Sie brachen mit alten Rollenbildern und forderten die Gleichstellung der Geschlechter. Anstatt sich bevormunden zu lassen, wollten sie selbstbestimmt leben und frei entscheiden, mit wem. Alexandra Kollontai war eine Vorreiterin der Frauenbewegung um 1900. In »Die Liebe der drei Generationen« erzählt sie von drei Frauen, die äußerst fortschrittliche Beziehungen führen. Die Liebe der anderen verstehen Großmutter, Mutter und Tochter trotzdem nicht.
Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags Stroemfeld/Roter Stern. © Copyright 1972, 1980 by Stroemfeld/Roter Stern, Basel/Frankfurt a.M.
Die Liebe der drei Generationen
Von ALEXANDRA KOLLONTAI
Eines Morgens fand ich im Amt unter einem Haufen geschäftlicher und privater Briefe ein dickes Kuvert, das meine Aufmerksamkeit erregte. Ich vermutete darin einen Zeitungsartikel und öffnete es. Aber es war ein viele Seiten langer Brief. Ich suchte die Unterschrift — Olga Wesselowskaja. Was mochte das bedeuten? (…)
»Ich schreibe Ihnen privat, ganz privat — wie nur ein Parteigenosse einem anderen Parteigenossen und Kameraden schreiben kann. Ich schreibe Ihnen aber auch als eine Frau, die öfter als ich mit solchen Fragen zu tun hat und mir vielleicht helfen kann, einen Ausweg aus dieser unerträglichen und niederdrückenden Stimmung zu finden. Ich bin in eine Sackgasse geraten. In meinem ganzen 43jährigen Leben war ich nicht in einer so närrischen, unwürdigen Lage. (…)
Erinnern Sie sich noch an meine Mutter? Sie lebt und hat die Leitung der Wanderbibliothek im N.schen Gouvernement noch nicht aus den Händen gegeben und arbeitet im Volksbildungskomitee. Sie kannten meine Mutter persönlich, daher brauche ich sie Ihnen nicht zu schildern. (…)
Meine Mutter hatte aus Liebe und gegen den Willen ihrer Eltern einen Offizier geheiratet. Sie lebte in einer kleinen Provinzstadt als Regimentskommandeuse. Nach ihren eigenen Worten war sie eine Zeitlang glücklich. Sie hatte zwei Söhne und galt als mustergültige Hausfrau. Ihr Mann vergötterte sie. Aber allmählich begann das passive, zu große Wohlleben der Regimentskommandeuse sie zu bedrücken. Sie wissen ja, was für eine unerschöpfliche Energiequelle meine Mutter Marja Stepanowna gewesen ist. Sie hatte eine für jene Zeit sehr gute Erziehung genossen, war sehr belesen, oft im Ausland gewesen und hatte einen Briefwechsel mit Tolstoi geführt. Sie werden begreifen, daß ihr der Regimentskommandeur nicht genügen konnte.
Das Schicksal führte sie mit dem Kreisarzt Sergei Iwanowitsch Wesselowsky zusammen. Sergei Iwanowitsch, mein Vater, war ein Mensch wie aus einer Tschechowschen Erzählung (…). Er war ein hübscher, kräftiger Mann, liebte dieselben Bücher wie meine Mutter, konnte stimmungsvoll und mit Gefühl über Not und Elend des Bauernstandes reden, trauerte über das arme, in Finsternis lebende Volk und träumte platonisch von der Möglichkeit, Bibliotheken und Schulen einzurichten und Aufklärungsarbeit zu leisten.
Es kam, wie es kommen mußte. An einem heißen Sommerabend, als der Regimentskommandeur im Manöver war, fand sich meine Mutter in den Armen meines Vaters … Das Buch über die ›Wanderbibliotheken in Neuseeland‹ blieb ungelesen im Grase liegen (…)
Wir lebten zusammen, schlossen jedoch aus Prinzip keine Ehe.
