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Was macht den Menschen aus? Viele Philosophen waren sich einig: Es ist der sprachliche Verstand, welcher uns von der Tierwelt unterscheidet. Kein Wunder, dass Denker ausgerechnet zu diesem Schluss kamen. Immerhin ist Philosophie selbst eine recht verkopfte Angelegenheit. So wurden andere Aspekte, die unser Mensch-Sein kennzeichnen, häufig vernachlässigt. Darunter Emotionalität, Körperlichkeit und: Technik.

Gottfried Wilhelm Leibniz war in dieser Hinsicht eine der Ausnahmen. Schon im 17. Jahrhundert, also vor der industriellen Revolution, erkannte er, dass die Welt sich ändert und die Menschen geschickter werden, indem sie tausend neue Kunstgriffe erfinden, während die Hirsche und Hasen der Gegenwart nicht schlauer sind als die der Vergangenheit. Was den Menschen also zunehmend von der Natur scheidet, ist die Technik. Vermutlich verdankte Leibniz diese pragmatische Sicht seinen breiten Interessen. Er philosophierte nicht nur, sondern war auch Mathematiker, Jurist, Politiker – und Erfinder. So entwickelte er Rechenmaschinen und Entwässerungsanlagen.

Heute, 300 Jahre später, lässt sich mit Leibniz‘ Aussage niemand mehr schocken. Zu offensichtlich und allgegenwärtig ist der Einfluss von Technologie auf unser tägliches Leben. Ob im Auto oder im Zoom-Call, überall sind wir von ihr umgeben. Technologie strukturiert das große Ganze, wie die Globalisierung oder bewaffnete Konflikte. Und sie strukturiert die kleinen Momente beim Kochen oder Netflixen, unsere Arbeit und Lebenszeit.

Deshalb ist es wichtig, über Technik nachzudenken. Schon längst prägt sie Selbstverständnisse und Weltzugänge. Denn meist ist das Grundverhältnis eben nicht: Ich-Welt. Sondern: Ich-Technik-Welt. In Zeiten von Videokonferenzen wird das besonders spürbar. Dann eröffnet Technik neue Welten, aber stellt sich auch dazwischen, bringt das Gegenüber auf Distanz, macht Erfahrungen mittelbar. Es droht, was Philosophen eine Verdinglichung nennen: Was außerhalb meiner selbst liegt, wird eher als Objekt verstanden denn als Gegenüber empfunden. Dieser Effekt ist kein Zufall. Denn der technische Blick begreift Welt als etwas, das entsprechend der eigenen Bedürfnisse gestaltet werden kann.

Heute erleben wir die Kehrseite dieses Blicks. Der fortschreitende Klimawandel ist eine unmittelbare Folge von Technologie. Wir beginnen zu verstehen: Unser evolutionäres Überleben hängt davon ab, dass wir wieder lernen, uns an natürliche Rahmenbedingungen anzupassen – wie alle anderen Spezies auch. Die Natur lässt sich nicht unendlich in den Dienst menschlicher Zwecke stellen. Es braucht ein Wechselspiel.

Seit Leibniz ist also viel passiert. In unvorstellbar viel intensiverer Weise durchdringt Technik unseren Alltag, Wirtschaft und Gesellschaft. Vieles daran hätte den Universalgelehrten sicher begeistert. Aber eines vermutlich nicht: dass technologische Innovation so häufig als Selbstzweck gesehen wird, als automatisch gut. Für Leibniz standen gesellschaftliche Entwicklungen im Vordergrund. Er war eben nicht nur Erfinder, sondern dachte verschiedene Bereiche des Mensch-Seins zusammen.

Vielleicht können wir darin auch Ansätze für eine Zukunftsgestaltung finden. Technologie kann dem Fortschritt dienen, sie selbst ist aber noch kein Fortschritt. Was aber ist dann Fortschritt, wenn nicht Bildschirme in HD-Auflösung?

Das können wir nur gemeinsam entscheiden. Für diese Verständigung brauchen wir gerade, was Philosophen so gern hochhalten: Sprache und Verstand. Und vielleicht auch den Mut, sich anzupassen, an eine Welt, die wir erspüren, anstatt sie auf Distanz zu bringen.

CHRISTIAN UHLE

ist Philosoph und lebt in Berlin. Wenn er sich nicht gerade für uns durch Leibniz‘ umfangreiches Werk gräbt, beschäftigt er sich unter anderem mit Fragen von Sinn, Freiheit oder neuen Technologien. Außerdem moderiert er die Veranstaltungsreihe Philosophie des Digitalen.

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