieber auf Mohammads Schule wechseln, wo die Schüler beim Lernen mehr an die Hand genommen werden. Eltern, Geschwister und Freunde sind aber dagegen. Sie sagen: Du wirst in keinem Job angenommen, wenn du nicht auf ein Gymnasium gehst.
Ahmad sitzt fest. Ahmad sitzt in der Abiturfalle – und mit ihm ein alter Bekannter: das Aspiration-Achievement-Paradox.
Wenn man sich die Vokabeln ansieht, mit denen die Forscher jonglieren, wird schnell deutlich, dass Bildung und der Platz, den ein Individuum in der Gesellschaft einnimmt, das Ergebnis einer knallharten Kosten-Nutzen-Rechnung sind, die verdammt wirtschaftlich daherkommt. Dann fallen Begriffe wie Bildungsrendite, Ressourcen oder soziales und kulturelles Kapital – Begriffe, die der französische Soziologe Pierre Bourdieu geprägt hat.
Was Bourdieu mit kulturellem Kapital meint, wird mir an unserer zweiten Station bewusst: in der Berliner Gemäldegalerie. Während Ahmad sich darüber wundert, dass ich viele der alten Schinken, die hier hängen, kenne und dass Menschen aus der ganzen Welt hierher pilgern, um das Who is who der Kunstgeschichte zu sehen, denke ich auf einmal an meinen Vater. Schon als Kind hat er mich in Museen geschleppt. Plötzlich fallen mir viele Situationen ein, in denen ich ganz unbewusst mein kulturelles Kapital eingesetzt und mein bildungsbürgerliches Revier markiert habe, indem ich mitreden konnte, wann immer es um Lucas Cranach, Botticelli und Co. ging.
Ahmad hat einen herrlich erfrischenden, ganz unverstellten Blick auf die Werke. Statt über Triangulatur, Ikonografie oder Bildgattungen zu schwurbeln, stellt er ganz eigene Betrachtungen auf: Warum müssen die hier immer ›Knabe‹ schreiben? Sie können doch auch mal Junge oder Bursche sagen
. Und aus dem »Portrait eines Mannes«, das den übergewichtigen toskanischen General Alessandro dal Borro darstellen soll, macht er eigentlich ganz treffend das »Bildnis eines Fettsacks«.
In Raum XI aber, wir haben uns gerade durch die französische Malerei gekämpft, reicht es ihm: Langsam nervt’s. Eigentlich ist es ja viel spannender, die Leute vor den Bildern zu beobachten als die Bilder selbst.
Es ist wohl dieser bildungsbürgerliche Habitus, der Ahmad amüsiert – wie sie da andächtig vor den Bildern stehen, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, die Stimme gedämpft. Ahmad wäre lieber ins derzeit geschlossene Ethnologische Museum oder ins Computerspiele-Museum gegangen – da hätte ihm fachlich so schnell keiner etwas vorgemacht.
Als wir aus der Stille der Gemäldegalerie hinaus in den Berliner Großstadtlärm treten, klingelt Ahmads Handy: Salam aleikum
. Seine Mutter ist dran. Die beiden unterhalten sich auf Kurdisch. Auch eine Ressource, wie Gisela Will betont, die Ressource der Mehrsprachigkeit: Migranten besitzen darüber hinaus eine interkulturelle Kompetenz, von der Einheimische, die keinen Kontakt zu anderen Kulturen haben, profitieren können.
Dass Ahmad aber Kurdisch kann und sich ziemlich gut im Islam auskennt, bringt ihm in unserem Bildungssystem herzlich wenig.
Mir fallen noch viele dieser Dinge ein, von denen Einheimische profitieren könnten, wenn sie sich von Familien wie Ahmads einladen ließen. Gerne denke ich an die Abende bei selbst gebackenen Anisplätzchen zurück, an eine großfamiliäre Wärme und Gemütlichkeit, wie ich sie selten erlebt habe: Während Ahmads Schwestern ihre Kopftücher ablegten, wenn sie nach Hause kamen, streifte ich Alltag und Stress mit meinen Schuhen an der Haustüre der Khalils ab. Auch Ahmads Art und Weise über das Leben zu denken, gefällt mir. Seine Auseinandersetzung mit Gott und Religion scheint ihn geerdet zu haben.
Als ich Ahmad am nächsten Tag zu Hause, in seiner Welt, besuche, fällt mir auf, dass bei ihnen an der Wand noch mehr kulturelles Kapital hängt: Direkt neben den Fotos, von denen Ahmads Großeltern streng ins Wohnzimmer blicken, hängt das Master of Arts-Diplom, das die University of Sheffield seinem Vater am 12. Juni 1993 im Fach Applied Linguistics verliehen hat. Beruflich hat der ehemalige Sprachlehrer in Deutschland zwar nie wieder richtig Fuß fassen können, aber seine Liebe zur Bildung besteht bis heute fort. Mit ihm könnte Ahmad zwar lernen, aber er tut es ungern. Zu streng sei der Vater. Seine Mutter kann ihm nicht helfen, sie ist nicht zur Schule gegangen.
Als wir später durch die Hasenheide streifen, erzählt er mir mehr von seinen Zukunftsplänen. Sie sind hoch ambitioniert. Ahmad möchte vielleicht Informatik studieren, auch wenn ihm sein Lehrer vom Leistungskurs Informatik abgeraten hatte, weil es zu schwer sei. So ganz genau weiß er es nicht, nur eines: Ich hab Bock auf Studieren.
Warum ein Studium im Gegensatz zu einer Ausbildung so attraktiv ist, weiß Ahmad auch: Ein Studium kann man abbrechen. Wenn es mir nicht gefällt, kann ich etwas Neues anfangen, weil ich ja Abitur habe.
Nur um abbrechen zu können, braucht er das Abitur? Als er meinen entgeisterten Blick sieht, fügt er noch ein Sowas halt
hinzu und betont, dass er kein Hartz IV anstrebt: Da kriegt man nur Kopfschmerzen von! Die ganzen Briefe und Formulare, die meine Eltern nach Hause kriegen ... Papierkram stört. Ich möchte mein eigenes Geld verdienen.
Die Zeit eilt und unser gemeinsames Wochenende neigt sich dem Ende zu. Ahmad bringt mich noch zur U-Bahn und wir verabschieden uns mit einem ernst gemeinten: Bis bald!
Während der ICE am Südkreuz in Richtung meines Erfurter Alltags rollt, kommt mir plötzlich Jan Brueghels »Berliner Blumenstrauß« in den Sinn, den Ahmad und ich gestern in der Gemäldegalerie gesehen haben. Vielleicht ist es mit uns beiden ja wie mit den Tulpen und Traubenkirschen: Komplett unterschiedlich aufgewachsen, völlig anderer Nährboden, ganz anders kultiviert. Und trotzdem beide schön, auf ihre Art.