Meine Mutter zog zu Sergei Iwanowitsch und ging sofort an die Verwirklichung ihrer alten Idee, für die auch der Tschechowsche Held, mein Vater, schwärmte, an die Errichtung einer Wanderbibliothek. Die Verwirklichung dieses Planes brauchte ungeheure Energie und Anstrengung, denn es waren damals Jahre der heftigsten Reaktion. Aber meine Mutter kämpfte mit der ihr eigenen Hartnäckigkeit und verhandelte mit den Landräten und dem Gouverneur, fuhr nach Petersburg, benutzte alle freundschaftlichen Beziehungen, gab nicht nach, brachte immer neue Argumente vor. Als der Plan sich seiner Verwirklichung näherte, wurden meine Mutter und der ganz konfuse und verängstigte Sergei Iwanowitsch verhaftet und nach einer nicht sehr entfernten Gegend verbannt. Dort bin ich auch geboren. (…)
Mein Vater fühlte sich sehr unglücklich, wurde duck und kam geistig immer mehr herunter. Aber als er aus der Verbannung zurückkehrte, hatte er den Ruf eines Revolutionärs und betätigte sich auf dem Lande. Meine Mutter wirkte mit neuem Eifer für die Aufklärung im Kreisbezirk. Es schien, als sei das Leben meiner Eltern in ruhige, feste Bahnen gekommen. Da ereignete sich ein kleiner, unangenehmer Zwischenfall: Meine Mutter traf ihren schon ziemlich kahlen, aber immer noch hübschen Gatten in einer absolut unzweideutigen Situation mit ihrer Viehmagd Arischa an. Der Vater versuchte, sich zu verteidigen. Die Lage war aber komplizierter, als er annahm: Arischa war schwanger.
Da packte meine Mutter ohne lange Erklärungen ihre Sachen und zog mit mir in die Gouvernementsstadt. Meinem Vater hinterließ sie einen Brief, ganz sachlich, ohne Vorwürfe und Klagen. Unter anderem bestand sie darin auf der Sicherstellung von Arischas Kind und ermahnte ihn, Alkohol, nach dem er ein immer stärkeres Verlangen hatte, zu vermeiden. (…)
Ich wohnte bei ihr. Von frühster Jugend an waren mir die Gedanken und die Tätigkeit des revolutionären Kreises vertraut; als Halbwüchsige las ich ›geheime Literatur‹ und gewöhnte mich an die ›Illegalen‹ und an das ›Illegale‹. (…) Ich war noch nicht sechzehn Jahre alt, als man mich zum erstenmal verhaftete, und meine Mutter war sehr stolz darauf. (…)
Während der Revolutionierungsarbeit innerhalb des städtischen Proletariats wurde ich mit einem schon damals hervorragenden Mitglied unserer Kampforganisation bekannt. Er war bedeutend älter als ich und hatte eine gute, revolutionäre ›Vergangenheit‹. Unter seinem Einfluß wurde ich Marxistin und später steinharte Bolschewistin. Wir lebten zusammen, schlossen jedoch aus Prinzip keine Ehe. Meine Mutter schüttelte zwar den Kopf, fand mich viel zu jung, meinte, daß ich noch warten könnte, mein väterliches Erbteil verspräche Unbeständigkeit in der Liebe, aber schließlich fand sie sich mit der Tatsache ab. Wir zogen zu meiner Mutter und setzten unsere Arbeit fort. Da mein Mann aber ›illegal‹ war, endete es mit einer allgemeinen Verhaftung. Freunde setzten die Befreiung meiner Mutter durch. Ich ging mit meinem Mann in die Verbannung. (…)
HINTERGRUND
Auf die Idee, Passagen aus Alexandra Kollontais Erzählung »Die Liebe der drei Generationen« abzudrucken, brachte uns DIETLIND HÜCHTKER. Am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa untersucht die Historikerin die Umsetzung utopischer Entwürfe — und deren Scheitern. Eine dieser Utopien ist die freie Liebe. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begannen Feministinnen und Sozialdemokraten, die Ehe in Frage zu stellen. Sie forderten Liebesbeziehungen abseits von Konventionen und Heiratsurkunde, freie Partnerwahl statt Vernunftehe. In Künstlerkolonien wie Monte Verità im Schweizer Tessin erprobte man das Konzept. Teile der Frauenbewegung sahen diese Experimente jedoch kritisch. Gerade kurze Liebeleien seien zumeist eine Männerfantasie, für die die Frau einen hohen Preis zahle, etwa bei ungewollten Schwangerschaften. Die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter sollte die Frau dem patriarchalen Zugriff des Mannes entziehen. Kollontai wurde eine Ikone dieser Debatten. Im Zuge der Stalinisierung wurden ihre radikalen Ideen von Ehe und Sexualität zwar verworfen, bildeten in den 1960er Jahren aber erneut einen wichtigen Bezugspunkt für die Debatte der westeuropäischen Linken und des Feminismus.
