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LEIBNIZ Frau Völker, wie hat sich die Wahrnehmung rechtsextremer Ideen im öffentlichen Diskurs seit den 1990er Jahren verändert?

TERESA VÖLKER Es geht nicht so sehr um die Inhalte, sondern vielmehr um die Sichtbarkeit. Rechtsextreme Ideen sind Teil des normalen, als legitim empfundenen Diskurses geworden. Wir sprechen sorglos darüber in Talkshows, hören Politiker*innen verschiedenster Parteien über sie sprechen und finden sie in der Berichterstattung der Massenmedien. In der Wissenschaft nennen wir das Diskursverschiebung.

Können Sie diese Verschiebung noch genauer beschreiben?

Rassistische Aussagen kommen in neuem Gewand daher, es sind nicht mehr die klassischen Neonazis in Springerstiefeln, bei denen sofort klar ist: Das ist ein extremistischer Akteur, der in unserer Demokratie nichts verloren hat. Heute sitzen rechtsextreme Akteure im Anzug in den abendlichen Talkshows und dadurch entsteht der Eindruck, dass sie legitime Forderungen formulieren, wenn sie in diesen Kreisen toleriert und diskutiert werden. Dazu kommt noch, dass sich auch Politiker:innen anderer Parteien zu rechten Aussagen hinreißen lassen. Der Cordon Sanitaire ist an dieser Stelle sehr brüchig geworden.

Was ist der Cordon Sanitaire?

Der Cordon Sanitaire bedeutet im übertragenen Sinne einen Schutzwall, aktuell bekannter als »Brandmauer gegen rechts«. Also eine klare Abgrenzung gegen die radikale und extreme Rechte. Für die Politik heißt das, es wird auf keiner politischen Ebene mit einer extremen Partei kooperiert. Bisher hat diese Brandmauer ganz gut funktioniert, aber es gab in der Vergangenheit auch schon Stimmen, die gefordert haben, auf lokalpolitischer Ebene mit der AfD zusammenzuarbeiten. Das ist eine gefährliche Entwicklung.

Inwiefern?

Selbst die Kooperation auf unterster Ebene ist ein Prozess, der sich fortsetzt und den Menschen suggeriert: Wenn mit einer Partei zusammengearbeitet werden kann, dann ist sie auch wählbar. Brüchig ist der Cordon Sanitaire aber vor allem auf der kommunikativen Ebene geworden: Meine Forschung zeigt, dass sich die demokratischen Parteien immer wieder auf Themen, die von der AfD gesetzt wurden, einlassen oder diesen hinterherrennen. Das hat sich zum Beispiel im Kontext der Bundestagswahlen 2017 gezeigt. Um die Wähler*innen der AfD zurückzugewinnen, kündigte die damlige Bundeskanzlerin und CDU-Politikerin Angela Merkel eine restriktive Migrations- und Sicherheitspolitik als Hauptschwerpunkte für die kommende Legislaturperiode an.

Heute sitzen rechtsextreme Akteure im Anzug in den abendlichen Talkshows, und so entsteht der Eindruck, dass sie legitime Forderungen formulieren.

TERESA VÖLKER

TERESA VÖLKER
ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Zivilgesellschaftsforschung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung.

Für Ihre Dissertation haben Sie untersucht, wie rechtsradikale und rechtsextreme Akteure die öffentliche Debatte in Deutschland seit den 1990er Jahren beeinflussen. Wie sind Sie vorgegangen?

Ich habe 500.000 Zeitungsartikel aus insgesamt sechs Zeitungen ausgewertet, die seit den 1990ern erschienen sind. Durch qualitative und quantitative Methoden, automatisierte Textanalyse etwa, habe ich versucht zu verstehen, mit welchen Akteuren im Zeitverlauf über welche Themen gesprochen wurde und wem so wie viel Sichtbarkeit zuteilwurde. Dabei habe ich auch untersucht, wie die extreme Rechte Themen gesetzt hat, wer darauf reagiert hat und wann die extreme Rechte besonders viel Aufmerksamkeit bekommen hat. Um herauszufinden, wie thematische Bezüge und Narrative die öffentliche Meinung beeinflusst haben, habe ich ein Umfrageexperiment durchgeführt.

Was haben Sie herausgefunden?

Das zentrale Ergebnis war, dass die extreme Rechte seit den 1990er Jahren immer mehr Sichtbarkeit, Resonanz und Legitimität in öffentlichen Debatten bekommt. Das liegt daran, dass es immer wieder kritische Momente gab, in denen sie es als Krisenkommunikator geschafft hat, Themen zu setzen und Debatten zu beeinflussen. Dabei hat sie davon profitiert, dass ihre Themen von den demokratischen Parteien, aber auch den Massenmedien aufgegriffen wurden – und sie so noch sichtbarer wurden. Wenn wir beispielsweise verstehen wollen, wie die AfD in unsere Parlamente einziehen konnte, dann müssen wir uns fragen: Wie konnte die AfD in der breiten Öffentlichkeit so viel Aufmerksamkeit generieren?

