Es ist der 28. September 1889, als zwei Männer in der tropischen Hitze Ostafrikas warme Wollkleidung zusammenpacken, Bergschuhe, Steigeisen, Eispickel, Schneebrillen. Dazu wissenschaftliche Geräte wie Winkelmesser, Thermometer und Kompasse. Am Nachmittag brechen sie auf, begleitet von einem kleinen Tross aus einheimischen Trägern, einem Führer und einem Koch. Sanft geht es bergan durch Bananenhaine. Von einer Hügelgruppe aus sehen sie das wellige Land unter sich liegen.
Nach drei Stunden, auf 1.700 Metern Höhe, lassen sie die letzten Pflanzungen hinter sich und kämpfen sich durch ein Dickicht aus Sträuchern und Farnen, vorbei an flechtenbehangenen Baumriesen. Bevor sie den dichten Urwald erreichen, wollen die beiden Männer ihr erstes Lager aufschlagen — der österreichische Alpinist Ludwig Purtscheller und der deutsche Forschungsreisende Hans Meyer, der sich vorgenommen hat, seinen Beitrag zur wissenschaftlichen Erkundung der Erde zu leisten.
Hans Meyer, geboren am 22. Mai 1858, stammt aus einer angesehenen Verlegerfamilie. Sein Großvater Joseph Meyer hatte im Jahr 1826 das »Bibliographische Institut« gegründet und war Herausgeber des seit 1840 erscheinenden »Meyerschen Conversationslexikons«. Auch für seinen Enkel ist eine buchhändlerische Laufbahn vorgesehen. Doch Hans Meyers Leidenschaft gilt, seit er nach dem Studium der Nationalökonomie eine Weltreise unternommen hat, der Geografie. »Nicht das Studium, sondern das Leben« habe ihn zum Geografen gemacht, wird er rückblickend festhalten. Ein Autodidakt also.
Umso dringlicher wird er zeitlebens versuchen, Anerkennung im Wissenschaftsbetrieb zu finden. Vielleicht auch deshalb hat er so ein ehrgeiziges Ziel gewählt: Meyer will, als erster Europäer überhaupt, den Kibo bezwingen, die höchste Erhebung des Kilimandscharo-Massivs. Und beweisen, dass der afrikanische Berg ein erloschener Vulkan ist. Da Meyer vermögend ist, steht ihm die Welt offen.
Am nächsten Morgen beginnt der beschwerliche Aufstieg durch den vor Feuchtigkeit triefenden Urwald. Immer dichter wird der Baumbestand. Mal müssen sie kriechen, mal klettern zwischen Wurzeln und umgestürzten Stämmen. Am Nachmittag liegt der Urwald endlich hinter ihnen. Zwei Tage lang folgen sie seinem oberen Saum Richtung Westen, bis sie in 2.890 Metern Höhe ihr »Mittellager« errichten. Hier bleibt ein Teil der Expedition zurück.
Der Rest der Gruppe setzt seinen Weg fort über von Geröll übersäte Lavafelder, die von tiefen Schluchten durchschnitten sind. »Es ist eine fast melancholisch-ernste Landschaft, in die wir eingedrungen sind«, schreibt Meyer in sein Expeditionstagebuch. Bald haben sie ihr Ziel ständig vor Augen, den Kibo mit seiner blendend weißen Eishaube, der nun in ganzer Größe zu sehen ist. Auf 4.330 Metern Höhe werden die letzten Träger ins Lager zurückgeschickt. Meyer und Purtscheller sind nun allein, nur ihr Begleiter Muine Amani ist bei ihnen. Sie beziehen ihr letztes Lager. Von hier aus soll am nächsten Morgen der Aufstieg zum Kibo beginnen.
Ein eisbedeckter Berg in Afrika! Inmitten dieser heißen Klimazone, nur in geringer Entfernung vom Äquator. Kaum mehr als 40 Jahre ist es her, als eine staunende und zweifelnde Öffentlichkeit erstmals von der Existenz eines geheimnisvollen Schneeberges im Herzen Afrikas gehört hat. Im April 1848 war der deutsche Missionar Johannes Rebmann bei Mombasa in das noch unerforschte Innere des Kontinents aufgebrochen, um neue Missionsgebiete zu erkunden.
Am 11. Mai sieht er den höchsten Berg Afrikas und seinen »wunderschönen schneebedeckten Gipfel« über der Baumsavanne auftauchen. Sein 1849 veröffentlichter Bericht, in dem er den Berg mit der weißen Krone erwähnt, widerspricht allen Vorstellungen, die man sich in Europa von Afrika macht, scheint fantastisch, völlig unwahrscheinlich. Viele europäische Gelehrte zweifeln Rebmanns »afrikanisches Wunder« an. Auch dann noch, als ein weiterer Missionar, Ludwig Krapf, ein Jahr später ebenfalls den leuchtenden Berg sieht und Rebmanns Entdeckung bestätigt.
