Falls sie das hier überlebt, sagte sich Petra Sperling, dann werde sie in eine Dachgeschosswohnung ziehen. Die Schrägen, das Gemütliche, das liebte sie. Am besten mit Blick aufs Wasser. Nur noch ihre Söhne und dieser Traum hielten sie aufrecht.
Am 21. August 1998 lag Sperling im 23. Stock der Berliner Charité. Durch Schläuche floss ihr Blut aus einem Arm ab und in den anderen wieder hinein. An alles, was in den Tagen darauf passierte, erinnert sich die 66-jährige Berlinerin nur schemenhaft: Ihre Haare fielen aus. Weil sie keine Nahrung bei sich behalten konnte, mussten die Ärzte sie künstlich ernähren. Ihr Gesicht schwoll an, das Herz raste, sie kriegte keine Luft mehr.
»Damals hätte ich lieber sterben wollen«, sagt Sperling 18 Jahre später über ihre Rettung. Dass sie heute ihre Geschichte erzählen kann — und das völlig gesund — gleicht einem medizinischen Wunder.
Es ist die Geschichte einer Wahnsinnstherapie, die unheilbare Krankheiten heilt, aber mit großen Risiken einhergeht. Die Geschichte eines Experiments, das Forscher, Ärzte und Patienten zusammenbringt. Sie handelt von Andreas Radbruch, der den »Immunreset« von Anfang an verfolgt hat und davon träumt, dass in Zukunft mehr Menschen damit behandelt werden können. Und von Tobias Alexander, der die riskante Kombination aus Stammzellentransplantation und Chemotherapie als Arzt in der Charité begleitet. Und nicht zuletzt handelt sie von Menschen, die so verzweifelt sind, dass sie ihr Leben aufs Spiel setzen, um wieder gesund zu werden.
Petra Sperling war Mitte 20, als sie merkte, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Morgens, wenn sie aufstand, um ihre Söhne zu wecken, spürte sie die steifen Gelenke. Anfangs achtete sie kaum darauf, die Schübe klangen ja wieder ab. Aber sie kamen wieder, immer schlimmer. Wenn Sperling zur Arbeit fuhr, waren ihre Hände und Füße manchmal so geschwollen, dass sie weder den Schaltknüppel umfassen noch das Gaspedal treten konnte. Ihre Haut juckte und entzündete sich. Irgendwann begann ihr ganzer Körper zu schuppen. Wenn sie auf dem Sofa gesessen hatte, musste sie es anschließend absaugen.
Die Ärzte erklärten Sperling, sie habe eine schwere Entzündung der Gelenke und gaben ihr Antirheumatika. Die Krankheit wurde schlimmer. Erst Mitte der 1990er Jahre eröffnete ihr ein Rheumaspezialist, sie leide an »Lupus«.
Ich hab’s gemacht, weil ich leben wollte.
PETRA SPERLING
Systemischer Lupus erythematodes ist selten und doch so etwas wie der Prototyp einer Autoimmunkrankheit. Entzündungen sind normalerweise eine Antwort des Körpers auf Infektionen. Er sendet Immunzellen aus, um Eindringlinge wie Bakterien oder Viren zu bekämpfen. Die Verteidigung wird durch ein ausgeklügeltes System gesteuert: Die Antikörper müssen eigene Zellen von fremden unterscheiden und kranke von gesunden. Und sie müssen erkennen, wann alle Eindringlinge abgetötet sind, damit sie die Abwehrreaktion beenden. Wenn dieses System versagt, entstehen chronische Entzündungen. Dann greifen die Antikörper das eigene Gewebe an und werden zu Autoantikörpern. Der Körper zerstört sich selbst.
Viele Betroffene können mit Medikamenten gut leben. Bei anderen scheint nichts zu helfen. Auch bei Petra Sperling wurden die Krankenhausbesuche häufiger. Als sie 1996 die Charité betrat, konnte sie vor Schmerzen kaum noch laufen und atmen. Niere und Herz waren angegriffen. Die Ärzte versuchten zunächst ihre fehlgeleitete Immunabwehr zu unterdrücken, mit Kortison und Anti-Malaria-Mitteln. Nichts schlug an. Nur Morphium linderte ein wenig die Schmerzen. Als die Ärzte sie fragten, ob sie an dieser neuen Studie teilnehmen wolle, dem Immunreset, zögerte Sperling nicht lange. Die Liste der möglichen Nebenwirkungen umfasste vier Seiten: »Herzversagen«, las sie da. Und »Lungenembolie«. »Aber es gab ja keine Alternative. Ich hab’s gemacht, weil ich leben wollte.«
Als Erster hatte der italienische Hämatologe Alberto Marmont die Therapie gewagt. In einem Krankenhaus in Genua erprobte er die Standardbehandlung für Leukämie-Patienten an Patienten mit schwerem Rheuma. Sein Kalkül: Wenn die Kombination aus Knochenmarktransplantation und Chemotherapie das Immunsystem komplett ausgeschaltet hat, könnte der Körper aufhören, sich selbst zu bekämpfen. Marmonts erste Patientin, eine 46-jährige Frau, die wie Petra Sperling unter Lupus erythematodes litt, wurde 1996 geheilt. Keine zwei Jahre später behandelten Hämatologen und Rheumatologen der Charité eine Patientin mit dem Immunreset — auch diesmal ging es gut.