Wann sind Rechtsextreme denn am erfolgreichsten mit ihren Themen?

Krisenmomente haben enormes Mobilisierungspotential. Dazu zählen islamistisch motivierte Anschläge wie der vom 11. September 2001 oder in Europa verübte Anschläge wie der auf den Berliner Weihnachtsmarkt am 19. Dezember 2016, aber eben auch die sogenannte Migrationskrise von 2015 und 2016. In der öffentlichen Debatte wurde ein Zusammenhang zwischen diesen Ereignissen, zwischen Zuwanderung und Terroranschlägen, hergestellt und die migrantische und muslimische Gemeinschaft als Ganzes kriminalisiert. Im Kontext dieser Ereignisse hat es die AfD geschafft, Sichtbarkeit, Resonanz und Legitimität zu erlangen und sich Zugang zum politischen System zu verschaffen, indem sie 2017 in den Bundestag einzog.

Wie ist es so weit gekommen?

Die Partei hat es geschafft, Themen zu setzen und die öffentliche Debatte zu bestimmen, bevor sie überhaupt in Parlamente gewählt wurde. In der Forschung reden wir von »Issue Owner«, das heißt, jemand prägt ein Thema und profitiert dann davon, wenn darüber gesprochen wird. Es wäre zu einfach zu sagen, die öffentliche Debatte war der einzige Grund, warum die AfD gewählt wurde. Aber es ist Teil der Erklärung: Politiker*innen der AfD wurden in der Folge von Krisensituationen zur besten Sendezeit in Talkshows eingeladen, und das hat rechtsextreme Ideen ein Stück weit salonfähig gemacht.

In den 1990er Jahren verübten Neonazis Anschläge in Mölln, Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda. In der jüngeren Vergangenheit kam es zu rechtsextremistischen Anschlägen in Hanau, Halle und dem Lübcke-Mord. Wie hat sich die Debatte rund um solche Taten verändert?

Wir haben es mit einem Kontinuum von Anschlägen zu tun, und das steht im Kontrast zur öffentlichen Wahrnehmung. Nach Anschlägen hört man immer die Forderung »Nie wieder!«. Es wird sich empört, und große Teile der Gesellschaft und Politik zeigen sich schockiert. Das hat sich über die Jahre kaum verändert. Was sich aber verändert hat, ist die Akzeptanz der Ideen hinter den Anschlägen: Denn die Normalisierung von rechtsextremen Denkmustern und Parolen im politischen und medialen Mainstream bedingt, dass Gewalt von der extremen Rechten zunehmend umgedeutet und für Opferinszenierung instrumentalisiert wird.

In Ihrer Forschung untersuchen Sie nicht nur, wie rechtsextreme Gewalt, sondern auch, wie islamistische Gewalt öffentlich wahrgenommen wird. Wo liegen die Unterschiede?

Das überraschendste Ergebnis ist, dass in beiden Fällen die extreme Rechte profitiert, weil es ihr gelingt, die öffentliche Debatte zu dominieren. Das funktioniert, weil die Debatte über rechtsextreme Gewalt anders geführt wird als die über islamistische Gewalt. Islamistischer Terrorismus wird von der extremen Rechten als Feindbild instrumentalisiert. Diese Vorfälle werden genutzt, um pauschal gegen Muslim*innen und Migrant*innen zu mobilisieren. Nach islamistischen Anschlägen ist die Rede von Gruppen und ganzen Netzwerken, die unsere Gesellschaft von außen bedrohen. Nach rechtsextremen Anschlägen sehen wir diese Generalisierung nicht. Hier ist dann häufig von isolierten Einzeltätern die Rede, die nicht Teil der Mehrheitsgesellschaft sind, sondern sich alleine im Kämmerlein radikalisiert haben. 

Die AfD wird in Thüringen und Sachsen vom Verfassungsschutz als »gesichert rechtsextrem« und bundesweit als »rechtsextremistischer Verdachtsfall« eingestuft. In Brandenburg, Thüringen und Sachsen könnte die AfD bei den Landtagswahlen dieses Jahr die stärkste Kraft werden. Wie konnte es so weit kommen? Rechtsextreme Standpunkte werden offenbar nicht mehr nur akzeptiert, sondern aktiv gewählt.

Ich versuche, die Frage mit zwei Erkenntnissen aus meiner Forschung zu beantworten. Zum einen funktioniert der Erfolg der AfD wie eine selbsterfüllende Prophezeiung: Die AfD gewinnt an Sichtbarkeit und Beliebtheit, indem über den Erfolg der AfD und die Themen der AfD gesprochen wird. Diesen sich selbst verstärkenden Prozess erleben wir aktuell auch vor den bevorstehenden Landtagswahlen wieder. Die andere Erkenntnis ist, dass die AfD sehr davon profitiert, wenn sich andere Parteien auf ihre Forderungen beziehen oder ihr sogar nacheifern. Als Hannes Loth vergangenes Jahr zum ersten AfD-Bürgermeister gewählt wurde und Friedrich Merz daraufhin sagte, die CDU werde künftig zeigen, dass sie eine Alternative für Deutschland mit Substanz sei, hat das der AfD in die Hände gespielt. Es legitimiert die Forderungen der AfD, wenn der Chef einer Volkspartei ganz offen versucht, seine Partei als die bessere Alternative zu verkaufen und dabei das Label der AfD nutzt. AfD-Chef Tino Chrupalla hat die Gelegenheit damals erkannt und darauf erwidert: Wir sind das Original.

