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Wir erinnern uns falsch. Ständig. Jede Erinnerung, die wir aus unserem Gedächtnis hervorkramen, wurde dadurch bereits bearbeitet und verändert. Unsere Erinnerung ist ständig im Fluss, sie ist ein Spiel zwischen Hirnzellen, Transmittern und elektrischen Strömen. Trotzdem glauben Menschen fest daran, dass sie sich korrekt erinnern. Historiker können ein Lied davon singen, Polizisten und Paartherapeuten.

Wäre unser Immungedächtnis ähnlich unzuverlässig, wären wir ständig krank. Bei den meisten Menschen erinnert sich die körpereigene Abwehr mit faszinierender Präzision. Belästigen uns Bakterien, Pilze oder Viren zum zweiten Mal, kann sie auf bewährte Rezepte zurückgreifen. Spezialisierte weiße Blutkörperchen, sogenannte Plasmazellen, produzieren genau jene Antikörper, die beim letzten Mal am besten gewirkt haben. Oft ist die Infektion dann so schnell vorbei, dass wir sie nicht einmal bemerken.

Doch leider erinnert sich unser Immunsystem mit derselben Präzision an seine Fehler. Wenn sich Abwehrzellen irren und den eigenen Körper angreifen, speichert das Immungedächtnis auch diese Verwechslung — ein Leben lang. Chronische Entzündungen sind die Folge, in Haut oder Nerven, in Darm oder Gehirn, in inneren Organen oder in der Muskulatur. Je nachdem, welches Gewebe die Abwehrzellen für einen Fremdkörper halten. Allein in Deutschland leiden Millionen Menschen an Autoimmunkrankheiten wie Rheuma, Lupus, Diabetes I, Schuppenflechte oder Multipler Sklerose. Auch wenn die meisten Betroffenen es nicht benennen könnten, eint sie ein Wunsch: Ihr Immunsystem möge endlich vergessen.

Hier kommt Andreas Radbruch ins Spiel. Seine Mission: gezielter Gedächtnisverlust.

Der Immunologe Andreas Radbruch schreitet durch einen Gang in seinem Institut.
Im Inneren des Forschungszentrums.

Seine Mission: Gezielter Gedächtnisverlust.

Wenn vom Immunsystem die Rede ist, entsteht oft der Eindruck, unsere Körper befänden sich im andauernden Kriegszustand: Ein hochgerüsteter Militärapparat steht bereit für die Verteidigung, eifrige Zellsoldaten führen Abwehrschlachten an den Frontlinien und hochspezialisierte Eliteeinheiten treiben Verdächtige in den Selbstmord. Andreas Radbruch verzichtet auf aggressive Kampfmetaphern. Das ist keine bewusste Entscheidung, sagt er, eher eine logische Folge seiner Perspektive auf unser Immunsystem. Ich bewundere seine Schönheit. Als biologisches System arbeitet es extrem elegant und nachhaltig. Seine Bestimmung ist, unseren Körper intakt zu halten. Es arbeitet konstruktiv und mit vielen Bakterien auch in einem faszinierenden Dialog. Mit Krieg hat das nichts zu tun.

Respekt vor der Natur ist eine der Eigenschaften, die Radbruch so erfolgreich gemacht haben. Es gibt Wissenschaftler, die stünden am liebsten rund um die Uhr im Labor. Radbruch braucht Abstand. Nach Feierabend setzt er sich in den Zug und fährt raus aus der Stadt in das brandenburgische Dorf, in dem er wohnt. Umgeben von einem Naturschutzgebiet hält er hier eine kleine Herde Islandpferde. Während Radbruch Zäune repariert und Ideen entwickelt, wie er dem Immunsystem seine Geheimnisse entlocken kann, halten die Pferde das Gras kurz und pflegen ganz nebenbei das Ökosystem.

