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Die Elisabeth Mann Borgese schaukelt über die Wellenberge. Das deutsche Forschungsschiff ist Ende Juni im Fehmarnbelt unterwegs, der Meerenge in der Ostsee zwischen Deutschland und Dänemark. Alexander Darr könnte im Inneren des Schiffes durch die Bullaugen die verwehte Gischt und erste Brecher erkennen, wenn er denn hinaus schauen würde.

Der Meeresökologe vom Leibniz-Institut für Ostseeforschung Warnemünde (IOW) hat aber seinen Blick gebannt auf einen Bildschirm gerichtet. Dort zu sehen ist, was die Kameras, die das Schiff hinter sich herzieht, vom Meeresboden aufnehmen und live in den Kontrollraum übertragen.

Was Darr sieht, ist ein Steinriff. Es ist ein Relikt aus der Eiszeit. Vor Tausenden von Jahren war die Fläche zwischen Deutschland und Dänemark Festland, in der Steinzeit erstreckten sich dort Wälder, Seen und Flüsse. In der Eiszeit breiteten sich dann Gletscher aus und schoben Geröll vor sich her, von denen Findlinge liegen blieben, also meist einzelne große Steine.

Als sich die Welt wieder erwärmte, die Eisschilde in Skandinavien abschmolzen und der Meeresspiegel stieg, flutete das Wasser die Landschaft und das marine Leben zog ein – besonders auf und rund um dem Blockschutt der einstigen Gletscher: Dort siedelten sich Algen, Muscheln und Schwämme an und suchen Fische bis heute Schutz und Nahrung.

Auf dem Bildschirm erkennt Darr eine Art Wald im Meer: Die Steine sind flächendeckend mit Großalgen und Geweihschwämmen überwachsen, die sich wie ein Baum verzweigen. Sie beherbergen Schnecken, Asseln und Fische, welche die Algen abgrasen. Diese sogenannten Grazer locken wiederum Raubfische wie Seeskorpione, Klippenbarsche und Lippfische an. Sogar Dorsche sieht Darr immer wieder um die Steine herumschwänzeln, und das, obwohl ihre Bestände in der Ostsee massiv eingebrochen sind.

Eine Flunder liegt auf von Miesmuscheln übersäten Hartgrund.
Eine Flunder auf Hartgrund. Foto: IOW/W. Stohr

Ausgerechnet die Megaprojekte bringen die Vielfalt der Ostsee zum Vorschein.

Aber es geht noch weiter die Nahrungskette hinauf: Auch Kegelrobben, Schweinswale und Seevögel werden von den Oasen am Meeresboden angelockt. Das Ganze ist bunt, sehr artenreich und funktionell von großer Bedeutung als Biodiversitäts-Hotspot, sagt der 45-Jährige während einer Arbeitspause im Telefongespräch von der Brücke der Elisabeth Mann Borgese.

Die Ostsee hat eigentlich keinen guten Ruf, was das Leben in ihr angeht. Die vorherrschende Meinung ist: Das Binnenmeer besteht doch nur aus Sand- und Schlickwüste. Es ist grün, schlammig und mehr oder weniger tot, nicht zuletzt weil sich im salzarmen Brackwasser weniger Arten wohl fühlen als im Salzwasser der Weltmeere oder im Süßwasser der Binnengewässer. Dieses Denken scheint sich in der Politik und den Genehmigungsbehörden fortzusetzen, sagt der Meeresschutzexperte Kim Detloff vom Naturschutzbund Deutschland.

Ein Grund dafür: Bis vor wenigen Jahren war nur wenig bekannt über das Innenleben der Ostsee fernab der Küsten. Die Umweltüberwachung fand lange Zeit fast nur in den Meeresbecken statt, die besonders von der Eutrophierung gebeutelt sind, also der Anreicherung von Phosphor und Stickstoff aus Landwirtschaft, Verkehr und Kläranlagen. Diese Nährstoffe lassen ganze Matten an wuchernden, fädigen Algen gedeihen, welche den Meeresboden überwachsen und die dort lebenden Tiere ersticken.

Die flächendeckende Kartierung des Meeresbodens ist erst in den letzten Jahren notwendig geworden durch den gewachsenen Nutzungsdruck, sagt Alexander Darr. Gemeint sind die Megaprojekte, mit denen die Politik die Ostsee erschließen will: Offshore-Windparks, Gaspipelines, Verkehrstunnel.