Es gelang mir, aus der Verbannung zu entfliehen. Mein Mann blieb dort. Ich kam nach Petersburg. Um meine Spuren zu verwischen, brachten meine Freunde mich als Hauslehrerin in das Haus des gutgestellten Ingenieurs M. (…) Ich kannte diese Kreise überhaupt nicht, sie lagen mir fern und waren mir innerlich fremd. Gleich am ersten Abend geriet ich mit dem Hausherren aneinander, ich glaube über Bernstein, und zwar mit einer Hitze, die dem Salonmilieu nicht entsprach. Nachher quälte und ärgerte mich meine ganze Unbeherrschtheit die ganze Nacht, und besonders kränkte mich aus irgendeinem Grund der spöttisch-schelmische Blick des Ingenieurs. Etwas an diesem Menschen brachte mich von vornherein in Erregung. Er schien mir äußerst unsympathisch, weit entfernt von ideellen Bestrebungen, und doch wollte ich gerade ihm die Richtigkeit unserer Anschauungen nachweisen, ihn überzeugen und zur Anerkennung unserer Grundsätze zwingen. (…)
Mich ärgerte diese Atmosphäre der Zufriedenheit, dieses so übertrieben zur Schau getragene Familienglück. Die Aufmerksamkeit des Mannes für seine niedliche Frau, seine ewige Sorge um ihre Gesundheit erregten in mir Ärger, beinahe Bosheit. Absichtlich sagte ich ihm böse, beleidigende Worte über die ›sorgenfreien, wohlgenährten Liberalen‹, über das üppig satte Dasein dieser bürgerlichen Kreise, über die Trivialität ihrer Lebensinteressen, erzählte ihm vom Leben in der Verbannung und brachte die niedliche, nervöse Lydia Andrejewna zu hysterischen Tränen. ›Aber warum tun Sie so etwas?‹ fragte Ingenieur M. vorwurfsvoll und sah mich dabei mit traurigen, aber doch schmeichelnden Augen an. (…)
Es war mir nicht möglich, sie zu verlassen. Ihre Wohnung war nicht nur ein Zufluchtsort für mich, sondern diente auch als bequemer Treffpunkt für meine illegalen Parteigenossen. Als ich davon sprach, daß ich wegziehen wollte, wurden meine Kameraden böse und konnten meine Gründe nicht verstehen. ›Warum verkehren Sie denn mit den Leuten? Halten Sie sich doch abseits.‹ Doch daran war nicht zu denken. Mir schien, als hasse ich die hübsche, satte Gestalt des Ingenieurs M., seine weiche Stimme mit dem rollenden ›R‹ und seinen nachlässigen Gang. Wenn ich ihn aber einige Tage nicht sah, wurde ich nervös. Es quälte mich, daß ich in seinem Hause eine Fremde, eine Überflüssige war. Die geringste Vernachlässigung von ihm verursachte mir heftigen Schmerz. (…)
Einmal hielten mich Parteiangelegenheiten in der Vorstadt länger auf, als ich gedachte hatte. Ich kam spät nachts nach Hause. M. öffnete mir selbst. ›Zurückgekehrt? ... Und ich hatte schon alle Hoffnung verloren!‹ Und ehe ich mich besinnen konnte, lag ich in seinen Armen unter einem Schauer von wilden Küssen. (…)
Sie werden es vielleicht nicht glauben können, aber trotzdem dachte ich gerade zu der Zeit mit besonderer Zärtlichkeit an meinen Mann, der in der Verbannung lebte, und ich tat alles, um ihn freizubekommen. Wenn man mich damals gefragt hätte, wen ich liebte, ohne Besinnen hätte ich geantwortet: ihn, meinen Mann und Freund. Und doch, hätte man von mir gefordert, mich von Ingenieur M. zu trennen, so wäre ich gewiß lieber gestorben. (…) Zu Beginn des Herbstes zeigte sich, daß ich schwanger war … Sollte ich mich davon befreien? Dieser Gedanke war uns beiden fremd. (…)
