Tag für Tag verstopfen sie die Innenstädte, bringen den Straßenverkehr zum Erliegen und machen mit ihren Abgasen die Menschen krank. Immer lauter wird deshalb die Forderung nach weniger Autos auf den Straßen. Mit einer Wirtschaftswissenschaftlerin, einem Physiker und einem Soziologen haben wir über die Mobilität der Zukunft gesprochen. In Teil 3 der Serie kommt Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) zu Wort. An dem Leibniz-Institut erforscht die Ökonomin die wirtschaftlichen Auswirkungen der Energie- und Verkehrswende.
Meistens geht es Claudia Kemfert nicht schnell genug. Ginge es allein nach ihr, die Verkehrswende wäre längst vollzogen. Die Wirtschaftswissenschaftlerin ist eine der bekanntesten und profiliertesten Streiterinnen für ressourcen- und klimaschonende Politik. Wenn es um die Themen Energie, Verkehr und Umwelt geht, zählt die Expertin laut dem renommierten Repec Ranking weltweit zu den Top 10 der Umweltökonomen. Auch die Vermittlung ihrer Erkenntnisse in der Öffentlichkeit ist ihr wichtig: An manchen Tagen gibt sie fünf, sechs Interviews.
Am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) berechnet Claudia Kemfert die volkswirtschaftlichen Auswirkungen von Klimaschäden und politischen Gegenmaßnahmen. Berät Unternehmen, Politiker, die Vereinten Nationen und die Weltbank. Und macht ihnen Beine. Sie selbst lebt seit Mitte der 1990er Jahre so klimafreundlich wie möglich: pendelt mit dem Zug zwischen Oldenburg und Berlin, fährt in beiden Städten passioniert Fahrrad, kompensiert den CO2-Ausstoß unvermeidbarer Flugmeilen, trägt ökologisch korrekte Businessmode, isst Bio. Kemferts Credo ist: Klimaschutz macht Spaß
.
Falls es ihr heute nicht schnell genug geht, lässt Claudia Kemfert es sich zumindest nicht anmerken. Vor einigen Minuten hat sie Platz genommen auf der schmalen Bank eines der ersten autonom fahrenden Busse in Deutschland. 40 Stundenkilometer hätte EZ10
drauf, fahren darf er hier, auf dem Campus Mitte des Charité-Krankenhauses in Berlin, nur zwölf. Losfahren kann er erst, wenn der menschliche Fahrer ein paar Knöpfe drückt und ihn auf die richtige, per GPS vorgegebene, Spur bringt. Kurz und moppelig, mit niedlichen Scheinwerfern und Rädern fährt er bei den Passanten dafür Sympathiepunkte ein. Das Gefährt sieht aus, als hätte Hollywood einen Star für den neuesten Kinderfilm gecastet: Liebling ich habe den Bus geschrumpft!
Aufrecht und lächelnd sitzt Claudia Kemfert mit dem Rücken zur Fahrtrichtung und konzentriert sich auf das Interview. Sie kennt das schon. Sie trifft sich mit Journalisten gerne hier, um ihnen einen kleinen Vorgeschmack auf den Verkehr der Zukunft zu verschaffen.
Denn wenn es um einen nachhaltigen Lebensstil geht, um die Veränderung von Gewissheiten und Gewohnheiten, dann sind oft ziemlich negative Vibes zu spüren: Das wird zu teuer! Das wird Arbeitsplätze kosten! Das wird Deutschland zurück in vorindustrielle Zeiten katapultieren! Negative Mythen
nennt Claudia Kemfert solche Glaubenssätze. Und sie sagt, dass sie sehr gezielt in Umlauf gebracht werden. Es gibt eine interessengeleitete Kommunikation. Man will die Marktdurchdringung von Elektromobilität verhindern und dann werden Mythen kreiert.
PR-Kampagnen, Fake-News, Diskreditierung von Wissenschaftlern in den sozialen Medien. Es ist ein Spiel, das Claudia Kemfert schon aus der Diskussion um die Energiewende kennt. Sie ist eine ebenbürtige Gegnerin.
