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Zum Reisen gehört – traurig genug – auch der Verkehrsunfall, die gewaltsame Unterbrechung durch ein Ungenügen des Fahrzeugs, eine Untüchtigkeit seiner Führung oder ein Scheitern an widrigen Umständen. Der Schiffbruch nimmt unter den Verkehrsunfällen eine Sonderstellung ein.

Schon am Anfang der griechischen Literatur steht ein Serienschiffbrüchiger, Odysseus, der dem Schiffbruch eine symbolische Alleinstellung verleiht, die anderen Unfällen nicht zukommt. In der Moderne entstehen zusammen mit immer neuen technischen Verkehrsmitteln zwar auch immer neue Unfalltypen, zum Beispiel Zugunglücke, Autounfälle oder Flugzeugabstürze. Doch der Schiffbruch zeichnet sich dadurch aus, dass ihm besondere, stark durch humanitäre Normen geprägte Einrichtungen entgegengesetzt werden. Auch heute ist er angesichts der Fluchtbewegungen nach Europa besonders aktuell.

Zu den schiffbruchsspezifischen Einrichtungen gehört einerseits ein spezialisiertes Repertoire technischer Hilfsmittel, darunter Rettungsboote, Raketenapparate und Signalzeichensysteme, andererseits bestehen eigenständige moralische Gebote, die mit dem Einsatz des Lebens der (oft) freiwilligen Retterinnen und Retter für die Schiffbrüchigen zu tun haben. Auch für Auto- und Flugzeugunfälle gibt es besondere Verfahren und Technologien der Rettung, aber keine spezialisierten humanitären Organisationen, die sich über die unentgeltliche, freiwillige und unterschiedslose Hilfsleistung an Fremde in Not definieren.

Der Historiker Henning Trüßer vom Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung
Foto ZFL

HENNING TRÜPER
ist Historiker. Am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung leitet er den Programmbereich »Theoriegeschichte« und das Projekt »Archipelagische Imperative. Schiffbruch und Lebensrettung in europäischen Gesellschaften seit 1800«.

Freiwillige Rettungsvereinigungen waren auf lokaler Ebene bereits Ende des 18. Jahrhunderts vielerorts entstanden. Doch erst als es zu Beginn des 19. Jahrhunderts gelang, Organisationen auf nationaler Ebene zu gründen, konnte die Seenotrettung institutionalisiert werden. Mit den nationalen Vereinigungen zur Rettung Schiffbrüchiger kamen sowohl neue technische Mittel zur Lebensrettung im küstennahen Schiffbruch auf als auch ein neues Verständnis der moralischen Gebote, die in einer solchen Situation gelten sollten: Fortan wurde den Rettern (der Imperativ richtete sich zunächst fast ausschließlich an Männer), nicht mehr nur die Rettung Schiffbrüchiger abverlangt, wenn die Umstände günstig und bewältigbar erschienen. Nun erwartete man von ihnen den fast bedingungslosen Einsatz des eigenen Lebens.

Dieses moralische Gebot musste jedoch auch weiterhin die Unzulänglichkeit der Rettungsmittel ausgleichen, und zwar noch auf lange Zeit, teils bis heute. Das gilt auch für die Anfang des 19. Jahrhunderts aufkommenden Raketenapparate, mit denen man eine Leine zum gestrandeten Schiff hinüberschießen konnte, um die Mannschaften mit der sogenannten »Hosenboje« abzubergen – einer Vorrichtung zum Transport von Personen, die nach dem Flaschenzugprinzip bewegt wurde. Dieses Rettungsmittel brachte für die Retter kein Risiko mit sich, war allerdings nur bei solchen Schiffbrüchen nutzbar, bei denen das Wrack in unmittelbarer Nähe zur Küste zu liegen kam. Die offenen Ruderrettungsboote, die sonst zur Anwendung kamen und deren Bereitstellung eine der Hauptaufgaben der Rettungsgesellschaften war, trugen hingegen ein erhebliches Unfallrisiko. Dennoch erhöhten gerade sie die Rettungsbereitschaft in den Küstengebieten. Das eigene Leben zu riskieren, fiel den Küstenbewohnern offenbar leichter, als das Mittel des Lebensunterhalts der Familie – das eigene Boot – aufs Spiel zu setzen.

