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Willkommen bei den Erbsenzählern und Wortklaubern. Willkommen auf den Diskussionsseiten von Wikipedia. Über jedem Artikel führt ein Klick auf den Reiter »Diskussion« mitten hinein in den Schlagabtausch hinter den Kulissen. Wer sich als Autor der Online-­Enzyklopädie etablieren will, muss hier durch. Hier handelt der Schwarm aus, was relevant ist, wie ein Artikel verständlich wird und welche Quellen zugelassen sind.

Eine Zeit lang war der ruppige Umgangston legendär, der neue Autoren verschreckte. »So schwierig die Diskussionen oft sind, sie wirken sich positiv auf die Artikel aus«, sagt Ulrike Cress. Die Psychologin erforscht am Tübinger Leibniz­-Institut für Wissensmedien (IWM), wie Internetbenutzer gemeinsam Wissen konstruieren. Sie sagt, nicht nur das Wissen der einzelnen Autoren sei für die Qualität entscheidend, sondern die spezifische Struktur von Wikipedia und der »Schwarm« der Wikipedianer.

Fast jeder in Deutschland nutzt Wikipedia, aber nur die wenigsten tragen selbst etwas bei. »Hierzulande gibt es etwa 1.000 sehr aktive Autoren mit mehreren Hundert Beiträgen pro Monat«, sagt Cress. Der Schwarm ist also erstaunlich klein. Und homogen: »Der typische Autor ist Mann und Akademiker.« Cress hat herausgefunden, dass die Diskussion den eigentlichen Reiz von Wikipedia ausmacht — trotz oder gerade wegen des oft nervtötenden Hin und Hers.

»Die Autoren wollen sich gezielt in neue Themengebiete einarbeiten und finden über das Feedback heraus, ob sie mit ihren Beiträgen auf der richtigen Spur sind.« Selbst bei heiklen Themen wie »Schulmedizin contra alternative Heilmethoden« streitet man weitgehend manierlich, stellte Cress fest. Nicht die Umgangsformen seien also der Grund, warum sich neue Autoren so schwer tun.

»In diesem menschlichen Schwarm geben eben nicht einige die Richtung vor und die anderen folgen«, sagt Cress. »Durch ihre Beiträge formt die Masse eine Struktur. Sie besteht aus akzeptierten Texten und einem Meta-­Wissen, das festlegt, was in Zukunft akzeptiert wird.« Neue Autoren müssten sich diese Konventionen zunächst erarbeiten. Für den Wiki­-Schwarm seien deshalb Ameisen die passendere Analogie als Fische oder Zugvögel. »Wenn Ameisen einen Hügel bauen, muss sich jede neue Ameise darin zurechtfinden. Der Hügel legt fest, wie sie sich verhält. Damit ist gesichert, dass er über Generationen hinweg stabil bleibt.«

Am Beispiel eines Artikels über das Kernkraftwerk Fukushima Daiichi konnte Cress zeigen, wie rasant Wissen eingefügt und stetig korrigiert wird. Auf der Meta­-Ebene diskutierte der Schwarm gleichzeitig, welche Quellen glaubwürdig und welche Verlinkungen sinnvoll seien. »Der Artikel ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Konventionen von Wikipedia zu Artikeln mit ausgesprochen hoher Qualität und Glaubwürdigkeit führen.«

Müssen wir die Idee einer Welt-Enzyklopädie aufgeben?

Dass die Vision eines demokratischen Wissensfundus aber nicht allein auf den Schultern einiger tausend Power­User ruhen kann, ist auch der Wikimedia­-Stiftung klar, die Wikipedia betreibt. Sie verfolgt unter anderem die Strategie, aus Gelegenheitsautoren fleißige Ameisen zu machen, »denn je mehr jemand schreibt, desto besser kennt er die Regeln und desto besser schreibt er Wiki­-Artikel«, sagt Cress. Wissenschaftler zum Beispiel spricht Wikipedia gezielt mit Workshops an.

Das Arbeiten mit der Wiki­-Struktur kann die Zusammenarbeit in der Forschung selbst voranbringen. Viele nutzen bereits die zugrundeliegende Software von Wikipedia, so auch das Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF). Christoph Schindler und sein Team stellten aber fest, dass Bildungsforscher eigene Ansprüche haben: »Wir arbeiten etwa mit sensiblen persönlichen Daten aus Interviews oder mit urheberrechtlich geschützten Quellen.« Es sei undenkbar, das einfach bei Wikipedia hochzuladen und beliebige Autoren darauf loszulassen.

Basierend auf einer Wiki­-Software hat das Team am DIPF deshalb mit dem Karlsruher Institut für Technologie die Forschungsumgebung »Semantic CorA« entwickelt. Zurzeit erproben mehrere Forschende, wie gut sich in diesem »Schwarm« arbeiten lässt, indem sie digitalisierte Quellen analysieren und Strukturen zwischen den Texten aufbauen. Mit ihrem Feedback soll »Semantic CorA« weiterentwickelt und dann auch für andere Geistes­ und Sozialwissenschaften nutzbar werden.

Ulrike Cress vom IWM glaubt, dass Wikipedia bald vor einer großen Entscheidung steht: »Entweder organisieren sie sich neu und sichern durch Top-­down­-Strukturen gezielt den qualitativen Ausbau von Themen, für die es nicht viele Autoren gibt.« In einigen Ländern müssten Beiträge bereits von Administratoren freigegeben werden. Ob das Projekt trotzdem demokratisch und transparent bleibt, müsse sich zeigen. Oder: »Wikipedia muss die Vision einer umfassenden Welt­-Enzyklopädie aufgeben.«

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