Dass jedes Lebewesen eine Funktion übernimmt im Gesamtsystem, diese Erkenntnis steht auch am Anfang von Radbruchs wissenschaftlicher Laufbahn. Das Zoologische Forschungsmuseum Alexander Koenig und heutige Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels betreibt bereits in den 1960er Jahren, was heute Citizen Science heißt: Wissenschaftler zeigen den Bonner Schülern damals, wie man den ökologischen Wert von Gebieten ermittelt, die unter Naturschutz gestellt werden sollen. Andreas Radbruch stapft also in seiner Freizeit durch die Landschaft und erfasst Kleinsäuger. Meist heißt das: Er sucht Mäuse, zählt Mäuse, bestimmt Mäuse.

Ein Labor am Deutschen Rheuma-Forschungszentrum, einem Leibniz-Institut in Berlin.
Andreas Radbruch und seine Kollegin im Labor

Besonders interessante Exemplare bringt die Gruppe zurück ins Museum, wo sich die Mäusekäfige bald stapeln. Die Wissenschaftler haben Verbindungen zum Bonner Universitätsklinikum und irgendwie landen einige Käfige in der Kinderpathologie. Die Forscher dort sind denn diese Mäuse haben besondere Chromosomen. Bekommen sie Junge, haben einige die üblichen zwei Chromosomen-Kopien, viele aber nur eine — oder sogar drei. Bei Mäusen wie bei Menschen kann das zu schweren Missbildungen führen. Andreas Radbruch packt die wissenschaftliche Neugier: Ob ein, zwei oder drei Chromosomen da sind — warum ist das so entscheidend? Das wollte ich damals verstehen, unbedingt. Nach dem Abitur entscheidet er sich, Biologie zu studieren und behält seine Fragen im Hinterkopf: Wann werden Organismen krank? Und wie wehren sie Krankheiten ab?

Die Immunologie steckt damals noch in den Kinderschuhen, an der Bonner Universität wird sie gar nicht gelehrt. Für eine Promotion in diesem Fach muss Radbruch sich deshalb in Köln bewerben, an Max Delbrücks renommiertem Institut für Genetik— wo der Andrang groß ist und die Professoren nicht gerade auf ihn gewartet haben. Doch von nun an wird ihm sein Verständnis für Technik viele Türen öffnen. In Köln suchen sie jemanden, der Chromosomenbilder machen kann, sogenannte Karyogramme. Das hat Radbruch als Schüler an den Bonner Mäusen gelernt. Er darf wechseln, promoviert in Immunologie— und entwickelt mit einem Diplomanden einen magnetischen Zellsortierer. Mit der herkömmlichen Technik dauerte das Sortieren die ganze Nacht. Wir waren einfach faul. Der Diplomand, Stefan Miltenyi, leitet mittlerweile einen der größten deutschen Bio-Tech-Konzerne. Und Radbruch macht eine Entdeckung, die er seinen »claim to fame« nennt.

Ich bewundere die Schönheit unseres Immunsystems. Es arbeitet extrem elegant und nachhaltig.

ANDREAS RADBRUCH

Damals geht man noch davon aus, dass auch unser immunologisches Gedächtnis ständig im Fluss ist: Ein Auf und Ab von Abwehrzellen im Blut, die sich im Notfall vermehren, an Orte schwimmen, wo sie gebraucht werden und nach getaner Arbeit sterben. Radbruch fragt sich: Wie kann sich ein solches System erinnern? Wo werden Informationen zu Erregern aufbewahrt, gegen die wir nach Infektionen oder Impfungen immun sind? Und warum flammen Autoimmunkrankheiten immer wieder auf, sobald man die Medikamente absetzt? Der Forscher Radbruch beobachtet nun das System und seine Teile wie früher der Schüler Radbruch. Nur dass er jetzt keine Mäuse sucht, zählt, bestimmt, sondern die verschiedenen Zellen unseres Immunsystems. Mit seiner Forschungsgruppe untersucht er sogenannte Lymphozyten, weiße Blutkörperchen, die uns ein Leben lang vor Krankheitserregern schützen, denen wir schon einmal begegnet sind. Die einen, Gedächtnis-T-Zellen, merken sich Rezepte für biochemische Signalstoffe. Die anderen, Gedächtnis-Plasmazellen, merken sich Rezepte für Antikörper. Und Radbruchs Forschungsgruppe kann zeigen: Diese Zellen sind mitnichten vergänglich, wie man lange Zeit angenommen hatte. Sie bleiben uns ein Leben lang erhalten. Das immunologische Gedächtnis wächst mit uns, es lernt mit uns, es schützt uns – dauerhaft.

