LEIBNIZ Wo stehen wir heute, wenn wir auf die Freiheitskämpfe Homosexueller in Deutschland schauen, Herr Schwartz?
MICHAEL SCHWARTZ Vor allem seit den 1990er Jahren hat es einen enormen Emanzipationsschub gegeben. Die rechtliche Lage hat sich verbessert, genauso wie die gesellschaftliche Akzeptanz. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in den Erfolgen der Selbstorganisation und der politischen Partizipation von Schwulen. Anders als im Großteil des 20. Jahrhunderts muss man eine homosexuelle Identität nicht mehr zwangsläufig verstecken, wenn man sich um Elitepositionen bemüht.
Gab es Schlüsselmomente für den Fortschritt?
Einen Befreiungssprung gab es im Zuge der sexuellen Revolution von 1969, als Homosexualität von Erwachsenen endlich entkriminalisiert wurde. Im Zuge der Großen Strafrechtsreform wurde das Übernachten Unverheirateter — bisher als »Kuppelei« strafbar — straffrei , sexualaufklärerische oder leicht pornographische Zeitschriften, auch für Homosexuelle, wurden erlaubt. Der Christopher Street Day ereignete sich erstmals, und Rosa von Praunheim drehte den provokativen Film »Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt«. Das bedeutete eine neue Ära für Schwule.
Galt das auch für lesbische Frauen?
In den 1970er Jahren gab es auch für sie einen Schub. Die Lesbenbewegung entwickelte sich allerdings eher im Zuge der allgemeinen Frauenbewegung — mit dem »Wir haben abgetrieben«-Titel des »stern« als Fanal — als parallel zur Schwulenemanzipation…
…die später auch Rückschläge erlitt.
Das stimmt, in den 1980er Jahren schürte die Aidskrise Ängste und es gab Stimmen, etwa aus der CSU, die »gesunde« Mehrheitsgesellschaft müsse vor der »Risikogruppe« der Schwulen geschützt werden. Letztlich setzte sich eine kooperative Haltung durch. Die Deutsche Aidshilfe wurde gegründet und ein wichtiger Ansprechpartner für die Politik.
Die homosexuelle Szene in der Reichshauptstadt war sehr frei, sie wurde von der Polizei kontrolliert, vor allem aber auch geschützt.
MICHAEL SCHWARTZ
Waren es häufig politische Affären, die die Schwulenbewegung befördert haben?
Ein eindrückliches Beispiel ist die Affäre um den ehemaligen Hamburger Ersten Bürgermeister Ole von Beust: Er wurde quasi durch einen Erpressungsversuch seines Koalitionspartners, des rechtspopulistischen Innensenators Ronald Schill, zum Coming-out genötigt. Und trat die Flucht nach vorn an: Am Ende musste Schill zurücktreten, seine Partei entschuldigte sich. Nicht der angeprangerte Homosexuelle stürzte im Skandal ab, sondern sein Skandalisierer. Das war neu, das war im 20. Jahrhundert ganz anders gewesen.
Wie ist die Situation in anderen Bereichen, zum Beispiel der Arbeitswelt?
In wirtschaftlichen Führungsriegen gibt es mittlerweile schwule Netzwerke, in der Werbebranche gilt es oft sogar als besonders hip, sich zu outen. In anderen Bereichen müssen Schwule noch um Anerkennung kämpfen: In Arbeitsfeldern, in denen ein toughes Männerbild gefragt ist, wie bei der Bundeswehr, der Polizei oder im Profifußball, steht oft die abwertende Annahme, alle Schwulen seien weibisch und tuntig. Ein neuer Kießling-Skandal wäre heute aber kaum mehr möglich. Der Nato-General Günter Kießling wurde 1983 unehrenhaft entlassen, nachdem man ihm Homosexualität unterstellt hatte. Damit galt er als erpressbar für fremde Geheimdienste und wurde zum Sicherheitsrisiko erklärt. Homosexualität unter erwachsenen Männern war ein Stigma. Man konnte mit diesem »Label« erledigt werden.
Damals war Deutschland geteilt. Wie verlief die Entwicklung in der DDR?
Im Grunde ähnlich, wobei vor allem die evangelische Kirche — die in der DDR ja einen Sonderstatus mit einer gewissen Autonomie hatte — der Schwulenbewegung Schutz bot. Unter ihrem Dach fand man sich ab 1982 in Arbeitskreisen zusammen, die dann ihrerseits zu Ansprechpartnern der DDR-Gesundheitspolitik in Sachen Aidsprävention wurden.