Wo andere Probleme sehen, sieht Claudia Kemfert Chancen. Aus ihrer Sicht ist die Verkehrswende kein wirtschaftliches Problem, sondern ein politisches. Die Politik lasse sich von der Autolobby ausbremsen. Dabei müsse es andersherum laufen: Die Politik müsse die Autoindustrie dazu bewegen, konsequent nachhaltige Technologie zu entwickeln und einzusetzen: Die Rahmenbedingungen sind noch lange nicht streng genug. Die europäischen Grenzwerte für Fahrzeugemissionen sind ein gutes Beispiel dafür: Es gibt sie, aber sie werden nicht eingehalten und Verstöße werden nicht ausreichend sanktioniert.
Die Dringlichkeit ist unstrittig: Verkehr ist für fast 30 Prozent der CO2-Emissionen in Europa verantwortlich, davon entfallen 72 Prozent auf den Straßenverkehr und davon wiederum zwei Drittel auf PKW. In anderen Sektoren, zum Beispiel in der Industrie, der Landwirtschaft oder dem Energiesektor, wurden die Emissionen seit 1990 deutlich reduziert. Nur Autos emittieren neuerdings sogar wieder mehr CO2 als noch vor einigen Jahren.
Wie also befreit man die Verkehrspolitik aus dem Griff der Autolobby? Seit Jahren ist Claudia Kemfert Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung, dem sogenannten Umweltrat. Schon 2017 haben die Expertinnen und Experten in einem Sondergutachten einen ganzen Katalog von politischen Maßnahmen empfohlen. Kemfert sagt: Wenn man den Wandel von verschiedenen Seiten aus anpackt, wird es für die Politik leichter, sich von starken Lobby-Interessen unabhängig zu machen, die nur für die Vergangenheit kämpfen, aber nicht für die Zukunft.
Als wichtigste Maßnahme empfehlen die Sachverständigen des Umweltrats eine Quote für Elektroautos: Schon 2025 sollen 25 Prozent aller Neuwagen elektrisch fahren, 2030 sollen es dann sogar 50 Prozent sein. Doch eine Quote wurde bis heute nicht eingeführt. Auf deutschen Straßen fahren zurzeit knapp 230.000 Elektroautos, das sind kaum vier Prozent der Fahrzeuge. In Norwegen sind dagegen bereits 57 Prozent aller Neuzulassungen elektrisch unterwegs. Das Land sei zum Vorbild für die Mobilitätswende geworden, weil die Regierung eine lange Liste von Maßnahmen durchgezogen habe, sagt Kemfert. So sei nicht nur die Elektromobilität gefördert worden, sondern ganz gezielt auch der öffentliche Nahverkehr, Fahrradfahrer und Fußgänger. Claudia Kemfert ist regelmäßig in Oslo und genießt, wie sich die Stadt durch die Verkehrswende verändert hat: Es ist leiser. Es gibt mehr Raum für Menschen als für Autos. Man lebt nicht nur gesünder, auch die Lebensqualität steigt enorm.
Um der weitverbreiteten Reichweitenangst
entgegenzuwirken, muss die Ladeinfrastruktur ausgebaut werden. Mehr Elektromobilität bedeutet auch einen höheren Strombedarf. Nicht nur deshalb ist die Verkehrswende eng mit der Energiewende, dem beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien, verknüpft. Elektroautos könnten als fahrende Akkus
zu einem wichtigen Element der sogenannten Sektorkopplung werden: Sie speichern Strom, wenn Windkraft oder Solarzellen Überschüsse produzieren, und geben ihn wieder ins Stromnetz ab, wenn in Spitzenzeiten die Nachfrage hoch ist. Claudia Kemfert begleitet auch die Energiewende schon lange als Wissenschaftlerin und Politikberaterin. Sie sagt: Die Energiewirtschaft hat 20 Jahre lang gegen die Energiewende gekämpft und versucht, die Politik zu beeinflussen. Aber als die politischen Rahmenbedingungen dann feststanden, haben die Manager sehr schnell kluge neue Geschäftsmodelle entwickelt.
