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Häufig liest man, dass der Mensch die Lebensräume von Tieren zerstört. In ihren Untersuchungsgebieten ist es andersherum: Der Regenwald ist noch da, aber bald wird es dort kaum noch Tiere geben. Welchen Bedrohungen sind die Wildtiere in Vietnam ausgesetzt?

Jahrzehntelang war die Zerstörung ihrer Lebensräume tatsächlich die größte Bedrohung für die Tiere. Mittlerweile kommt eine zweite große Bedrohung hinzu: die Jagd. Die Menschen in Vietnam jagen seit Jahrtausenden in diesen Regenwäldern nach Tieren, die sie dann essen. Sehr lange hielt sich das im Gleichgewicht: Die Tiere hatten die Möglichkeit, sich wieder zu vermehren. Das hat sich in den vergangenen Jahrzehnten geändert. Die Bevölkerung ist rapide gewachsen, der Konsum von Wildfleisch zu einem Statussymbol geworden. In ganz Südostasien gibt es in den Städten eine enorme Nachfrage danach. Die Jagd geht so weit, dass wir vom völligen Verlust der größeren Säugetiere sprechen, von Defaunation. Der Wald ist plötzlich leer.

Was bedeutet dieser Verlust für die Regenwälder?

Regenwälder bieten durch ihre verschiedenen Waldstrukturen – von den Baumkronen bis zum Boden – Tieren und Pflanzen viele unterschiedliche Lebensräume. Aber dieses Ökosystem ist auch sehr fragil. Wie beim Klima gibt es Kipppunkte: Fallen bestimmte Komponenten weg, gerät das gesamte System ins Rutschen. Sogenannte Samenverbreiter zum Beispiel sind sehr wichtig für Ökosysteme und ihre Stabilität. Manche Baumarten sind beispielsweise darauf angewiesen, dass Elefanten ihre Samen fressen und sie an anderen Orten wieder ausscheiden. Sterben die Elefanten aus, können sich diese Baumarten nicht mehr reproduzieren und verschwinden ebenso. Wir können noch gar nicht genau einschätzen, welche Kaskaden mit dem Verschwinden einzelner Arten in Gang gesetzt werden.

Andreas Wilting im Wald - Leibniz Magazin
Foto DEIKE HESSING

ANDREAS WILTING
ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung für Ökologische Dynamik am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin.

Wer jagt diese Wildtiere?

In den Dörfern entlang des Regenwalds gibt es natürlich noch die traditionelle Jagd für den Eigenverbrauch. Das meiste Wildfleisch wird mittlerweile allerdings in den Städten an Menschen aus der Mittel- und Oberschicht verkauft – damit wird sehr viel Geld verdient. Zum einen gehen Dorfbewohner auf die Jagd und verkaufen ihr Wildfleich auf illegalen Märkten, aber es gibt auch mehr und mehr professionelle Jägerteams, die von Nationalpark zu Nationalpark ziehen. Sie haben keinerlei Nachhaltigkeitsgedanken und konkurrieren mit der lokalen Bevölkerung. Ihnen geht es allein um Profit.

Viele Wälder Vietnams sind weitläufig und schwer zugänglich – wie wird hier gejagt?

Am einfachsten, effektivsten und billigsten ist die Jagd mit Drahtschlingen. Dafür werden Metalldrähte zusammengeflochten, sodass sich eine Schlinge bildet. Diese Drähte werden an Ästen angebracht, und sobald ein Tier hineintritt, zieht sich die Schlinge fest. Eine Drahtschlinge kostet 10 bis 20 Cent. Davon können Hunderte, Tausende in kürzester Zeit und für wenig Geld im Wald verteilt werden. Viele Wilderer lassen ihre Drahtschlingen auch einfach scharf im Wald zurück, obwohl sie längst weitergezogen sind. Dadurch sterben noch mehr Tiere, die in den Fallen verrotten.

Welche Tierarten sind durch die Jagd besonders bedroht?

Gezielt gejagt werden vor allem größere Huftiere. Aber in die Drahtschlingen kann natürlich jedes Tier geraten, das auf dem Boden herumläuft. In Vietnam beinahe ausgerottet sind große Pflanzenfresser, etwa Elefanten oder die wilden Rinderarten Gaur und Saola, außerdem größere Raubtiere wie Wildkatzen und Wildhunde.

