Helen ist sechs Jahre alt, als es am Abend des 16. Juni 1945 bei ihr zu Hause klingelt. Ihr müsst weg aus dem Dorf
, sagen die Leute vom Gemeindeamt. Ohne Vorankündigung. Mit zwei Kinderwagen – die Schwester ist sieben Wochen alt, der Bruder anderthalb Jahre – zieht die Familie los. Erst nach Polen, dann durch die Lausitz und Sachsen, durch Dörfer und zerbombte Städte. Nach drei Monaten kommen sie in Friedrichroda, Thüringen, an.
Heute ist Helen 80 Jahre alt und lebt in Berlin. Sie arbeitet ehrenamtlich in einem Frauencafé in Marzahn-Hellersdorf. Als sie bei einem Treffen von ihrer Flucht aus Ostpreußen erzählt, kommt etwas in Bewegung: Nach und nach beginnen auch andere Frauen, ihre Geschichten zu erzählen. Frauen aus Syrien, dem Irak, Afghanistan und Kamerun. Plötzlich gab es eine Gemeinschaft, die zuhörte. Die Erfahrungen mussten nicht mehr allein, im Stillen bewältigt werden
, heißt es im Vorwort. Die Idee für das Buchprojekt war geboren.
Der Träger des Frauencafés ist die Immanuel Albertinen Diakonie. Als die Einrichtungsleiterin nach Kooperationspartnern sucht, kommt das Leibniz-Zentrum Moderner Orient (ZMO) mit Sarah Jurkiewicz dazu. Die Kulturanthropologin forscht am ZMO zu Fragen des Ankommens und des Sich-Einrichtens
von Geflüchteten in Berlin. Für das Buchprojekt begleitet sie seit Sommer 2019 das Frauencafé. Die Gespräche führt sie zusammen mit Sprachmittlerinnen, die nicht nur bei den Übersetzungen helfen, sondern auch inhaltlich involviert sind.
Zwischenräume
ist ein Buch über Wege der Flucht, das Ankommen in Berlin und Wünsche für die Zukunft. Neun Frauen geben Einblick in ihr Leben in der Heimat – und warum sie sie verlassen mussten. Sie erinnern sich an Bekannte, die ihnen halfen, Fremde, die ihnen Unterschlupf gewährten und Konflikte, die eskalierten. Sie erzählen von ihren Odyseen zu Fuß, in Zügen und auf Booten, vom Warten in Zwischenräumen
und ihren Eindrücken von Deutschland.
Als 2015 Bomben ihr Haus treffen, beschließen Schams und ihr Mann, mit den Kindern aus Syrien zu fliehen. Zwei Wochen lang sind sie unterwegs, gehen erst in den Libanon, dann in die Türkei, später über Griechenland nach Deutschland. Besonders traumatisch ist die Fahrt über das Mittelmeer in einem überfüllten Schlauchboot, das kurz vor dem Ufer platzt. Die Familie kann sich retten, verliert jedoch Kleidung und Papiere. Auch die 22-jährige Eva kommt aus Syrien und flieht zunächst in den Irak. 2016 macht sich ihr Mann allein auf den Weg nach Deutschland, sie bleibt mit den Kindern zurück und hofft auf eine Familienzusammenführung. Bis die nötigen Papiere kommen, vergehen weitere anderthalb Jahre. Da habe ich sehr gelitten
, sagt sie und erzählt von dem konfliktreichen Zusammenleben mit ihrem Schwiegervater. In Deutschland fühlt sie sich wohl, geht derzeit auf eine Sprachschule und träumt von einer Ausbildung.
Das Ankommen in Deutschland bedeutet nicht für jede Frau gleich das große Happy End.
Zahra kommt aus Afghanistan, ist seit über fünf Jahren in Deutschland und kämpft mindestens genauso lange gegen ihre Depression. Ich habe eine Tüte voller Pillen
, sagt sie. Und dann: Ich wünschte, ich hätte ein kleines Zimmer zum Schlafen, wann immer ich wollte und aufzuwachen, wann immer ich wollte.
Für Marie ist die Flucht mit ihrer Ankunft in Deutschland noch lange nicht beendet. Die Kamerunerin musste ihre Kinder zurücklassen und alleine fliehen, weil ihr Ex-Mann ihr Leben bedrohte. Heute kämpft sie um eine sichere Aufenthaltserlaubnis, um ihre Kinder zu sich zu holen. Ich kann nur glücklich sein, wenn ich meine Kinder um mich herumhabe. Das ist mein Ziel, mein wertvollstes.
Das Buch geht sehr behutsam mit diesen Geschichten um: Die Fragen haben sich die Frauen gemeinsam überlegt. Die Gespräche wurden nur leicht gekürzt und redaktionell bearbeitet. Sie sind sowohl in deutscher Übersetzung als auch in der jeweiligen Muttersprache der Frauen – auf Arabisch, Persisch und Französisch – abgedruckt.
Zwischenräume
zeigt uns: Das Ankommen in Deutschland bedeutet nicht für jede Frau gleich das große Happy End. Und es gibt auch nicht den einen Grund zur Flucht, den einen Weg, die eine Geschichte. Es war für mich interessant zu hören, dass für die Frauen ganz unterschiedliche Erfahrungen dominiert haben
, sagt Sarah Jurkiewicz. Neben der eigentlichen Flucht gab es eben auch andere >Krisen< – Familienkonflikte, die Odyssee der Beschaffung wichtiger Papiere oder später die Situation im Heim in Deutschland.
Der Fokus ihrer Forschung habe zuvor vorrangig auf der Lebenswelt der geflüchteten Menschen hier in Deutschland gelegen. Die Gespräche mit den Frauen hätten Jurkiewicz nochmal verdeutlicht, wie wichtig es sei, auch ihre Vorgeschichten in den Blick zu nehmen, um sie zu verstehen.
VERLOSUNG
Das von Sarah Jurkiewicz herausgegebene Buch Zwischenräume: Neun Frauen erzählen über Wege der Flucht und das Ankommen in Berlin-Marzahn
ist bei tobios publishing erschienen. Falls Sie das Buch in Gänze lesen wollen: Wir verlosen drei Exemplare. Um an der Verlosung teilzunehmen, schreiben Sie bitte eine E-Mail mit dem Stichwort Zwischenräume
an: verlosung(at)leibniz-gemeinschaft.de. Einsendeschluss ist der 15. Mai 2021. Die Gewinner werden von uns per E-Mail benachrichtigt. Wir wünschen viel Glück!