Doch es gibt auch Menschen, die sich von den Berichten beflügeln lassen, englische, vor allem aber deutsche Forscher machen sich auf den Weg. Sie alle sind überwältigt von der majestätischen Erscheinung des Berges, der sich unvermittelt aus der Savanne erhebt. Da seine höheren Regionen meist von einem Wolkenband umgeben sind, wirkt die aus dem Dunst ragende Schneekuppel des Gipfels wie schwebend, ohne Verbindung zum Erdboden. Seit Rebmanns Entdeckung haben mehr als 50 Expeditionen versucht, das Massiv zu bezwingen — und sind gescheitert.
Er kritisiert die grausame Behandlung der Menschen, die Kolonialpolitik stellt Meyer aber nicht infrage.
Auch Meyer hat bereits zwei erfolglose Anläufe unternommen. 1887 gelangt er bis auf 5.450 Meter Höhe. An einer Eiswand muss er aufgeben, ihm fehlt die alpine Ausrüstung. Doch so hoch wie er, bis zur Schneegrenze, ist bislang kein anderer Mensch vorgestoßen. Schon ein Jahr später beginnt Meyer im August eine zweite Afrikaexpedition. Diesmal ist er besser ausgerüstet. Doch auf seinem Weg ins Landesinnere gerät er mitten hinein in die Wirren eines Aufstandes. Von einem arabischen Stamm wird Meyer gefangen genommen. Erst nach Zahlung eines hohen Lösegeldes kommt er frei. Was Meyer hier miterlebt, ist der Beginn der ersten größeren Rebellion der Küstenbevölkerung gegen die junge deutsche Kolonialmacht, des ersten deutschen Kolonialkriegs.
In Deutschland beginnt der Kolonialismus spät und zögerlich. Reichskanzler Otto von Bismarck ist überzeugt, dass die Unterwerfung fremder Völker nur Kosten für das Deutsche Reich bedeutet. Zudem will er keine Spannungen mit europäischen Mächten riskieren. Daher sind es zunächst private Unternehmungen, welche die koloniale Erschließung, auch in Ostafrika, vorantreiben.
Ende 1884 trifft der Deutsche Carl Peters auf Sansibar ein, Ausgangspunkt für Expeditionen ins Landesinnere. Er ist Gründer der »Gesellschaft für Kolonisation«, die Siedlungsland in Ostafrika erwerben und damit die Basis für die Gründung einer deutschen Kolonie bilden soll. Peters ist nicht nur überzeugter Nationalist. Er ist auch Sozialdarwinist und Rassist. Für ihn sind die Deutschen »die erste Rasse der Welt«. Daraus leitet er die Legitimation für den Kolonialismus ab: »die rücksichtslose und entschlossene Bereicherung des eigenen Volkes auf anderer schwächerer Völker Unkosten.«
Mit billigen Geschenken und falschen Versprechungen überzeugt Peters die Häuptlinge des Küstenhinterlandes, ihr Land unter den Schutz seiner Gesellschaft zu stellen. Tatsächlich sind diese »Schutzverträge« betrügerische Landabtretungsverträge. In einem fünfwöchigen Eilmarsch reißt Peters so ein Stück Afrika an sich, groß wie ganz Süddeutschland. Um weiteres Land zu erwerben, gründet er die Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft (DOAG). Da auch die britische Konkurrenz bei der Aneignung der »noch freien« Gebiete in Ostafrika aktiv ist, beschließt er, »zu fressen wie die Wölfe«. Plünderungen, Mord und Verwüstungen begleiten seine Raubzüge.
Zum Streitobjekt wird bei diesem Wettlauf um Ostafrika der Kilimandscharo, begehrt wegen des guten Klimas und seiner fruchtbaren Böden. Ende 1886 grenzen die beiden Länder ihre ostafrikanischen Einflusssphären ab. Die am Verhandlungstisch gezogene Grenzlinie macht, wo sie auf das Bergmassiv trifft, einen plötzlichen Knick, um dann schnurgerade weiterzuverlaufen. Der Kilimandscharo ist nun deutsch. Doch noch immer ist der Kibo, seine höchste Spitze, unbezwungen.