Leere Drahtschlingen. Leibniz Magazin
Die meisten Wilderer nutzen solche einfachen Drahtschlingen zur illegalen Jagd. »Viele davon bleiben scharf im Wald zurück«, sagt Andreas Wilting. Foto HOANG QUOC HUY/GREENVIET

Welche Meinung haben die Menschen vor Ort zum Artenschutz?

In Gesprächen sagen sie, dass sie die Tiere nicht bis zum Aussterben jagen möchten. Manche Tiere haben auch eine kulturelle Bedeutung. Aber das einzelne Tier, dass sie selbst jagen, sehen sie häufig nicht im größeren Zusammenhang. Ich glaube, ihnen ist noch immer nicht klar, dass jedes Tier, das sie fangen, wirklich das letzte seiner Art sein könnte. Bei den professionellen Jägern mag das anders sein. Die sind vielleicht sogar glücklich, wenn sie eines der letzten Saolas gejagt haben, weil mit sehr seltenen Arten auf dem Markt noch höhere Preis erzielt werden können.

Wer kauft denn diese Tiere?

Der illegale Wildtierhandel ist das drittgrößte internationale Verbrechen, nach dem Waffen- und Drogenhandel. Die richtig großen Summen werden auf dem internationalen Markt erzielt. Dort werden nicht nur Tiere für den Fleischkonsum und die traditionelle Medizin gehandelt, sondern natürlich auch Elfenbein, Nashorn und exotische Terrarientiere. Auch wir Europäer sind ein großer Treiber dieses Handels und stecken mittendrin: Über unsere Flughäfen werden Wildtierprodukte transportiert. Das fängt schon mit Souvenirs im Urlaub an, mit der Kette aus Haizähnen etwa – auch sie können Teil des illegalen Wildtierhandels sein. Viele der Souvenirs stammen von illegal gejagten Tieren.

Ist es eigentlich problematisch, den Menschen vor Ort als westliches Forschungsinstitut zu sagen: Ihr dürft diese traditionelle Delikatesse nicht mehr essen, dieses Naturheilmittel nicht mehr einsetzen?

Einem vermeintlichen Heiler, der einem lebensgefährlich krebskranken Menschen Nashorn als Wundermittel verkauft – dem muss meiner Meinung nach das Handwerk gelegt werden. Da haben wir die Pflicht, aufzuklären. Wenn es um traditionelle Delikatessen geht, wird es schon ein bisschen schwieriger. Aber bei hochbedrohten Arten sollten wir mittlerweile auch auf Traditionen keine Rücksicht mehr nehmen. Da ist jedes Tier, das jetzt noch gegessen wird, einfach eins zu viel. Bei Schuppentieren oder Tigern zum Beispiel ist ein striktes Verbot das absolut einzige Mittel. Dennoch halte ich mich in Vietnam extrem zurück, und wir arbeiten eigentlich ausschließlich mit lokalen Naturschutzorganisationen und Wissenschaftsorganisationen zusammen, über die auch die gesamte Kommunikation läuft. Da kann es auch helfen vor Ort eher unsichtbar im Hintergrund zu bleiben.

Ein Stumpfschwanz-Makake
Um in unzugänglichen Winkeln ihres Untersuchungsgebiets Tiere aufzuspüren, verteilen die Forschenden vor Ort Kameras im Regenwald. Hier ist ein neugieriger Stumpfschwanz-Makake in die Fotofalle gegangen. Foto LEIBNIZ-IZW/SIE/BIDOUP NUI BA NP
Annamitisches Streifenkaninchen
Nesolagus timminsi, das annamitische Streifenkaninchen, wurde erst im Jahr 2000 erstmals wissenschaftlich beschrieben. Foto LEIBNIZ-IZW/SIE/BIDOUP NUI BA NP
Riesenmuntjak im Regenwald.
Der Riesenmuntjak ist eine Hirschart. Es handelt sich um den größten Vertreter aus der Gattung der Muntjaks. Foto USAID GREEN ANNAMITES/WWWFVIETNAM/LEIBNIZ-IZW
Vietnam-Kantschil im Regelwald. Leibniz Magazin
Der Vietnam-Kantschil ist eine Säugetierart aus der Familie der Hirschferkel – und lebt nur in den tropischen Wäldern Südostasiens. Fast 30 Jahre lang gab es keine Sichtung, bis vietnamesische Forschende und das Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung 2019 die Wiederentdeckung vermelden konnten. Foto LEIBNIZ-IZW/SIE/ NUI CHUA NP/ RE:WILD
Foto eines Fleckenrollers. Leibniz Magazin
Der Fleckenroller ist eine nachtaktive Raubtierart aus der Familie der Schleichkatzen. Foto LEIBNIZ-IZW/SIE/BIDOUP NUI BA NP
Eine Gruppe Rotschenkliger Kleideraffen läuft über den Waldboden.
Eine Gruppe Rotschenkliger Kleideraffen kreuzt das Blickfeld der Wildtierkamera. Foto LEIBNIZ-IZW/WWW VIETNAM/BACH MA NP