In der Autoindustrie hingegen herrsche immer noch ein trügerisches Gefühl der Unangreifbarkeit. Veränderung ist unbequem. Um den notwendigen Strukturwandel doch noch irgendwie abwenden zu können, habe die Autolobby eine ganze Reihe eben jener Mythen in die Welt gesetzt, denen Claudia Kemfert den Kampf angesagt hat.
Mit ihrem Team entwickelt sie am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung quantitative, computergestützte Modelle, um zu simulieren, was die Umstellung auf nachhaltige Mobilität unsere Gesellschaft wirklich kosten wird – und welche Erträge sie bringen kann. Für ihre Modelle sammeln die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Daten zu Verkehrsmärkten in aller Welt, werten den Erfolg politischer Maßnahmen wie Ökosteuern oder Kaufprämien in anderen Ländern aus, untersuchen, welche Anreize Menschen dazu bringen, ihr Mobilitätsverhalten zu verändern. Mit dem Wissen aus diesen Daten und Simulationen widerlegt Claudia Kemfert negative Mythen mit erstaunlicher Geschwindigkeit.
Mythos 1: Die Verkehrswende wird Arbeitsplätze kosten. Es wird ein wirtschaftliches Fiasko!
Claudia Kemfert verweist darauf, dass die Energiewirtschaft mit veränderten Geschäftsmodellen ihre Chancen nutzen konnte und empfiehlt, so früh wie möglich auf Technologien und Dienstleistungen zu setzen, von denen sich jetzt schon abzeichnet, dass sie zentral für die Mobilität von morgen sind. Noch hat die Industrie ihr Schicksal selbst in der Hand. Wenn sie rechtzeitig neue Geschäftsmodelle erarbeiten, dann werden die deutschen Konzerne nicht nur in der jetzigen Größenordnung erhalten bleiben, sondern es werden sogar neue Jobs geschaffen, etwa für IT-Spezialisten.
Mythos 2: Elektroautos sind umweltschädlich! Bei der Gewinnung der Rohstoffe werden Menschen und Natur ausgebeutet!
Kemfert räumt ein, dass der Bau von Elektroautos erstmal mehr mineralische Rohstoffe wie Lithium, Kobalt und Seltene Erden benötigt. Auch deshalb sollten in Zukunft weniger Autos gebaut werden. Kaufprämien für Autos, wie sie gerade als Konjunkturhilfe in der Coronakrise, beschlossen wurden, hält Kemfert für ökologisch und ökonomisch unsinnig: Es ist wenig gewonnen, wenn 45 Millionen Verbrennerfahrzeuge durch Elektroautos ausgetauscht werden, die dann wieder 23 Stunden am Tag ungenutzt herumstehen.
Stattdessen sollte die Politik sich dafür einsetzen, dass Akkus von Elektroautos in Zukunft zu 100 Prozent recycelt werden, sodass weniger Rohstoffe benötigt werden. Damit die Batterien nicht einfach im Müll landen, müssten Recyclingtechnologien gezielt gefördert werden und ein nationales Rohstoffinventar aufgebaut werden, aus dem die Hersteller recycelte Rohstoffe für neue Akkus beziehen könnten. Der Abbau der dann noch benötigten Rohstoffe sollte streng kontrolliert und reguliert werden. Die Bundesregierung sollte sich für internationale Umwelt- und Sozialstandards einsetzen und auch dafür sorgen, dass Verstöße gegen diese Standards sanktioniert werden
, sagt Kemfert.
Mythos 3:Es ist gefährlich, nur auf ein Pferd zu setzen! Deutschland muss offen für alle Technologien bleiben: nicht nur Elektromobilität fördern, sondern auch synthetische Kraftstoffe, Biodiesel, Brennstoffzellen.
Wer so argumentiere, sagt Kemfert, wolle in Wahrheit an alten Technologien festhalten. Nach jahrzehntelanger politischer Förderung des Verbrennungsmotors, habe der auf dem Markt unfaire Wettbewerbsvorteile. Solange man diese Vorteile nicht abbaut, ist die Richtung festgelegt. Dann produziert Technologieoffenheit genau das Gegenteil des Gewünschten: eine Technik, die ineffizient und teuer ist.
