LEIBNIZ Woher kommt aus Ihrer Sicht der Unmut, der am Wochenende in Berlin zu spüren war?
EDGAR GRANDE Die Corona-Proteste spitzen eine sich zunehmend kritische Haltung gegen die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung durch die Bundesländer und auch der Bundesregierung zu. Seit Mitte März bis Anfang Juli beobachten wir eine kontinuierliche Zunahme der Ablehnung von Corona-Maßnahmen von circa 25 auf 40 Prozent. Nicht von ungefähr formierte sich auch der erste massive Protest ab Mai, als es in deutschen Städten die ersten größeren Demonstrationen gab.
Laut Deutschland-Trend von August befürwortet eine Mehrheit der Bevölkerung die Corona-Auflagen. Wie passt das zusammen?
Das hängt sicherlich mit einer unterschiedlichen Fragestellung und dem unterschiedlichen Kontext von Befragungen zusammen. Es macht einen Unterschied, ob die gleiche Frage regelmäßig oder nur einmal gestellt wird. Die Umfrage der Universität Mannheim wurde wöchentlich über einen längeren Zeitraum durchgeführt und sie hat auch die Meinung zu einzelnen Maßnahmen wie Grenzschließungen und die Schließung von öffentlichen Einrichtungen wie Schulen oder Kitas mit abgefragt. Diese Ergebnisse sind meines Erachtens sehr aussagekräftig. Dass hier also nur eine Minderheit von radikalen Rechten auf die Straße geht, die wirren Verschwörungstheorien anhängen, ist aus meiner Sicht eine fatale Fehleinschätzung. Hier demonstriert zum großen Teil eine misstrauische Mitte, die unzufrieden mit der aktuellen Politik ist, die das Vertrauen in die Regierung verloren hat und die eine zunehmende Protestbereitschaft aufweist. Und für diesen Protest gibt es in Teilen der Bevölkerung auch durchaus Verständnis, wie wir in unseren Untersuchungen festgestellt haben.
Wer legitimen Widerspruch artikuliert, darf nicht zurückweichen müssen.
EDGAR GRANDE
Wer ist diese misstrauische Mitte
?
Es sind eben nicht nur extreme Spinner, sondern Menschen mit einem extrem breiten politischen Spektrum. Vor allem jüngere Menschen. Viele sind Familien mit Kindern. Also Menschen, die auf spezifische Weise von den Corona-Maßnahmen betroffen sind, sei es durch Kurzarbeit oder Schließungen der Schulen.
Die Demonstrationen am Samstag waren allerdings auch von sehr vielen Reichsflaggen dominiert. Und spätestens die Aktion von Extremisten am Reichstagsgebäude hat die Frage eines noch legitimen Protests aufgeworfen.
Es ist bedenklich, dass es extremen Gruppierungen wie den Reichsbürgern gelungen ist, diesen Protest für sich einzunehmen. Es darf aber nicht sein, dass nun diejenigen, die legitimen Widerspruch zu den Corona-Maßnahmen artikulieren, zurückweichen müssen. Es muss einen Weg geben, den Protest zu deradikalisieren.
Wie lässt sich verhindern, dass Rechtsextreme den Protest für sich einnehmen?
Das kann man nie ganz verhindern, denn die Teilnahme an Demonstrationen ist ja jedem freigestellt. Aber es liegt natürlich auch am Veranstalter, zwischen legitimem Protest und extremistischen Positionen eine Grenze zu ziehen und extremistische Gruppen auszuschließen. Genau das war am Wochenende aber nicht erkennbar. Sicher auch, weil die Veranstaltung inzwischen zu groß und unübersichtlich geworden ist, um sie noch steuern zu können. Jedoch wohl auch, weil der Veranstalter im Vorfeld erst gar nicht so viel Wert darauf gelegt hat.
Die Aktion vor dem Reichstag hat enorme Wellen geschlagen. Gibt es nun vielleicht einen Abschreckungseffekt?
Die Aktion wird zu Recht heftig kritisiert. Hier ist eine Grenze überschritten worden. Es ist aber ein unverdienter Medienerfolg dieser Extremisten, die mit ihren Aktionen und Bildern die öffentliche Berichterstattung und Kommentierung dominieren. Dadurch wird die große Bandbreite des Protests nicht mehr sichtbar. Das könnte einen Abschreckungseffekt auf gemäßigte Unzufriedene haben, es könnte aber auch zu einer weiteren Radikalisierung des Protests führen. Man überzeugt unzufriedene Bürger nicht, indem man mit dem Finger auf die Extremisten zeigt. Das ist eine der größten Gefahren, die wir in der Protestforschung beobachten. Die Pöbeleien gegen Gesundheitsminister Jens Spahn am Wochenende sind ein weiterer Beleg dafür. Es besteht die Gefahr, dass wir vor einer ähnlichen großen gesellschaftlichen Spaltung stehen wie in den Jahren nach 2015 in Folge der Flüchtlingskrise.
Welche Verantwortung kommt dann der Politik zu, diese Menschen wieder stärker in den Diskurs einzubeziehen und eine weitere Spaltung zu verhindern?
Die Bundesrepublik hat die Corona-Krise bis jetzt unbestritten gut gemeistert. Jedoch war sie selten so stark von der Meinung einiger Experten etwa des Robert Koch-Instituts abhängig. Aufgrund der Neuartigkeit des Virus bestand gleichzeitig eine erhebliche Unsicherheit und es mussten immer wieder Einschätzungen korrigiert werden – etwa bei der Maskenpflicht. Das hat viele Bürger verunsichert. Zu dieser Verunsicherung hat sicherlich auch beigetragen, dass die Experten in den Medien mit teilweise ganz unterschiedlichen Meinungen zu Wort kamen. Dazu kommen unterschiedliche Beurteilungen und Maßnahmen in den 16 Bundesländern, teilweise immer noch ohne parlamentarische Beteiligung. Diese Politik war für den Bürger teilweise schwer nachzuvollziehen. Transparenz und Kontroversität ist das größte Gebot der Stunde. Wenn das fehlt, suchen sich die Kritik und der Widerstand andere Kanäle wie das Internet oder die Straße.
Muss unsere Demokratie die Proteste auch mit diesen Bildern vom Wochenende aushalten?
Ja, sie muss das aushalten. Das Demonstrationsrecht darf man nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Aber unsere Demokratie ist auch eine wehrhafte Demokratie. Sie muss und darf sich von ihren Gegnern nicht alles gefallen lassen.