Mit welchen Argumenten kann man Menschen davon abbringen, Wildtierfleisch zu essen?

Man muss zum Beispiel an sie appellieren, die eigene Gesundheit zu schützen. Der WWF Vietnam hat so eine Kampagne gemacht: „Wildtiere sind dreckig und ungesund“. Teilweise wird das Wildtierfleisch Hunderte Kilometer durchs Land gefahren, bei tropischem Wetter und ohne Kühlketten. Sein Konsum ist ungesund, er ist eine Gefahr. Auch weil wir keine Ahnung haben, mit welchen Erregern, Viren im Speziellen, Tiere aus den Regenwäldern infiziert sein könnten und inwieweit diese für uns Menschen gefährlich sind.

Welche Mittel gibt es im Kampf gegen die Jagd auf Wildtiere?

Es ist wichtig, die Strafen zu erhöhen und bestehende Gesetze auch tatsächlich anzuwenden. Das Risiko, erwischt und hart bestraft zu werden, muss so hoch sein, dass sich der Wildtierhandel schlicht nicht mehr lohnt. Dafür müssen die Gesetze angepasst werden. Im Moment ist es noch nicht mal ein Verbrechen, im Wald Drahtschlingen bei sich zu tragen. Man kann Wilderer also nur festnehmen, wenn sie gerade den Wald mit Wildtieren als Beute verlassen. In Zukunft sollte deshalb schon das Mitführen von Drahtschlingen im Wald verboten sein.

Ist eine nachhaltige Jagd in den vietnamesischen Regenwäldern überhaupt denkbar?

Die Jagd für den städtischen oder sogar internationalen Markt wird nie nachhaltig sein, das ist ein Fass ohne Boden. Für den lokalen Konsum müssen jedoch bestimmte Rechte eingeräumt werden, gerade den ethnischen Minderheiten, die seit Tausenden von Jahren von der Jagd leben. Auch für sie müssen bestimmte, hochgefährdete Arten aber tabu sein. Solange die Jäger allerdings Fallen aus Drahtschlingen legen, können sie gar nicht vermeiden, auch gefährdete Tiere zu töten, eben weil Drahtschlingen alles fangen, was hineintritt. Alternativen zu dieser Form der Jagd zu finden, dürfte jedoch sehr kompliziert werden, denn der Besitz von Schusswaffen ist in Vietnam verboten. Vielleicht würde ein Konzept mit Kernzonen funktionieren, in denen nicht gejagt werden darf, und mit Pufferzonen, in denen die Jagd erlaubt ist.

Vier Männer hocken um eine Karte des Waldes und planen. Leibniz Magazin
Foto HOANG QUOC HUY/GREENVIET
Bei der Feldforschung in Vietnam durchqueren Studierende einen Fluss..
Foto ANDREW TILKER
Zwei Männer installieren eine Fotofalle im Regenwald. Leibniz Magazin
Foto HOANG QUOC HUY/GREENVIET

Könnte die Nachzucht der vom Aussterben bedrohten Tiere ein Ausweg sein?