1996 wird Andreas Radbruch Wissenschaftlicher Direktor des Deutschen Rheuma-Forschungszentrums (DRFZ) in Berlin. Dort setzt er die Untersuchungen mit seinem Team fort: Er markiert die Gedächtniszellen, beobachtet ihren Lebenszyklus und verfolgt ihren Weg durch den Körper. Schon bald verkündet das DRFZ eine sensationelle Entdeckung: Das Immungedächtnis sitzt uns in den Knochen. Im Mark der langen Knochen unserer Arme und Beine werden die Gedächtniszellen bewahrt, die unser Immunsystem seit der Geburt sammelt. Das sind jene Abwehrzellen, deren Antikörper beim ersten Einsatz gegen einen unbekannten Erreger am besten gewirkt haben. Unser Körper bettet sie in Nischen zwischen sogenannte Ammenzellen, die sie füttern und pampern und vor Stress bewahren. Denn sterben die Gedächtniszellen, dann geht auch das effektivste Rezept gegen einen bestimmten Erreger verloren.

Der Datenschatz ist gut verborgen. Nur wenige Millionen Zellen umfasst unser immunologisches Gedächtnis. Verglichen mit der Gesamtzahl aller Zellen unseres Körpers sind Gedächtniszellen extrem selten: Weniger als ein Prozent der Zellen im Knochenmark produziert Antikörper. Und von diesen Zellen ist wiederum nur jede tausendste bis zehntausendste auf einen bestimmten Krankheitserreger spezialisiert. Wie erforscht man etwas, das so selten ist — und so gut geschützt?

Andreas Radbruch mit seinem Kollegen im Labor
Eine weitere Maschine im Labor.

Andreas Radbruch ist die Personifikation des Mottos »Geht nicht, gibt‘s nicht«. Dass das früher der Slogan eines Baumarkts war, ist durchaus passend für seine Herangehensweise. In den Naturwissenschaften gehen Entdeckungen meist Hand in Hand mit der Entwicklung neuer Maschinen, Mikroskope, Messgeräte. Ohne die neuesten Geräte könnte das DRFZ nicht vorne mitspielen in der Immunforschung. Wir haben hier einige ›Porsches‹ und ›Ferraris‹ angeschafft, sagt Radbruch beim Rundgang durch die Labore. So gut die Technik ist, ihm ist sie selten gut genug. Marktübliche Zellsortierer zum Beispiel sind für Blutzellen konzipiert, die rund sind und robust. Sortiert man damit Plasmazellen, platzen sie.

Radbruch entwickelt deshalb viele Geräte weiter, im Ideen-Ping-Pong mit seinem Technischen Leiter Toralf Kaiser. Als der ihn während des Rundgangs darauf hinweist, dass es heute nicht mehr nötig sei, Bauteile aus Plastikpipetten und Siebdruckfolie zusammenzufrickeln, weil sie doch standardmäßig eingebaut sind, kontert Radbruch: Ich schraub‘ die Maschine trotzdem lieber selbst auf.

Im Moment verfolgt er die Entwicklungen der Arbeitsgruppe von Hyun-Dong Chang. Sie tüftelt an einem Gerät, das die Bakterien im menschlichen Stuhl nach ihren Formen sortieren soll: »Shit«-Zytometrie (wobei Zytometrie für Zellvermessung steht). Die Untersuchung ist wichtig, denn bei Autoimmunkrankheiten gerät oft auch das Mikrobiom durcheinander. Ob ein Mensch an Rheuma erkrankt ist, lässt sich so beispielsweise viel sicherer diagnostizieren als über die Rheumafaktoren im Blut, erklärt Radbruch.