War Homosexualität in der DDR strafbar?
Einvernehmliche homosexuelle Kontakte unter Erwachsenen waren schon seit Ende der 1960er Jahre entkriminalisiert. Bei Kontakten zu Minderjährigen galt allerdings in beiden deutschen Strafgesetzbüchern weiterhin ein höheres Schutzalter bei Verstößen als bei vergleichbaren heterosexuellen Kontakten. Nicht die westdeutsche Demokratie, sondern die SED-Diktatur in der DDR schaffte diese letzte Ungleichbehandlung im Zuge einer späten Reform 1988/89 zuerst ab: Sex mit Minderjährigen wurde bei Homo- und Heterosexuellen gleichgestellt. In der Bundesrepublik fiel der berüchtigte Paragraf 175 erst 1994, nach der Wiedervereinigung.
Paragraf 175 ist ein Relikt aus der Kaiserzeit. Wurde schon damals für Gleichberechtigung gekämpft?
Es gab zeitgleich homophobe und emanzipative Bewegungen, die sich gegenseitig bedingten: je mehr Emanzipation, desto vehementer der Widerspruch. Es ging dabei auch um Paragraf 175, der sich gegen homosexuelle Kontakte von Männern wandte und liberale Vorprägungen — in Bayern etwa war Homosexualität seit Ende der napoleonischen Zeit straffrei — konterkarierte. 1871 wurde das homophobe preußische Strafrecht auf das gesamte Deutsche Reich ausgedehnt. Spannend ist, dass die hochgestellte Oberschicht trotzdem weitgehend unbehelligt blieb, es herrschte eine Art Klassenjustiz. Auch die homosexuelle Szene in der Reichshauptstadt Berlin war sehr frei, sie wurde von der Polizei kontrolliert, vor allem aber auch — mit Blick auf Homosexuelle aus höheren Schichten — geschützt, etwa gegen Erpresser aus dem Bereich der männlichen Prostitution.
Damals entstand die erste organisierte Emanzipationsbewegung. Worum ging es ihr?
Sie richtete sich gegen Paragraf 175, aber auch gegen die massive homophobe Wendung der Zeit. Das wichtigste Beispiel ist der Skandal um den vermutlich bisexuellen Fürsten Philipp zu Eulenburg, der nicht nur hoher Diplomat war, sondern auch ein enger Vertrauter von Kaiser Wilhelm II. Weil Homosexualität unter Strafe stand, entspann sich einer der größten politischen Skandale der Kaiserzeit. Eulenburg und weiteren hochrangigen Aristokraten, Diplomaten und Militärs wurden homosexuelle Handlungen vorgeworfen. Danach waren sie politisch und gesellschaftlich erledigt. Es hieß, sie würden im Zweifel auch politische Geheimnisse verraten.
Dieser Vorwurf scheint eine Konstante zu sein. Im Kalten Krieg etwa wurden Homosexuelle auch »Moskaus neue Garde« genannt.
Damals kam wieder die Angst auf, dass Schwule lenkbar seien und als russische Agenten instrumentalisiert werden könnten. Ausgerechnet die »freie Welt« des »Westens« agierte extrem homophob.
Gab es ähnliche Muster im Nationalsozialismus?
In seiner Frühzeit gab es zwei Skandale: Zunächst 1931/32, als die Sozialdemokraten private Briefe des SA-Stabschefs und Hitler-Vertrauten Ernst Röhm veröffentlichten, die ihn als homosexuell outeten. Der erste Skandal kam also von links. Aber Hitler hielt zu Röhm, der 1933 als erster öffentlich bekannter Homosexueller Reichsminister wurde, also Mitglied einer deutschen Regierung. Viele Konservative regten sich auf, Reichspräsident Paul von Hindenburg hätte Röhm am liebsten den Handschlag verweigert. Der zweite Skandal folgte Mitte 1934, als Röhm sich mit Hitler in politischen Fragen überwarf. Hitler skandalisierte daraufhin dessen Homosexualität und rechtfertigte so die politische Mordaktion, der auch Röhm zum Opfer fiel. Ab 1935 ließ Hitler Homosexuelle drastisch polizeilich und juristisch verfolgen. Tausende wurden in KZs eingewiesen, aus denen vier von fünf nicht lebend zurückkamen.