Aber wo ist denn die Tragödie? Werden Sie denken, während Sie ungeduldig meine rücksichtslos lange Selbstbiographie lesen. Das ist ja alles überwunden, vergangen, alte Geschichten. Um was handelt es sich denn eigentlich? (…) Nein, ich kann heute nicht mehr schreiben. Erlauben Sie mir, daß ich zu Ihnen komme. Da Ihnen das Vergangene nun bekannt ist, wird es leichter und einfacher sein, und vor allem kann ich kürzer über das neue Rätsel sprechen, das das Schicksal mir aufgegeben hat und das ich nicht lösen kann. Rufen Sie die Nummer 20751 an, Apparat 31, und sagen Sie, wann ich Sie ganz allein treffe. Abends ist es mir bequemer, so spät wie möglich. Ich erwarte Ihren Anruf.
Mit kameradschaftlichem Gruß
Olga Wesselowskaja«
Einige Tage später, abends zur verabredeten Stunde, kam Olga Sergejewna (Wesselowskaja, Anm. d. Red.) zu mir. Es fiel mir auf, daß sie elend aussah und daß ihre klugen Augen Unruhe verrieten. (…) »Aber kommen wir zu meiner Angelegenheit«, unterbrach mich Olga Sergejewna mit ihrer sachlichen, klaren Stimme, die an die entschlossene Marja Stepanowna erinnerte. »Es handelt sich um meine Tochter Genia. Ich will von Ihnen über sie hören. Vielleicht kann ich der Zeit nicht folgen, sie nicht verstehen, vielleicht handelt es sich um die unvermeidliche Tragik zwischen Eltern und Kindern, vielleicht aber ist es auch anders — Genias Verkehrtheit, das Resultat der abnormen Verhältnisse, unter denen sie erzogen wurde. Seit ihrer frühesten Jugend ist das Mädel immer hin und her geschoben worden: erst zur Großmutter, dann zu mir, dann wieder zu Freunden. In den letzten Jahren lebte sie in der Fabrik, in einem Großbetrieb, fuhr zur Front, nahm an der Verpflegungskompanie teil und hat da natürlich vieles gesehen, was Mädchen ihres Alters früher kaum ahnten. (…)
Sie wissen, daß ich während der Emigrantenzeit im Ausland den Genossen Rjabkow getroffen und in Davos gepflegt habe. Seitdem leben wir wie Mann und Frau. Gewiß, ich bin viel älter als er. Er ist, sozusagen, mein Schüler. Aber während dieser sieben Jahre unseres Zusammenlebens herrschte die reinste Eintracht zwischen uns. Zusammen kehrten wir im Jahre Siebzehn zurück. Zusammen setzten wir uns für die Sowjetregierung ein. (…)
Genosse Rjabkow stand ausgezeichnet mit ihr. Das freute mich, ich hatte gefürchtet, sie würden sich nicht vertragen, aber Genia und Andrei wurden ausgezeichnete Kameraden, schien es mir. Ich selbst schickte sie zusammen ins Theater, auf Meetings, zur Eröffnung von Kongressen. Unser Leben gestaltete sich freundschaftlich und leicht. (…) So war es bis zum Tag … ja, bis etwas eintrat, das alles veränderte …« (…)
»Ich errate es, Olga Sergejewna. Es geschah, was in solchen Fällen kaum vermeidlich ist: Genia und Genosse Rjabkow gaben sich einander hin. Aber was finden Sie daran so unerträglich Schreckliches, Gemeines, Schmutziges? Eigentlich sollten Sie es verstehen!«
»Nicht das entsetzt mich! Nicht das!« unterbrach mich Olga Sergejewna leidenschaftlich, »aber was ich nachher in Genias Seele gesehen habe und bei ihm …«
