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Stück für Stück kehrt er zurück: der Alltag. Seine Bedeutung hat sich indes stark gewandelt. Vorher ein Bremsklotz am Bein – Raus aus dem Alltag! Mach mal was Ungewöhnliches! – ist in Zeiten von Lockdowns, Isolation und Social Distancing gerade die vertraute Normalität zu einer sehnsüchtigen Vorstellung geworden. So beginnen wir, unser Verhältnis zum Alltag neu auszuloten.

Bisher war da ein langweiliger Beigeschmack. Denn unsere Gesellschaften sind zunehmend durch eine Logik des Besonderen geprägt, wie der Soziologe Andreas Reckwitz analysiert: Das Einzigartige wird wertgeschätzt, das Standardisierte abgewertet. So wird der Alltag immer unattraktiver, er, der alle Tage stattfindet, der Standard-Tag. Es ist gut, wenn wir den Hype ums Außergewöhnliche nun stärker an unsere eigentlichen Bedürfnisse rückkoppeln. Anstatt aus dem Alltag auszubrechen, geht es darum, einen positiven Alltag zu gestalten.

Bleibt ein Fallstrick, vor dem schon Gottfried Wilhelm Leibniz warnte: »Es scheint, die allzu große Bequemlichkeit sei nicht gut; indem sie macht, dass die Menschen ihr Leben mit ihrer Zeit gleichsam unbemerkt verlieren und es nicht genügend brauchen noch empfinden«, schrieb er. Entsprechend lebte er auch. Leibniz war ständig auf Achse, reiste durch Europa, von einer Herausforderung zur nächsten. Und es stimmt: Wenn wir uns in eintönigen Bahnen bewegen, fließen die Tage ineinander, sind kaum voneinander zu unterscheiden, schon ist wieder eine Woche rum. Viele Menschen haben das während der Lockdowns deutlich erfahren. Allerdings bekommen wir genauso wenig mit, wenn wir von einem Event zum nächsten jagen – weil kein Raum mehr ist, all das bewusst wahrzunehmen. Liegt die Lösung in der goldenen Mitte?

Vielleicht ist das Maß an Abwechslung gar nicht so entscheidend. Zum Problem wird Alltag weniger als Tagesstruktur, sondern als Geisteshaltung. Aus Bequemlichkeit vermeiden wir Reibungen. Das sind Momente zwischen Komfort- und Panikzone, wenn wir mit etwas konfrontiert werden, irritiert sind, da geschieht etwas mit uns. Die Bereitschaft hierfür wird auch deshalb immer wichtiger, weil gesellschaftliche Umbrüche zunehmen und Alltage immer wieder neu aufbrechen.

Die Frage ist daher vor allem: Welchen Alltag wollen wir? Ein weltgeschichtlicher Einschnitt wie der durch Covid ist genau der richtige Zeitpunkt, um solche Grundsatzfragen privat und gesellschaftlich zu stellen. Aber dazu müssen wir innehalten und uns nicht schon wieder verschlucken lassen: vom Alltag.

CHRISTIAN UHLE

ist Philosoph und lebt in Berlin. Wenn er sich nicht gerade für uns durch Leibniz‘ umfangreiches Werk gräbt, beschäftigt er sich unter anderem mit Fragen von Sinn, Freiheit oder neuen Technologien. Außerdem moderiert er die Veranstaltungsreihe Philosophie des Digitalen.

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