Wurden die Verfolgten nach Kriegsende rehabilitiert?
Rehabilitiert wurde niemand, da Homosexuelle nicht als NS-Verfolgte betrachtet wurden, sondern als zu Recht verfolgte Verbrecher. Zunächst hatte es dabei so ausgesehen, als könnte das homophobe NS-Strafrecht zurückgenommen werden, doch dann hielt die Bundesrepublik bis 1969 daran fest und verfolgte aktiv rund 100.000 Homosexuelle. Was war schiefgelaufen? Es gab eine große personelle Kontinuität in Justiz und Polizei, vielfach trafen Homosexuelle in Westdeutschland auf dieselben Verfolger wie vor 1945. Allerdings war die Verfolgung mit der NS-Repression nicht gleichzusetzen. Es gab keine Gestapo und es gab vor allem keine Konzentrationslager mehr, mit Folter und Mord. Doch die Strafandrohung und die gesellschaftliche Diskriminierung führten auch in der westdeutschen Demokratie zu Totschweigen, Unsichtbarmachen, zu inneren Ängsten. Auch zu Selbstmorden. Schwule wurden lächerlich gemacht und verachtet.
Welche Rolle spielten dabei die Medien?
Ihre Rolle war stets widersprüchlich, sie haben Homophobie sowohl geschürt als auch bekämpft und abgebaut. Dabei waren und sind sie immer auch ein Spiegel des gesellschaftlichen Diskurses: Schon 1902 erhob das SPD-Magazin »Vorwärts« den Vorwurf, dass der Großindustrielle Friedrich Alfred Krupp in seiner Ferienresidenz auf Capri homosexuelle Unzucht mit jungen Männern trieb. Das Hamburger Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« spielte in den 1950er-Jahren in der Affäre um Verfassungsschutzpräsident Otto John, dem nach seinem Verschwinden in die DDR homosexuelle Neigungen unterstellt wurden, eine sehr ungute Rolle, wurde später aber zum Flaggschiff der Entdiskriminierung. Herausgeber Rudolf Augstein war 1984 der wohl prominenteste Medienvertreter, der die Diffamierung aller Homosexuellen durch das Vorgehen der Bundesregierung gegen General Kießling massiv kritisierte.
Und heute? Mittlerweile arbeiten viele offen Homosexuelle in Redaktionen.
Sicher, aber Präsenz allein sagt noch nicht allzu viel aus. Es gibt ja auch in der AfD Homosexuelle. Wenn wir die heutigen Debatten über die katholische Kirche und sexuellen Missbrauch betrachten, sind manche Äußerungen noch immer holzschnittartig. Zudem besteht gerade in Internetforen die Gefahr, dass sich homophobe Meinungsblasen bilden.
Wie sicher können sich Schwule ihrer mühsam erstrittenen Freiheit sein?
Fortschritte provozieren immer auch Gegenreaktionen. Teilen der CDU geht die Emanzipation offenkundig zu weit, wenn es um das Adoptionsrecht geht oder um die Ehe für alle. Dem rechten Rand des politischen Spektrums noch mehr. Auch darüber hinaus scheint es in Teilen der Gesellschaft ein gewisses Unbehagen zu geben. Vielleicht sind vom Tempo der Emanzipation manche überfordert? Andererseits ist all das Klagen auf hohem Niveau, vor allem im internationalen Vergleich. In manchen Ländern steht immer noch die Todesstrafe auf das Ausleben von Homosexualität. Der Sultan von Brunei forderte kürzlich Toleranz genau dafür, nicht etwa Toleranz für Homosexuelle!
Was bleibt in Deutschland zu tun?
Noch wirken die menschenrechtswidrigen Verfolgungen nach, auch in der Erinnerung und in der Selbstwahrnehmung der Homosexuellen. Nur wenige Betroffene haben einen Antrag auf Rehabilitation und Entschädigung gestellt. Außerdem geht es längst auch um andere sexuelle Minderheiten wie Inter- oder Transmenschen, da divergieren die rechtliche Lage und die gesellschaftliche Situation noch gravierend. Mein Wunsch wäre, dass die Menschen in Deutschland die notwendigen Schritte miteinander diskutieren, statt sich in gegeneinander abgeschottete Echokammern aufzuspalten, in denen nur noch die eigene Meinung gilt.