»Was haben Sie bei ihnen gesehen?«
»Eine mir unverständliche Herzlosigkeit, eine Ruhe, ein Überzeugtsein von ihrem Recht … etwas Kaltes, Verstandesmäßiges … fast Zynisches … verstehen Sie: nicht Liebe, nicht Leidenschaft, nicht Mitleid, kein Schuldbewußtsein und kein Bestreben, aus dieser Lage herauszukommen … Als ob das alles so sein müßte, als ob ich allein die Verständnislose, die ›Rückständige‹ sei … Manchmal scheint es mir, als beherrsche Genia und ihn allein die allergemeinste Zügellosigkeit, eine unbegreifliche Lüsternheit — dann wieder zweifle ich, ob ich nicht doch rückständig bin … Auch meine Mutter, Marja Stepanowna, hat mich nicht verstanden, als ich meine Liebestragödie durchmachte (…)«
Sage mir offen, Mutter, wenn ich dein zwanzigjähriger Sohn wäre, würdest du auch entsetzt sein, wenn er Verkehr mit Frauen hätte, die ihm gefallen?
Olga Sergejewna erzählte weiter, wie ihre Tochter während des Dienstes zu ihr ins Büro gekommen sei und die Mutter um eine Audienz von zehn Minuten gebeten habe. (…) Und ohne Einleitung, scheinbar kaltblütig und gefasst, teilte sie der Mutter mit, daß sich eine Schwangerschaft bei ihr bemerkbar mache. Olga Sergejewna war entsetzt. »Aber von wem denn?« rief sie unwillkürlich aus. »Ich weiß es nicht«, antwortete die Tochter. Und die Mutter dachte, Genia wolle den Mann nicht kennen, aber dann fühlte sie, wie ein Stich ihr durchs Herz ging, eine Vorahnung. (…)
Olga Sergejewna sprach nicht mit ihrem Mann über Genias Mitteilung. Sie hielt das für Genias persönliche Angelegenheit. Wenn sie es will, kann sie es ihm selbst erzählen. Aber eine dunkle Wolke legte sich auf ihre Seele und bedrückte sie schwer. Eine Unruhe machte sich im Unterbewußtsein fühlbar. Zweifel regten sich in ihr, belebten viele kleine Züge des gemeinsamen Lebens zu dritt in einem Zimmer, die sie früher anders gesehen hatte. Olga Sergejewna verachtete sich wegen dieser Gedanken und verscheuchte sie. Aber sie lebten in ihr und störten sie bei der Arbeit. Sie lebten so beharrlich, daß Olga Sergejewna unter dem Vorwand, sich nicht wohl zu fühlen, aus einer abendlichen Sitzung unerwartet nach Hause eilte … und Genia in den Armen ihres Mannes fand.
»Sie verstehen, mich entsetzte nicht die Tatsache als solche, wohl aber das, was dann geschah. Andrei nahm ruhig seine Mütze, sagte kein Wort zu mir und ging fort. Unwillkürlich schrie ich Genia an: ›Warum hast du mich belogen, warum hast du mir gesagt, daß du nicht weißt, von wem du schwanger bist?‹ Da antwortete Genia mit erstaunlicher Einfachheit: ›Ich sage auch jetzt dasselbe, ich weiß es nicht, ob es Andrei ist oder der andere.‹
›Wieso der andere?‹
›Nun ja, ich hatte in dieser Zeit auch Beziehungen zu einem Kameraden, den du nicht kennst.‹
Verstehen Sie, wie mich das alles verwirrt und in Verzweiflung bringt? Genia erzählte mir, daß sie schon damals, als sie mit Liebesgabe zur Front fuhr, geschlechtlichen Verkehr gehabt hat. Aber am wenigsten verständlich, beängstigend war mir Genias offene Erklärung, daß sie keinen geliebt habe und keinen liebe.