Bis heute wurden in Europa 2.186 Patienten mit Autoimmunkrankheiten auf diese Weise behandelt, die Tendenz steigt. Fast die Hälfte der Patienten hatte Multiple Sklerose, ein Viertel Sklerodermie, eine Krankheit, bei der sich das Bindegewebe verhärtet. Und vier Prozent Lupus.
Wenn man das Immunsystem nicht neu startet, wird es keine Heilung geben.
ANDREAS RADBRUCH
Warum aber funktioniert der Immunreset? Im Glas-Ziegel-Bau des Deutschen Rheuma-Forschungs-Zentrums (DRFZ), einem Leibniz-Institut auf dem Gelände der Charité, sucht Andreas Radbruch seit Jahren nach den Ursachen von Autoimmunkrankheiten — und hat sie inzwischen gefunden: Gedächtnis-Plasmazellen, die falsch programmiert sind und deshalb fortwährend Autoantikörper produzieren. »Sie sind der Motor chronischer Entzündungen«, sagt der Wissenschaftliche Direktor des DRFZ. »Und wenn man das Immunsystem nicht neu startet, wird es keine Heilung geben.«
Bei Petra Sperling sah der Neustart so aus: Zuerst filterten die Ärzte alle Stammzellen aus ihrem Blut und deponierten sie in einer Tiefkühltruhe, für später. Nun folgte die Chemotherapie: Ein Cocktail aus Zellteilungshemmern und aus dem Blut von Kaninchen gewonnenen Antikörpern gegen menschliche Immunzellen vernichtete die krankmachenden Gedächtniszellen und mit ihnen Sperlings gesamtes Immunsystem.
In den kommenden Wochen sah Sperling nicht viel mehr als Schläuche und die besorgten Blicke der Ärzte durch den Schlitz zwischen Mundschutz und Haube. Während sie auf der Isolierstation mit den Nebenwirkungen kämpfte, taten die Mediziner alles, um sie zu schützen. Antibiotika sollten Krankheitserreger in Schach halten. Die Luft im Einzelzimmer wurde gefiltert, ihr Essen hocherhitzt.
Unmittelbar nach der Chemotherapie holten die Ärzte ihre Stammzellen aus der Tiefkühltruhe und legten mit einer Infusion die Basis für den Wiederaufbau ihrer Abwehrkräfte. Wieder zu Hause hatte Sperling Mühe, die Treppe hinauf in den dritten Stock zu gelangen. Sie ließ sich ein Bad ein und kam danach kaum aus der Wanne. Als sie sich das erste Mal mit Mundschutz zur Apotheke wagte, hangelte sie sich von Straßenschild zu Straßenschild, um nicht umzufallen. »Die Leute müssen mich für betrunken gehalten haben.«
Vier Jahre lang ging Sperling nicht ins Kino, nicht ins Theater. Auch Busse und Kaufhäuser mied sie, Türklinken drückte sie mit dem Ellenbogen runter. Bis heute hat sie ein Fläschchen mit Desinfektionsmittel im Handschuhfach. Nach dem Immunreset ist das Teil des Lebens. Die Abwehrkräfte kehren zwar langsam zurück, reagieren anfangs aber nur zögerlich auf Keime. Sperlings Bilanz: drei Lungenentzündungen in 18 Jahren. Fieber, Blasenentzündung, Gürtelrose sind häufige Begleiter der Patienten. Im schlimmsten Fall können sich eigentlich harmlose Herpes-Viren oder Hefe-Pilze ungebremst ausbreiten. Der Körper ist dann machtlos. Die Medizin auch. Wie bei dieser Patientin 2002. Nach dem Immunreset ging es ihr schlechter und schlechter. Zu spät fanden die Ärzte den Grund: Ein Pilz hatte sich im Gehirn der Frau ausgebreitet.
Wir müssen diese schwerkranken Patienten behandeln, sonst sterben sie.
TOBIAS ALEXANDER
Tobias Alexander erinnert sich noch genau, was damals seine ersten Gedanken waren: Sind wir ein zu hohes Risiko eingegangen? Und dann: Wie können wir verhindern, dass so etwas noch einmal geschieht?