Ironischerweise tragen diese Megaprojekte nun dazu bei, das vielfältige Leben in der Ostsee zum Vorschein zu bringen. Natur und Wirtschaft geraten deshalb in Konflikt. Beispiel Fehmarnbelt-Tunnel. Dieser 17 Kilometer lange Absenktunnelsoll Deutschland und Dänemark verbinden. Der Baubeginn wurde allerdings immer wieder verschoben und ist aktuell für das kommende Jahr geplant. Allerdings hat sich nun eine handfeste Hürde aufgetan: die Steinriffe.

Pink-rötlicher Seestern liegt auf Hartgrund.
Ein Sonnenstern. Foto: Uni Rostock/G. Niedzwiedz

Taucher im Auftrag des NABU haben vergangenes Jahr zwei Riffe nahe der geplanten Trasse entdeckt, woraufhin auch das Umweltministerium aus Schleswig-Holstein das Gebiet untersuchen ließ – und auf ein drittes Riff stieß, das direkt auf dem geplanten Bauabschnitt liegt. Gemäß der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie der EU gelten Steinriffe aber als geschützter Lebensraum. Für die küstenfernen Meeresschutzgebiete außerhalb der Zwölfmeilenzone Deutschlands hat das Bundesamt für Naturschutz erst kürzlich Managementpläne entworfen, um die Ostsee weniger zu verschmutzen und insbesondere Steinriffe zu schützen und wieder aufzubauen.

Das Riff, das Alexander Darr Ende Juni im Auftrag des Bundesamts für Naturschutz (BfN) kartiert, liegt etwas westlich des geplanten Ostseetunnels. Es stellte sich heraus, dass es mehr Arten beherbergt und deutlich größer ist als ursprünglich ausgewiesen. Insgesamt fanden Darr und seine Kollegen bis zu 400 Arten im Fehmarnbelt, die Hälfte lebte in den Riffen.

Immer wieder werden die Forscher überrascht von dem, was sie dort entdecken. So fand Darr heraus, dass Makroalgenwälder mit Arten wie dem Blutroten Meerampfer oder dem Zuckertang deutlich tiefer im Wasser wachsen, als noch vor zehn Jahren zu Beginn der Untersuchung gedacht: bis in 21 Meter Wassertiefe. Damit haben wir nicht gerechnet, sagt Darr.

Aber auch unterhalb der Verbreitungsgrenze der dichten Algenbestände setzen sich die Riffe fort. Seenelken, Schwämme, Krabben, sogar einen Sonnenstern hat Darr vergangenes Jahr mal entdeckt, ein Seestern mit zwölf Armen, der in der Ostsee letztmals vor 100 Jahren dokumentiert worden war. Insgesamt ist alles deutlich vielfältiger und bunter, als wir uns das vorgestellt haben, sagt Darr.

Das gilt teilweise auch für die Sandbänke in der Ostsee: Diese sandigen Erhebungen liegen fernab der Küste und heben die dort lebenden Arten buchstäblich aus der sauerstoffarmen Zone heraus. Auch Seevögel nutzen sie gerne zum Rasten. Ein dritter schützenswerter Lebensraum sind die Seegraswiesen im lichtdurchfluteten Flachwasser, die ebenfalls Jungfischen, Muscheln und Seesternen Unterschlupf bieten, während kleine Schnecken und Krebse die bis zu zwei Meter langen Blätter abnagen.

Wir sollten es vermeiden, in geschützten Lebensräumen zu bauen.

ALEXANDER DARR

Wissenschaftler Alexander Darr schaut lächelnd in die Kamera, im Hintergrund die Ostsee.
Foto: IOW/K. Beck

Am artenreichsten sind aber die Steinriffe. Da tobt das Leben, sagt Kim Detloff vom NABU. Doch die dortigen Ökosysteme mit zahlreichen Rote-Liste-Artensind insbesondere im Flachwasser durch Eutrophierung bedroht. Durch die hohe Nährstofffracht wird die natürliche Gemeinschaft durch schnellwachsende, mehrjährige Algen überwuchert, so dass die eigentlich typischen Arten nicht mehr wachsen können, sagt Meeresforscher Alexander Darr.