Andere Anreize kamen hinzu: die Zahlung eher bescheidener Prämien für die Teilnahme an Rettungseinsätzen, die Verleihung von Medaillen als Zeichen der Anerkennung. Zur humanitären Kampagne gehörte außerdem die unablässige Wiederholung des Vorwurfs, die Küstenbevölkerung habe bislang nur vom Strandraub profitieren wollen und unterliege einer Pflicht zu moralischer Besserung.

Das für den Fall des Schiffbruchs verfügbare rechtliche Instrumentarium betraf schon seit der Antike im Grunde nur das Recht am verschifften Eigentum. Erst 1910 wurden im Rahmen des allgemeinen Ausbaus völkerrechtlicher Regelungen auch verbindliche Rechtsnormen formuliert, die die Küstenstaaten zum Unterhalt von Rettungsdiensten verpflichteten sowie sämtlichen Schiffsführern die Pflicht auferlegten, Schiffbrüchigen, sofern irgend möglich, Hilfe zu leisten – gleich ob sie sich in Hoheitsgewässern befanden oder nicht.

Im 19. Jahrhundert bestand dagegen eine juristische Regulierungslücke, die man nur notdürftig überdeckte, indem man die Lebensrettung zur See als »naturrechtliche« Verpflichtung bezeichnete. Doch gerade dieses bloß moralische Gebot diente der bürgerlichen Gesellschaft als Symbol einer neuen Form von Selbstorganisation vermittels humanitär-moralischer Kampagnen gegen das Leiden von distant strangers und schuf ein neues Verständnis kollektiver Handlungsspielräume.

Vorführung einer Seenot-Rettung mit der Hosenboje, die der Maler Winslow Homer 1883 in Atlantic City beobachtete.
1883 beobachtete der Maler Winslow Homer in Atlantic City Seenotrettungsübungen mit einer Hosenboje. Deren Funktionsweise stellte er dann allerdings in übersteigerter Form dar – denn das Gerät diente nur zum Transport einzelner Personen. Foto W. HOMER, THE LIFE LINE, 1884, ÖL AUF LEINWAND/PHILADELPHIA MUSEUM OF ART/WIKIMEDIA COMMONS

Zugleich betrifft der Anspruch der Seenotrettung auf Handlungsmacht nur die akute Rettung des Lebens. Die britische Seenotrettungsgesellschaft plante bei ihrer Gründung im März 1824 zunächst noch, sich auch der Folgeprobleme der Schiffbrüchigen anzunehmen. Die noch im selben Jahr in den Niederlanden gegründeten Seenotrettungsgesellschaften in Amsterdam und Rotterdam nahmen davon mit Befremden Kenntnis. Ihnen schien offensichtlich, dass man die Folgeprobleme der Geretteten nicht auch noch lösen könne.

Denn die schiffbrüchigen Seeleute waren ihres Besitzes beraubt und hatten an den Orten, an denen sie nach Unfällen als Ausländer an Land gelangten, oft keinen Aufenthaltstitel. Ihre Angelegenheiten bis zur Weiterreise zu regeln erforderte daher langwierige diplomatische Schriftwechsel mit den Regierungen ihrer Heimatländer, die häufig versuchten, die Kosten für den Lebensunterhalt und die Rückreise von den Reedern des untergegangenen Schiffs einzutreiben. Die Reeder wiederum scheuten derartige Ausgaben, die zum Schiffsverlust hinzukamen – nicht zuletzt, weil Seeversicherungen die Schicksale des Personals üblicherweise nicht abdeckten.