HINTERGRUND
200 Nachlässe von Geografen und Forschungsreisenden bewahrt und untersucht das Leibniz-Institut für Länderkunde (IfL) in Leipzig. Der von Hans Meyer zählt zu den umfangreichsten: Neben persönlichen Dokumenten und Expeditionstagebüchern beinhaltet er Skizzen, Fotografien und Meyers Bibliothek. HEINZ PETER BROGIATO, Leiter des Archivs des Instituts sowie Herausgeber des Bandes »Meyers Universum«, der Hauptquelle dieses Textes, sieht Meyers wissenschaftliche Leistung nicht allein in der Erstbesteigung des Kilimandscharo: »Auf seinen späteren Expeditionen gewann er neue Erkenntnisse zur Vulkanologie und Glaziologie. Die tropischen Hochgebirge waren sein großes Forschungsthema.«
Ein Jahr nach seiner Gefangennahme bricht Meyer zu seiner dritten Expedition zum Kilimandscharo auf. Seit er den schneebedeckten Berg gesehen hat, ist er »erfüllt von dem Gedanken, daß dieser höchste Berg Deutschlands auch zuerst von einem Deutschen erstiegen werden müsse.« Hans Meyer denkt nicht nur wie viele seiner Zeitgenossen deutsch-national. Er ist auch glühender Anhänger der Kolonialpolitik. Sein ganzes Leben wird für ihn außer Frage stehen, dass Deutschland »überseeische Besitzungen« benötigt, um seine Rolle als Weltmacht ausüben zu können.
Meyer geht es um die wirtschaftliche Erschließung Ostafrikas. Und um die Nutzung der Arbeitskraft der Afrikaner. Die ihnen allerdings erst anerzogen werden müsse. Für »urteilslose Naturkinder« hält er die Einheimischen, wie die meisten Europäer: »Gewiß ist der Neger ein Kind«, schreibt er, »und zwar ein Kind, das Führung braucht, mal mit Peitsche, mal mit Lob und Tadel.« Ihm gelingt nach eigenen Bekunden die »Einhaltung des rechten Mittelweges«.
Meyer will, dass die Afrikaner so erzogen werden, dass sie irgendwann aus innerer Überzeugung arbeiten. Zum Wohle und Nutzen des Deutschen Reiches. Daher kritisiert er auch die DOAG wegen ihrer grausamen Behandlung der Eingeborenen. An seine Eltern schreibt er: »So etwas von Planlosigkeit, Rücksichtslosigkeit (...), von Geldverschleuderung, Unfähigkeit und leider auch Rohheit, wie bei diesen Leuten, ist mir nie vorher vorgekommen!« Die Kolonialpolitik selbst aber stellt er nicht infrage.
Als Meyer 1889 zu seiner dritten Kilimandscharo-Tour aufbricht, herrscht noch immer Krieg. Da die DOAG ihre Kolonie allein nicht halten kann, hat das Reich eingegriffen: mit Geld und einer eilig zusammengestellten Truppe afrikanischer Söldner, die sich anschickt, den Aufstand grausam niederzuschlagen.
Wegen des Aufstandes marschiert Meyer, diesmal in Begleitung des Alpinisten Ludwig Purtscheller, durch britisches Gebiet Richtung Kilimandscharo. Nicht ohne Grund bricht er schon zum dritten Mal innerhalb von drei Jahren auf. Ein Wettlauf um die europäische Erstbesteigung des Kilimandscharo hat begonnen. Diejenigen, die sich jetzt auf den Weg machen, suchen nicht mehr eine geheimnisvolle terra incognita, wie frühere »Entdecker« und auch Meyer, sondern sind auf der Jagd nach Rekorden und Höchstleistungen. Keine bergsteigerische Herausforderung wird in der Öffentlichkeit mit größerer Spannung verfolgt als die Eroberung des höchsten Berges von Afrika.
Ich pflanzte auf dem Lavagipfel eine kleine deutsche Fahne.
HANS MEYER
Es ist mitten in der Nacht, als Meyer und Purtscheller am 3. Oktober zur letzten Etappe des Aufstiegs aufbrechen. Anfangs noch bei Dunkelheit kämpfen sie sich über Lavablöcke und Schutthalden, »bis wir endlich um 9 Uhr 50 Minuten an der unteren Grenze des geschlossenen Kibo-Eises in 5480 m Höhe anlangten.« Hier beginnt der schwierigste Teil des Aufstiegs. Zum Schutz gegen das grelle Sonnenlicht haben die Männer Schneebrillen aufgesetzt und Schleier über das Gesicht gezogen. Mit ihren Eispickeln schlagen sie Stufe für Stufe in das harte Eis.