Für einige Arten ist eine Erhaltungszucht der einzige Ausweg. Das gilt zum Beispiel für das Saola, aber auch für das Riesenmuntjak, eine Hirschart. Solche Arten werden aussterben, wenn wir nicht aktiv werden. Dazu gehört es aber auch, in die Wälder gehen und die letzten Individuen zu fangen. Dies ist sicherlich ein sehr kontroverser Ansatz, denn auch die Erhaltungszucht ist extrem schwierig. Erstmalmuss man die Tiere überhaupt finden. Häufig brauchen die Artenschutzteams alleine fünf Tage, um an einen Fleck im Wald zu gelangen, an dem vielleicht noch ein Exemplar herumlaufen könnte. Dann muss dieses Tier unbeschadet gefangen und über lange Strecken in eine Institution für die Erhaltungszucht transportieren werden. Das ist eine echte Herausforderung. Und selbst wenn es heil ankommt, kann es passieren, dass wir überhaupt keine Ahnung haben, was das Tier frisst.

Wie schaffen Sie es denn überhaupt, die scheuen Tiere in den Wäldern aufzuspüren und zu erforschen?

Gerade die Gebiete, in denen die meisten Wildtiere leben, sind noch wenig erforscht und sehr unzugänglich. Unsere Teams sind meistens wochenlang im Wald unterwegs. Dabei stellen wir Hunderte Fotofallen auf. Das ist eine der effizientesten und etabliertesten Methoden, um Biodiversitätsdaten von größeren am Boden lebenden Säugetieren und Vögeln zu erheben, denn so viele Augen und Feldassistenten können Sie gar nicht 24 Stunden im Wald haben. Später sammeln wir die Fotofallen wieder ein, bereiten die Daten auf und analysieren Tausende von Fotos.

Und gibt es noch weitere Methoden?

Wir sammeln landlebende Blutegel vom Boden auf. Die sind leicht zu sammeln und vor allem konservieren sie das Blut der Tiere, an denen sie gesaugt haben, relativ gut. Wir analysieren die darin enthaltene DNA und können daraus schließen, welche Tiere im Wald vorkommen und wo sie verbreitet sind. Diese Methode nennt sich Umwelt-DNA und funktioniert zum Beispiel auch mit Boden- oder Wasserproben.W

Ein Blutegel saugt sich am Arm eines Forschers fest.
Foto ANDREW TILKER
Ein Blutegel auf einem Frosch.
Foto ANDREW TILKER

Wie oft reisen Sie nach Vietnam, um dort zu forschen?

Ich bin etwa zweimal im Jahr dort. Die Forschung wird aber fast ausschließlich von Vietnamesinnen und Vietnamesen durchgeführt: Wir kooperieren mit lokalen Naturschutzorganisationen und Forschungseinrichtungen und arbeiten mit einheimischen Studierenden zusammen. Das hat viele Vorteile. Zum Beispiel gibt es vor Ort weniger Vorbehalte gegenüber den Forschungsergebnissen, wenn sie nicht von einer westliche Einrichtung verkündet werden. Vor allem aber haben unsere lokalen Partner ein viel besseres Verständnis für die Probleme vor Ort. Dadurch bekommen wir neue Perspektiven auf die Sachverhalte. Unser Projekt ist zu gemeinsamer Forschung geworden – mit gemeinsamen Zielen.

Sie forschen seit gut 15 Jahren im Regenwald. Was ist Ihnen besonders nahe gegangen?

Ich glaube, das war die Wiederentdeckung des Vietnam-Kantschils. Diese kleine südvietnamesische Maushirschart wurde zum letzten Mal vor 30 Jahren nachgewiesen. Wir waren die Ersten, die nach all den Jahren nochmal systematisch nach ihr gesucht haben. Dann sind uns die Tiere in die Fotofallen getappt. Das stieß weltweit auf viel Interesse, auch, weil unser Naturschutzpartner uns mit einer großen Medienkampagne unterstützt hat. Dadurch konnten wir weitere Geldgeber finden und mit unseren vietnamesischen Partnern dranbleiben. Mittlerweile haben wir fünf Populationen gefunden, eine erst vor ein paar Wochen – gerade erst habe ich die Kamerabilder bekommen. Wahrscheinlich sind das alles nur sehr kleine und isolierte Populationen, aber trotzdem ist es ein großer Erfolg. Mein Interesse für Wildtiere und die gemeinsame Forschung mit verlässlichen, engagierten und enthusiastischen lokalen Partnern: Das motiviert mich, immer weiter zu forschen.

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