Auch die britische Seenotrettungsgesellschaft gab es bald auf, sich um die Nachsorge für die Geretteten zu bemühen. Die moralische Verpflichtung wurde auf die bloße Lebensrettung eingeengt. Die Seenotrettungsbewegung glich somit anderen humanitären Bewegungen, die sich jeweils auf ein Kernanliegen konzentrierten, sei es die Abschaffung der Sklaverei, den Kampf gegen den Alkoholismus, den Tierschutz oder die Versorgung der Verwundeten im Krieg. Überall Einzelanliegen, single issues, um die herum sich bestimmte, situationsspezifische moralische Gebote gruppieren. Diese Gebote kommen an das Ende ihres Geltungsbereichs, sobald sich das Geschehen einem anderen Situationstyp unterordnen lässt, also einer anderen Art von wiederkehrendem, schematisiertem Ereignis.

Bergung des Kreuzfahrtschiffs Costa Concordia.
Bergung der »Costa Concordia«. Foto ROBERTO VONGHER/WIKIMEDIA COMMONS

Dass der Geschichte der Seenotrettung bis heute ein besonderes Interesse zukommt, liegt an der eigentümlichen moralischen Bedeutung des Schiffbruchs als Situationstyp, der einerseits höchst wiedererkennbar und stabil geblieben ist, sich andererseits jedoch auch immer weiter wandelt: etwa durch die zunehmende Häufigkeit von Unglücken im rasant anwachsenden Seeverkehr im frühen 19. Jahrhundert; oder durch den zunehmenden Passagierverkehr im Zeitalter der europäischen Massenauswanderung nach Amerika bis in die 1920er Jahre. Die Verschiffung von Passagieren nach Amerika wurde seit Mitte des 19. Jahrhunderts zum wirtschaftlichen Hebel, der es besonders kontinentaleuropäischen Unternehmen erlaubte, die Wirtschaftlichkeit der Überfahrt nach Amerika, wohin man außer Menschen wenig zu exportieren hatte, zu erhöhen.

Gerade im Fall der 1865 gegründeten Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) ist die Verbindung zum Auswanderungsgeschäft augenfällig; denn eines der Unglücke, deren Skandal man hervorhob, um die Gründung der Gesellschaft zu befördern, war gerade der Untergang der »Johanne«, eines Auswanderertransports, vor der Insel Spiekeroog im Jahr 1854. Bei diesem Unglück wäre die Rettung der Passagiere leicht möglich gewesen, denn die Mehrheit von ihnen gelangte sogar ohne Rettungsmittel an Land. Dennoch ertranken ohne zusätzliche Hilfe mehr als 80 Menschen. Gründungsdirektor der DGzRS wurde der Gründer des Norddeutschen Lloyd, einer der am stärksten im Amerikageschäft engagierten Schifffahrtsgesellschaften, H. H. Meier. Humanitäre Bewegungen sind immer in komplizierte Geflechte moralischer und ökonomischer Werte eingespannt. Auch die Seenotrettung macht in dieser Hinsicht keine Ausnahme.

Bemerkenswert an den Seenotrettungsgesellschaften ist nicht zuletzt, dass es ihnen gelungen ist, ihr single issue stabil und relevant zu halten, obwohl sich die damit verbundenen ökonomischen und moralischen Werte seit dem 19. Jahrhundert stark verändert haben. Neue Technologien, insbesondere die wartungsintensiveren, dafür aber weniger personalbedürftigen Motorrettungsboote beförderten eine teilweise Professionalisierung der Dienste. Spätestens das Aufkommen von Luftrettungsmitteln – Suchflugzeugen, Hubschraubern und später Satelliten und Drohnen – führte zu einer intensiveren Zusammenarbeit mit staatlichen und insbesondere militärischen Stellen (besonders seit dem Zweiten Weltkrieg). Zugleich übernahm der Luftverkehr den Großteil des überseeischen Passagiertransports, während sich der Gütertransport durch den Container und die allgemeine Technisierung der Seefahrt, insbesondere auch der Fischerei, so sehr wandelte, dass in der kommerziellen Seefahrt Unglücke mit Personenschäden relativ gesehen viel seltener stattfanden als zuvor.