Elf Stunden kräftezehrende Steigarbeit in der dünnen Höhenluft liegen hinter ihnen, dann: »Endlich, gegen zwei Uhr näherten wir uns dem höchsten Rand. (...) Den ganzen oberen Kibo einnehmend öffnete sich in jähen Abstürzen ein riesiger Krater. Diese längst erhoffte und mit allen Kräften erstrebte Entdeckung war mit so elementarer Plötzlichkeit eingetreten, daß sie tief erschütternd auf mich wirkte.«
Doch die Bergsteiger müssen erkennen, dass sie die höchste Erhebung des Kibo auf der Südseite des Kraterrandes nicht erreicht haben. An eine Übernachtung in dieser Höhe ist nicht zu denken, sie würden erfrieren. Vorläufig muss sich Meyer mit seinem wissenschaftlichen Erfolg zufrieden geben, »die von vielen Seiten angezweifelte Existenz eines Kraters auf dem Kibogipfel war nachgewiesen.« Am frühen Nachmittag machen sich die Männer an den Abstieg ins Lager.
Am Mittag des 5. Oktobers brechen Meyer und Purtscheller erneut auf. Auf 4.650 Metern Höhe finden sie eine Lavahöhle, in der sie bei minus zwölf Grad übernachten. Um drei Uhr früh sind sie erneut auf dem Weg. Drei Stunden später gelangen sie zu den Stufen, die sie ins Eis gehauen haben. Bald erreichen sie den obersten Kraterrand, von dem aus sie anderthalb Stunden in Südwestrichtung marschieren. Dann, endlich, haben sie ihr Ziel erreicht: die Spitze des Kraterrands, den höchsten Punkt Afrikas, 5.895 Meter über dem Meeresspiegel.
»Um 1/2 11 Uhr!«, hält Hans Meyer fest, »betrat ich als erster die Mittelspitze. Ich pflanzte auf dem verwitterten Lavagipfel mit dreimaligem, von Herrn Purtscheller kräftig sekundiertem »Hurra« eine kleine, im Rucksack mitgetragene deutsche Fahne auf ...« Als schaue ganz Deutschland zu, folgt die Taufzeremonie, ganz im Geiste der Zeit. »Mit dem Recht des ersten Ersteigers taufe ich diese bisher unbekannte, namenlose Spitze des Kibo, den höchsten Punkt afrikanischer und deutscher Erde: ›Kaiser-Wilhelm-Spitze‹.«
Nach Meyers Rückkehr nach Deutschland wird er vom Kaiser persönlich empfangen. Meyer überreicht ein Geschenk: einen Lavastein, den »Gipfel des Kilimandscharo«. Die Erstbesteigung und ihre nationale Symbolik machen Meyer zu einem der populärsten Forschungsreisenden seiner Zeit. Voller Stolz wird in Zeitungen und Zeitschriften notiert, dass Deutschland nun einen Sechstausender besitzt — anders als die Schweiz, Frankreich oder Österreich.
Mag die Öffentlichkeit auch Meyers alpinistische Pioniertat betonen, in seinen Büchern und Reiseberichten steht die geografische Forschung im Mittelpunkt. Wo immer er ist, stets sammelt er, misst, fotografiert und kartografiert. Beschreibt Gestein, Tierwelt, die vielfältigen Vegetationszonen des Kilimandscharo. Seine Texte zeugen nicht nur von wissenschaftlicher Sorgfalt, sondern auch von literarischem Können. 1915 erhält Meyer endlich die Anerkennung, die er immer angestrebt hat: Er wird als Professor auf den Lehrstuhl für Kolonialgeografie und Kolonialpolitik in Leipzig berufen.
Der Erste Weltkrieg beendet die kurze Kolonialphase Deutschlands. Der Vertrag von Versailles verpflichtet das besiegte Reich, sämtliche überseeischen Besitzungen abzutreten. Das britische Empire übernimmt den größten Teil Deutsch-Afrikas. Samt Kilimandscharo, bis der 1922 dem Mandat des Völkerbundes unterstellt wird, wobei Großbritannien zunächst die Verwaltung behält. Das Ziel: »Tanganyika« soll zu einem Land der Einheimischen werden.
Für Meyer ist der Verlust der Kolonien eine Katastrophe. Er sieht darin einen Raub, die Zerstörung seines Lebenswerkes. Noch Mitte der 1920er Jahre steht für ihn fest: »Der Kilimandjaro war unser — und er soll wieder unser werden.« Bis zu seinem Tod 1929 ist er ein Revisionist, der nicht müde wird, die Wiedererlangung des Kolonialbesitzes zu fordern.
29 Jahre wehte auf dem Kilimandscharo die deutsche Flagge, 43 Jahre die britische. Am 9. Dezember 1961 wird das frühere Deutsch-Ostafrika als Tanganjika unabhängig. Der neue Staat lässt auf dem Gipfel seine eigene Fahne hissen und tilgt den kolonialen Namen. Aus der »Kaiser-Wilhelm-Spitze« wird der »Uhuru Peak« — die Freiheitsspitze.