›Warum gabst du dich dann hin? Ist der physische Trieb in dir so stark? Du bist doch noch so jung. Das ist nicht normal!‹
›Wie soll ich es dir sagen, Mutter, einen eigentlichen ›physischen Trieb‹, wie du ihn dir offenbar denkst, habe ich wohl nie gehabt, bis ich den anderen traf, mit dem ich in diesen Monaten verkehrte. Jetzt ist auch das vorbei. Aber er gefiel mir, und ich fühlte, daß ich ihm auch gefalle … das ist doch alles so einfach, und dann, es verpflichtet ja zu nichts, ich verstehe nicht, Mutter, was dich so aufregt? (…) Nur daß man des Abortes wegen die Arbeit auf zwei, drei Wochen unterbrechen muß, das ist gewiß unangenehm. Aber daran bin ich selbst schuld. In Zukunft werde ich mich besser schützen.« (…)
»Und beide wissen voneinander?«
»Ja, das Verbergen und lügen halte ich für unnötig. Wenn es ihnen nicht paßt, ja, dann brauchen sie mich nicht zu küssen, ich werde doch nach meiner Art leben. Andrei nimmt es ruhig hin, ihm macht es nichts. Nun ja, der andere wurde erst böse, stellte mir ein Ultimatum, aber es blieb ihm doch nichts anderes übrig, als sich zu beruhigen. Jetzt habe ich ihn endgültig verlassen, er wurde mir langweilig. Er ist ungezogen und grob, das liebe ich nicht.«
Olga Sergejewna versuchte, ihr die ganze Unzulässigkeit einer so oberflächlichen Einstellung zur ehelichen Gemeinschaft, zum Leben zu beweisen. Aber Genia bestritt das.
»Du sagst, das ist gemein, Mutter, man soll sich nicht ohne Liebe hingeben, du behauptest, ich bringe dich mit meinem ›zynischen Anschauungen‹ zur Verzweiflung. Aber sage mir offen, Mutter, wenn ich dein zwanzigjähriger Sohn wäre, der an der Front gewesen ist und überhaupt selbständig lebt, würdest du auch entsetzt sein, wenn er Verkehr mit Frauen hätte, die ihm gefallen? (…) Würdest du auch über seine ›Moral‹ entsetzt sein? (…) Ich kenne meine Verantwortlichkeit gegen die Partei. Aber welcher Zusammenhang ist zwischen der Partei, der Revolution, der weißgardistischen Front, dem Zusammenbruch und allem, was du angeführt hast — und dem, daß ich mich mit Andrei und noch einem anderen küsse …? Siehst du, ein Kind soll man nicht haben, das geht nicht in dieser Kampfzeit. Ich verstehe das und werde vorläufig um keinen Preis Mutter werden.«
ALEXANDRA KOLLONTAI,
Jahrgang 1872, lebte ihre Ideen. Die russische Revolutionärin, Sexualpolitikerin und Schriftstellerin heiratete gegen den Willen ihrer Eltern und ließ sich später scheiden, um sich politisch zu engagieren. »Ich wollte frei sein.« Nach der Revolution von 1917 machte Lenin Kollontai zur ersten Ministerin der Welt. Als »Volkskommissarin für soziale Fürsorge« lockerte sie das Eherecht, setzte ein Abtreibungsrecht durch und stärkte den Mutterschutz. Später war Kollontai Botschafterin der Sowjetunion in Norwegen, Schweden und Mexiko. 1952 starb sie in Moskau.