Im Hinblick auf die Energieeffizienz sei es die rationale Lösung, Elektromobilität zu fördern: Elektromotoren setzen mehr als 90 Prozent der Energie in Bewegung um, der Wirkungsgrad von Verbrennungsmotoren liegt nur bei 20 bis 40 Prozent. Brennstoffzellen seien dazu keine Alternative, weil allein die Herstellung von Wasserstoff zu viel Energie verbrauche.
Mythos 4: Elektroautos sind nicht für den ländlichen Raum geeignet. Der ländliche Raum wird mit der Verkehrswende abgehängt!
Kemfert gibt zu, dass es im Moment noch schwierig sei, auf dem Land ohne eigenes Auto mobil zu sein. Bezahlbare, komfortable Mobilität ist ein Grundbedürfnis, auch für Menschen im ländlichen Raum. Man darf aber nicht vergessen, dass schon jetzt 80 Prozent der Menschen in Ballungsräumen leben.
Gerade Elektrotaxis oder Shuttlebusse seien eine ideale Ergänzung, um den ländlichen Raum an das öffentliche Verkehrsnetz anzubinden: Steckdosen gibt es schließlich überall.
Außerdem sei individuelle Mobilität nicht gleichbedeutend mit der Verfügbarkeit eines eigenen Autos. Wichtig ist, dass ich von A nach B komme, egal ob mit dem Rad, dem Zug, zu Fuß oder per App mit einem autonomen Elektroshuttle. Hauptsache umweltschonend.
Von A nach B ist es manchmal nicht nur auf dem Land ein weiter Weg. An den Fenstern des autonomen Busses auf dem Charité-Campus ziehen inzwischen die Backsteinfassaden der Klinikgebäude und Forschungseinrichtungen vorbei. Moderne Krankenhäuser wie das Bettenhochhaus der Charité haben kurze Wege, für Ärzte und Pfleger wie für die Besucher, meist vertikal mit Aufzügen verbunden. Aber die meisten Gebäude des Klinikgeländes in Berlin-Mitte wurden zwischen 1896 und 1917 gebaut. Schon damals war Abstand der beste Schutz gegen die Ausbreitung von Infektionskrankheiten. Deswegen ist der Campus der größten europäischen Universitätsklinik so weitläufig. Und deswegen wird der autonome Shuttle auch so gut angenommen. Er übernimmt die Funktion eines Aufzugs, nur eben in der Horizontalen.
Ein letzter Mythos: Die Verkehrswende ist Umerziehung und Kollektivismus. Das Auto gibt Millionen Menschen individuelle Freiheit.
Der Shuttle überholt mittlerweile ein Ehepaar. Was nur funktioniert, weil sie ziemlich fußlahm mit Schiene am Bein unterwegs ist. Die Stimmung ist angespannt: Er hat am Nordende des Krankenhausgeländes geparkt, ihr Untersuchungstermin ist an der Luisenstraße im Süden. Schon beim Anblick des Shuttles hellen sich ihre Gesichter auf. Sie fahren uns jetzt da direkt hin? Und es kostet auch nichts?
Beglückt steigen die beiden ein und lassen sich geduldig über den Campus zuckeln. Die Verkehrswende hat gerade zwei neue Fans gewonnen – ganz ohne Umerziehung.
Die Rede vom Freiheitsentzug kann Claudia Kemfert sowieso nicht mehr hören. Nicht nur für die einkommensschwache Familie, die an einer verkehrsumtosten Kreuzung wohne, bedeute die Verkehrswende ganz konkret mehr Freiheit: weniger Lärm, weniger Unfälle, weniger Abgase. Weil die Verkehrswende auch das Klima schone, gebe sie zukünftigen Generationen in allen Gesellschaften der Welt mehr Freiheit. Das ist schließlich der Grundgedanke, der alle Maßnahmen der Verkehrswende durchziehen sollte
, sagt sie: Allen, die zu Lasten der Gesellschaft, zu Lasten der Umwelt, zu Lasten des Klimas handeln – denen muss es schwer gemacht werden. Und verantwortungsvolles Verhalten muss sich noch stärker lohnen. Dann gewinnen am Ende alle.