Er ist bekannt dafür, Experimente zum Laufen zu bringen. Ursprünglich wurde er wegen dieser Erfolge im Labor ans DRFZ geholt. Radbruch akzeptierte es als Dilemma des deutschen Forschungsbetriebs, dass er als Wissenschaftlicher Direktor vor allem organisierte, Drittmittel beantragte, politisch agieren und diplomatisch sein musste. Das ist nicht unbedingt mein Ding, sagt er. Ich habe immer ein bisschen getrauert, weil ich nicht mehr so oft im Labor stehen konnte. Im Mai hat er die Leitung des DRFZ an seinen Nachfolger Eicke Latz übergeben. Jetzt würde er am liebsten im Institut wieder sein eigenes Labor einrichten und dort gemeinsam mit den jüngeren Forschenden Experimente zum Laufen bringen.

Wir haben hier einige ›Porsches‹ und ›Ferraris‹ angeschafft.

Spritze und Glas liegt auf einem Tisch
Eine der Gerätschaften, mit den Andreas Rabdruch am Deutschen Rheuma-Forschungzentrum arbeitet.

Ich habe immer ein bisschen getrauert, nicht mehr so oft im Labor stehen zu können.

Steckte die Immologie zu Beginn seiner Karriere noch in den Kinderschuhen, sieht Radbruch heute eine Hochzeit der Immunforschung. Trotzdem weiß noch immer niemand genau, wie Autoimmunkrankheiten entstehen. Warum der Körper plötzlich die eigenen Zellen zum Feind erklärt. Und warum das Immungedächtnis diesen Irrtum genau so sorgfältig bewahrt wie den Datenschatz über gefährliche Erreger.

Mittlerweile kann man das Vergessen erzwingen, mit Chemotherapien alle Gedächtniszellen abtöten und danach frische Stammzellen implantieren. Weltweit wurde dieser »Immunreset« bisher bei mehreren Tausend Patienten erfolgreich durchgeführt. Auch Radbruch hat die Methode angewendet, gemeinsam mit Ärzten der Charité. Sie hat allerdings extreme Nebenwirkungen, erklärt er: Die Therapie ist zu brutal, um allgemein akzeptiert zu werden. Deshalb arbeiten die Forscher am DRFZ an präziseren Methoden. Bildhaft gesprochen wollen sie nicht das komplette Gedächtnis ausschalten, indem sie dem Patienten mit einem Hammer auf den Kopf hauen, sondern wie mit einer Pinzette einzelne Gedächtniszellen aus ihren Nischen picken und damit gezielt nur jene Erinnerungen löschen, die krank machen. Außerdem versuchen sie, die Ammenzellen zu überzeugen ihre Bemutterung aufzugeben und krankmachende Gedächtniszellen ihrem Schicksal zu überlassen. Die Immunforscher kleben dafür Markierungen an Zelloberflächen, verändern die mRNA im Zellkörper, schleusen Proteine als Störsender zwischen die Ammenzellen.

Selten ist bei Grundlagenforschung von Heilung die Rede. Zu groß ist die Gefahr, dass Betroffene sich falsche Hoffnungen machen. Denn auch wenn ein krankmachender Mechanismus endlich verstanden ist, vergehen meist noch Jahrzehnte, bis es eine Therapie gibt. Andreas Radbruch, der das Immungedächtnis so lange untersucht wie kaum ein anderer, traut sich, von Heilung zu sprechen – oder präziser: von therapiefreier Remission. Er ist sich sicher, dass Gedächtniszellen ein Schlüssel sind, um Autoimmunkrankheiten zu stoppen. Therapien, die dort ansetzen, könnten Menschen ihr Leben zurückgeben. Und das hat mich motiviert, von Anfang an.

Andreas Radbruch macht eine Pause und steht dabei in einer Glastür - halb draußen.

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