Es heißt oft, dass wir Politiker und Politikerinnen brauchen, die am rechten Rand auf Stimmenfang gehen, um so Wählerstimmen von der AfD zurückzugewinnen. Hilft das, um die extreme Rechte zu stoppen und unsere Demokratie zu retten?

Wenn Politiker*innen der demokratischen Parteien rassistische Aussagen treffen, um Wähler*innen zu gewinnen, dann profitieren am Ende vor allem rechtsextreme Kräfte als das »Original«. Das haben viele wissenschaftliche Studien in den vergangenen Jahren gezeigt. Man muss sich überlegen, was Demokratie eigentlich bedeutet. Ein Kernbestandteil der Demokratie ist das Gleichheitsprinzip, und dieses besagt, dass wir keinen Menschen wegen ihrer oder seiner Herkunftsgeschichte ausgrenzen wollen. Wenn rassistische Aussagen gebraucht werden, um Wähler in den demokratischen Diskurs einzubinden, dann muss man sich fragen, ob man im gleichen Moment nicht die Demokratie von innen aushöhlt, indem man Rassismus salonfähig macht.

 

Die AfD profitiert sehr davon, wenn ihr andere Parteien nacheifern.

Wir sagen, wir sind gegen Extremismus und für Demokratie, aber was heißt das eigentlich konkret?

Was könnten Parteien links der AfD besser machen?

Wenn wir ständig über die AfD sprechen, hilft das nicht. Und es hilft auch nicht, den Ideen der AfD hinterherzurennen und sie so zu legitimieren. Das bewirkt vor allem, dass Menschen wirklich irgendwann die AfD wählen. Was hilft ist, sich von der AfD abzugrenzen und eigene Themen zu setzen. Es gibt ja tatsächlich viele relevante soziale und politische Themen und Herausforderungen in der deutschen Politik, die Aufmerksamkeit benötigen. Eine Debatte über die richtige Migrationspolitik kann notwendig sein und muss dann auch geführt werden, aber man sollte sich dabei nicht von der AfD oder anderen rechtsextremen Kräften vor sich hertreiben lassen. Außerdem sollte mehr über die Politik der AfD gesprochen werden – und darüber, wem sie schadet. Die AfD inszeniert sich als Partei der Abgehängten, die die Sorgen der Menschen ernst nimmt. Das muss hinterfragt werden, denn die AfD schadet vielen ihrer Wähler mehr, als dass sie ihnen nutzt.

Welche Rolle spielen die Medien bei der Normalisierung der extremen Rechten?

Es wird verkannt, welch großen Effekt es hat, einen AfD-Funktionär zur besten Sendezeit zu interviewen oder in eine Talkshow einzuladen. In solchen Situationen ist es wichtig, dass der Journalist oder die Journalistin in der Lage ist, fragwürdige Äußerungen auseinanderzunehmen, einzuordnen und sie beispielsweise als rassistisch zu entlarven. Außerdem ist in vielen Medien ein ähnliches Phänomen zu beobachten wie in der Politik: Es wird sich zu sehr an rechtsextremen Standpunkten abgearbeitet. Wenn beispielsweise nach einem Terroranschlag die Schlagzeilen voller Ressentiments und Vorurteile stecken, dann macht das etwas mit den Leser*innen, da bleibt etwas hängen und das verschiebt ganz schleichend den Diskurs. Selbst wenn danach ausgewogen über den Sachverhalt berichtet wird.

Worüber wird Ihrer Meinung nach zu wenig gesprochen?

Die Debatten, die wir führen, sind zu abstrakt. Wir sagen, wir sind gegen Extremismus und für Demokratie, aber was heißt das eigentlich konkret? Was für eine Demokratie wollen wir, und was müssen wir dafür tun? Wer soll dazugehören? Wer sind wir als Gesellschaft? Wir müssen tiefer in diesen Aushandlungsprozess reingehen. Unsere Demokratie erhält sich nicht von alleine, wir müssen uns alle engagieren.

Dossier Rechtsextremismus

Die Positionen und Pläne werden radikaler und radikaler – trotzdem sind immer mehr Menschen bereit, rechtspopulistischen Parteien wie der AfD ihre Stimme zu schenken. Wir fragen Leibniz-Forschende, woran das liegt: Wie geht Radikalisierung vonstatten, welche Strategien verfolgen Rechtsextremisten on- und offline, worauf beziehen sie sich in ihren Ideologien? Und: Kann der millionenfache Gegenprotest unsere Demokratie schützen? Weitere Fragen und die Antworten der Expertinnen und Experten findet ihr jetzt in unserem Dossier Rechtsextremismus.