Wenn der Studienleiter darüber spricht, wird er ernst. Alexander weiß, dass er mit der Therapie vielen Patienten das Leben gerettet hat. Über die Hälfte kommt hinterher ohne Medikamente und Therapien aus. Selbst wer einen Rückfall hat, spricht zumindest wieder auf Arzneimittel an. Und was wäre die Alternative? »Wenn man diese schwerkranken Patienten nicht behandelt, sterben sie.«
Heute funktioniert die Abschirmung gegen Pilze und Keime besser, die Dosis der Chemotherapie ist geringer, die Behandlung weniger belastend. Die Mortalitätsrate ist europaweit von 13 auf 6 Prozent gesunken — ein Fortschritt, aber immer noch ein hoher Wert. Viele Rheumatologen stehen der Therapie reserviert gegenüber. An der Berliner Charité wurden 22 Menschen behandelt. Drei sind gestorben. Alexander überlegt deshalb genau, wem er die Teilnahme an der Immunreset-Studie anbietet.
Noch ist die Behandlung zu riskant und zu drastisch, um in die Breite zu gehen. Das möchte Andreas Radbruch vom DRFZ ändern. Er ist angetrieben von einer Vision: Rheuma heilen. Dazu will er den Immunreset einen Schritt weiter bringen. Nicht mehr das komplette Immunsystem soll ausgelöscht werden, sondern nur die krankmachenden Zellen, die hinter der Entzündung stecken.
Einige Stockwerke über Radbruchs Büro öffnet sein Wissenschaftlicher Mitarbeiter Hyun-Dong Chang die Glastür zum Genlabor, Sicherheitsstufe 2. Dahinter säuerlicher Geruch und surrende Maschinen. Das Herzstück des Labors ist ein Zellsortierer, das sogenannte Durchflusszytometer, das einem überdimensionalen Drucker gleicht. Chang füttert es gerade mit einer gelblichgrünen Flüssigkeit — der Gelenkschmiere von Rheumapatienten. Sie enthält T- und Plasma-Zellen, die im Immunsystem Antikörper produzieren und steuern. Das Zytometer markiert sie, identifiziert sie mit Lasern und sortiert sie in Probenröhrchen.
Mit verschiedenen Methoden wollen Radbruch und Chang die krankmachenden Gedächtniszellen in den Selbstmord treiben. Erste Tests mit Patienten zeigen, dass das Prinzip funktioniert. Außerdem setzen die Forscher auf die Epigenetik. Mit ihrer Hilfe wollen sie Gene abschalten, die die Gedächtniszellen am Leben erhalten.
Parallel zu ihrer Forschung vertiefen die Grundlagenforscher die enge Zusammenarbeit mit den Ärzten. Jeden Donnerstag um neun Uhr morgens kommt Tobias Alexander herüber ins DRFZ. Gemeinsam überlegen sie dann etwa, welcher Patient am besten auf welche Therapie ansprechen könnte: Manche bekommen ihre Krankheit schon mit Entzündungshemmern in den Griff, der Standardtherapie. Schwere Fälle werden immer häufiger mit Biologika behandelt, etwa mit Antikörpern, die fehlgeleitete Immunzellen gezielt ausschalten. Der Immunreset ist bislang den Härtefällen vorbehalten.
Petra Sperling hatte Glück.
Sperling ist gesund. »Nach dem Immunreset habe ich alles neu geordnet«, sagt sie. Ihre Freunde sagen, sie sei ein anderer Mensch. Gelassener, nicht mehr so gehetzt. Sie hat aufgehört zu arbeiten, dafür betreut sie eine alte Frau in einem Seniorenheim. Und sie ist in eine Dachgeschoss-Wohnung gezogen.
Auf dem Tisch im Behandlungszimmer hat Petra Sperling einen Teil ihrer Krankheitsgeschichte noch einmal ausgebreitet: Arztbriefe. Den Pass mit den Impfungen — nach dem Immunreset mussten sie komplett erneuert werden. Und die Blutwerte der jüngsten Untersuchung.
Angst vor einem Rückfall habe sie keine. Aber zwei Werte, die minimal erhöht sind, machen Sperling doch nachdenklich. Es ist schwer, einem Körper zu trauen, der sich jahrzehntelang gegen sich selbst gerichtet und einen am Ende fast umgebracht hat.
Probieren die Ärzte erst alle Möglichkeiten durch, kann es am Ende zu spät sein. Sind die Organe eines Patienten schon zu stark angegriffen, sind der Immunreset und seine Nebenwirkungen zu riskant.
Petra Sperling hatte Glück. Ihr ging es damals schon schlecht genug, aber noch nicht zu schlecht. Heute, 18 Jahre später, kommt sie immer noch regelmäßig zu Alexander in die Rheumaambulanz. In Zimmer 03.039 wirft die Sonne Lichtpunkte aufs Linoleum. Es riecht nach Desinfektionsmittel und dem Gebäck des Krankenhaus-Cafés unten an der Straße.
Alexander fährt mit dem Ultraschallsensor über ihren Zeigefinger. Das Bild auf dem Monitor gleich einem wolkigen Nachthimmel. »Das ist Gelenkschmiere«, erklärt er und zeigt auf einen schwarzen Streifen. »Bei einer Entzündung wäre hier ein Hubbel.«