Aber auch an den Hanglagen lagert sich organisches Material ab, das Muscheln, Seesterne und Co. unter sich begräbt. Im Bericht zur Lage der Natur in Deutschland, den das Umweltministerium kürzlich herausgegeben hat, schneidet der Zustand der Riffe deshalb auch als schlecht (Nordsee) und unzureichend (Ostsee) ab.

Bedroht sind auch imposante Tiere, die viele wohl gar nicht in der Ostsee vermuten würden: Wale. Genauer: Schweinswale. Ein paar Hundert Exemplare dieser bis zu 1,85 Meter langen Meerestiere schwimmen noch in der Zentralen Ostsee. Aber neben Umweltgiften, Überfischung und Vermüllung macht den Schweinswalen vor allem die Stellnetzfischerei zu schaffen– in den engmaschigen Netzen verheddern sie sich mit ihren Mäulern und Flossen und ersticken.

Gegen Frankreich, Spanien und Schweden hat die EU-Kommission im Sommer deshalb ein Verfahren eingeleitet, um die Beifänge zu vermeiden. Unserer Ansicht nach hätte die Kommission das Verfahren auch gegenüber Deutschland und Polen eröffnen müssen, denn beide Länder sind genauso mitverantwortlich am Verschwinden der Meeressäuger, sagt Fabian Ritter, Meeresbiologe von der Tierschutzorganisation Whale and Dolphin Conservation (WDC).

Ein Seehase, ein gelber Fisch schwimmt zwischen Miesmuscheln.
Ein Seehase. Foto: Uni Rostock/G.Niedzwiedz

Im Fehmarnbelt, wo Darr auf der Elisabeth Mann Borgese herum schippert, ist die Situation zumindest für die Steinriffe und das Leben, das sie beherbergen, noch vergleichsweise gut, weil die starke Strömung und die Nähe zur Nordsee immer wieder für frische Wasserzufuhr sorgen und keine allzu großen Ablagerungen zulassen. Außerdem wird dort kaum gefischt. Ein bis zu 140 Meter breiter Graben im Meeresgrund, wie er für den Ostseetunnel angedacht ist, könnte die relativ unberührte Lage dort aber verändern.

Zwar laufen schon erste Bauvorbereitungen, aber unter anderem der NABU hat Klage vor dem Bundesverwaltungsgerichtshof in Leipzig eingereicht – und argumentiert auch mit den Steinriffen. Im Herbst sollen die Verhandlungen starten. Ob der Bau des Tunnels damit ins Wasser fällt, ist unklar. Zumindest dürfte er sich aber erheblich verzögern, schließlich müssen die Planer die Trasse erst gründlich untersuchen und die neu entdeckten Riffe berücksichtigen– also neue Riffe zur Kompensation anlegen oder den Tunnelverlauf neu planen.

Nicht immer müssen Eingriffe nur Schaden anrichten. Ein Beispiel sind Windparks auf See: Rund um die Steinaufschüttungen ihrer Pfeiler haben sich in den vergangenen Jahren künstliche Riffe gebildet, die Makrelen und Kabeljau anziehen, Schweinswale, Seehunde und Robben. Auch eine Tunnelröhre würden die Meeresarten über die Jahre wohl in Beschlag nehmen.

Nur: An die Artenvielfalt der natürlichen Riffe dürfte das nicht mehr herankommen. Überschneiden sich tatsächlich größere Gebiete der Steinriffe mit der Tunneltrasse, empfiehlt Alexander Darr, nochmal sehr genau hinzuschauen: Wir sollten es vermeiden, in den geschützten Lebensräumen zu bauen.

Ob der Tunnelbau ins Wasser fällt, ist noch unklar.

Mehrere gelb-orange farbene Seenelken
Mehrere Seenelken. Foto: Uni Rostock/G. Niedzwiedz
Kegelrobbe auf einem Felsen, der Bauch zur Kamera gewandt
Eine Kegelrobbe. Foto: Linda Westphal/Deutsches Meeresmuseum
Rückenfinne eines Schweinswals
Rückenfinne eines Schweinswals. Foto: Harald Benke/Deutsches Meeresmuseum

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