Die Hauptlast der küstennahen Seenotfälle entstand seit den 1960er Jahren aus der enorm angewachsenen Freizeitschifffahrt: Kreuzfahrten, Segeltörns, alle Arten von Bootsnutzung im Strandurlaub. Bis vor einigen Jahren schien dieser Zustand der Seefahrt gewissermaßen final zu sein. Ein Unglück wie das der »Costa Concordia« im Jahr 2012 – katastrophische Rettungssituation, mehrere Dutzend Todesopfer – erschien so sehr als Anachronismus und Extremfall, dass selbst dem Kapitän, der das Unglück fahrlässig verschuldet hatte, sämtliche Verhaltensregeln für diese Art Notfall entglitten.

Demonstration für Seenotrettung geflüchteter Menschen.
Demonstration für die Seenotrettung geflüchteter Menschen im Mittelmeer. Foto MIKA BAUMEISTER/UNSPLASH

Und doch, es steht vor aller Augen – flüchtende Menschen, überfüllte Boote, orange Schwimmwesten – verändert sich der Situationstyp des Schiffbruchs in der Gegenwart aufs Neue. Nur ist es nun nicht mehr die Auswanderung aus, sondern die Einwanderung nach Europa, die zu Schiffbrüchen und Rettungsmissionen führt. Und diese Veränderung erzeugt Spannungen im Gefüge der moralischen Normen um die Seenotrettung, die bislang unbekannt waren.

Noch in den Weltkriegen hatten die Dienste ihre Überparteilichkeit und in diesem Sinn »unpolitische« Natur zumindest auf symbolischer Ebene so entschieden gewahrt, dass sie nicht selten auch die schiffbrüchigen Marinesoldaten oder die abgestürzten Piloten feindlicher Nationen aus dem Meer retteten. Heute hingegen vollzieht sich eine Politisierung, die die Rettung Schiffbrüchiger und damit die humanitären Seenotrettungsgesellschaften erstmals zum Gegenstand öffentlicher Kontroversen macht.

Teile der politischen Öffentlichkeiten in Europa erkennen das über 200 Jahre geltende moralische Gebot der Lebensrettung zur See nicht mehr uneingeschränkt an (obwohl die Verpflichtung auch völkerrechtlich eindeutig ist, nämlich nach dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen von 1982, das die im Jahr 1910 erarbeiteten Regelungen weiterhin enthält). Der humanitär-moralische Konsens des Auswanderungskontinents entspricht offenbar nicht dem des Einwanderungskontinents Europa. Der bis vor kurzem gegen alle technologischen und ökonomischen Veränderungen kontinuierlich stabilisierte moralische Situationstyp der Seenot ist unterbrochen, zumindest zum Teil aufgespalten worden.

Dennoch ist die gesellschaftliche Antwort strukturell gesehen gleich: Es entstehen neue humanitäre Organisationen. Unter dem Druck der Politisierung des Schiffbruchs kehrt nun auch das verdrängte Problem der Nachsorge für die Geretteten wieder. Das Engagement auf single issues zuzuspitzen, wird schwieriger, ohne dass eine grundsätzlich neue Praxis des humanitären Engagements in Sicht wäre. Aber auch hier gilt noch immer das etablierte Prinzip: Die Lebensgefahr, der die Flüchtenden bei Überlandreisen an die Mittelmeerküste, etwa in der Sahara, ausgesetzt sind, ist nicht Gegenstand humanitärer Bemühungen in Europa – allein der Schiffbruch zählt.

Es ist ein in vielerlei Hinsicht wenig imposantes, sogar bedrohtes und bedrohliches Bild, das die moralische Kultur der europäischen Gegenwart abgibt, wenn man ihre Geschichte in Betracht zieht. Denn die mühevoll erarbeitete Stabilisierung humanitär-moralischer Normen, die im Fall der Seenotrettung durch die Brandmauer zwischen Moralisierung und politischer Parteilichkeit geglückt schien, gerät in der Gegenwart wieder unter Druck.

Allerdings ist diese Geschichte immerhin noch an kein Ende gekommen. Und dass sich die moralischen Werte und Normen nicht mehr so rigoros von der Sphäre des Politischen trennen lassen wie es in der Geschichte der Seenotrettung so lange der Fall war, kann man auch ermutigend finden. Denn so besteht zumindest eine entfernte Möglichkeit, dass politische Potenziale der humanitären Bewegungen überhaupt erst freigesetzt werden.

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