Meistens bekommt Friedemann Schrenk, was er will. Irgendwann. Nicht im Streit, sondern durch seine Beharrlichkeit. Und wenn nicht, dann hilft Kreativität. So wie bei der Sache mit den Augen. »Da lassen wir individuelle Porträtbüsten von Urmenschen herstellen und dann weigert sich der Künstler, die Augen auszugestalten. Dieser leere Blick!« Er legt seine Hand auf den weißen Schädel von Australopithecus afarensis. Eine Geste, irgendwo zwischen Fürsorge und Vereinnahmung. »Wenn ich die Porträts bei Vorträgen zeige, mache ich die Augen einfach mit Photoshop rein.«
Wie eine Familie stehen sie hier, in einem kleinen Ausstellungsraum des Senckenberg Naturmuseums in Frankfurt am Main. Zwei Dutzend Vorfahren und Verwandte, von Australopithecus africanus bis Homo neanderthalensis, vom winzigen »Kind von Taung« bis zum »Alten Mann von La Chapelle«. Auch das berühmte Skelett von »Urmutter Lucy« steht in einem Glaskasten. Und mittendrin Friedemann Schrenk als später Nachfahre, der jedes Familienmitglied routiniert vorstellt.
Mit seinen weißgrauen Locken, der gefurchten Stirn und seiner ruhigen Stimme, die das Ende vieler Sätze den Gedanken überlässt, könnte der 61-Jährige als Philosoph durchgehen. Aber die vielen kleinen Narben auf den braungebrannten Händen und Armen zeigen: Die Paläoanthropologie ist eine handfeste Wissenschaft, und jahrzehntelange Feldforschung in Afrika hinterlässt ihre Spuren.
»Ich arbeite gerne im Gelände. Fossilien nur in der Sammlung untersuchen — das wäre nichts für mich.« Schrenk lässt Australopithecus afarensis stehen und geht rüber zu einem Cousin der Gattung Homo: »Zwei Schritte machten den Menschen zum Menschen: der aufrechte Gang, entwickelt vor sieben Millionen Jahren, und die Herstellung von Werkzeugen, deutlich später.«
Es gibt Menschen, die suchen ihr Leben lang nach ihren leiblichen Eltern. Friedemann Schrenk sucht mit derselben Beharrlichkeit nach unseren ältesten Vorfahren. Schon als Kind entlockte er dem Boden Geschichten über die Vorzeit. Die schwäbische Heimat war dabei Glück und Unglück zugleich. Die Hügel der Ostalb gaben dem jungen Fossiliensammler zahllose versteinerte Ammoniten preis, die Vorfahren heutiger Tintenfische. »Aber ich empfand das Leben dort auch als einengend«, sagt Schrenk. Bereits nach dem Vordiplom der Geologie, Paläontologie und Zoologie an der Universität Darmstadt zog es ihn nach Afrika.
Im südostafrikanischen Malawi begründete Friedemann Schrenk vor 30 Jahren das Hominiden-Korridor-Projekt. Seine Idee: Man hatte menschliche Fossilien in Südafrika gefunden, in Tansania und Äthiopien. Also mussten die Hominiden, die Menschenartigen, auch im Korridor dazwischen gelebt haben. Schrenks Team konzentrierte sich auf ein 70 Kilometer langes und zehn Kilometer breites Gebiet in Malawi, arbeitete sich von Norden nach Süden vor.
Jahr für Jahr fanden sie Unmengen fossiler Nilpferdknochen, Giraffenknochen, Elefantenknochen. In der Szene hieß es schon, Schrenk arbeite im »Elefanten- und Giraffenkorridor«. Bis ein einheimischer Grabungshelfer sich am 11. August 1991 bückte und einen in der Landschaft herumliegenden Unterkiefer aufhob. Der Knochen, wissenschaftliche Bezeichnung »UR 501«, sollte Friedemann Schrenk weltweit bekannt machen. Es war der geologisch älteste Nachweis der Gattung Homo. Oder: des ersten »richtigen« Menschen.
Heute ist Schrenk Leiter der Sektion Paläoanthropologie der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung. Die Hominiden-Sammlung des Leibniz-Forschungsmuseums ist mit 23.000 Fossilien die größte in Europa und Amerika. Auch UR 501 liegt hier in einem Alukoffer. Der Knochen gehört der Republik Malawi, aber für eine Spezialuntersuchung ist er gerade in Frankfurt. Schrenk nimmt das dunkelbraune Fossil aus seiner Schaumstoffmulde. Ein Unterkieferknochen, acht Zähne: Homo rudolfensis. »Fürs Fernsehen würde ich jetzt Handschuhe anziehen. Aber das ist gar nicht notwendig.«
Friedemann Schrenk und sein Team konnten nachweisen, dass »der Mensch vom Rudolfsee« bereits vor 2,5 Millionen Jahren im Gebiet des heutigen Malawi lebte. Und dass er einer der frühesten unserer Vorfahren war, der Werkzeuge erfand. Wahrscheinlich, so Schrenks Theorie, weil das Klima trockener und die Nahrung knapper wurde. Mit Werkzeugen aus Geröllsteinen konnte Homo rudolfensis harte Samen zermalmen und zähe Früchte öffnen. Und damit spielte er plötzlich in einer ganz anderen Liga als all die anderen Vormenschen und Menschenaffen, denen die Evolution lediglich eine Anpassung ihres Körperbaus geschenkt hatte.
»Werkzeuge haben die Menschen unabhängig von ihrer Umwelt gemacht«, sagt Schrenk, »aber gleichzeitig wurden sie abhängig von ihren Werkzeugen.« Sie konnten es nicht riskieren, dass das Wissen um ihre Herstellung wieder in Vergessenheit geriet. Schrenk erklärt: »Auch Schimpansen stellen Werkzeuge her. Aber sie geben die Fertigkeit nicht an die gesamte Population weiter und irgendwann vergessen sie es wieder.« Die Frühmenschen dagegen kooperierten, tauschten Wissen aus und entwickelten es weiter.
»Wenn man sich manche Fundstellen lange genug anguckt, dann merkt man: Das war wie ein Unterricht, bei dem der Nachwuchs lernte, wie man Steine behaut.« Es war der Beginn von Kultur. Das, was den Menschen vom Affen unterscheidet.
Fossilien nur in der Sammlung untersuchen — das wäre nichts für mich.
FRIEDEMANN SCHRENK
An der Wiege der Menschheit stand also eine soziale Gruppe. Aber war sie die erste Familie? Für Paläoanthropologen ist diese Frage ein harter Knochen. Schrenk holt sich noch einen Kaffee. Selbst kochen darf er den am Institut nicht mehr. Die Kolleginnen haben sich beschwert, in seinem Kaffee bliebe der Löffel aufrecht stehen. »Es gibt keine Funde, die die Existenz von Familien belegen würden«, sagt er dann. Aber Indizien, die gebe es doch.
Heute deutet etwa die Vielfalt von Verwandtschaftskonzepten darauf hin, die sich im Laufe der Jahrtausende bei Homo sapiens entwickelt haben. Schrenk erzählt: »In Malawi beispielsweise wird Familie viel weiter gefasst. Meine Freunde dort haben 20 Brüder. Natürlich gehören die nicht alle zur selben Kleinfamilie.« Bei den San in der Kalahari seien alle verwandt, die denselben Namen tragen. Und bei den Himba in Namibia würden biologische und soziale Väter unterschieden.
Blickt man zurück in die Frühzeit der Menschen, bieten sich Vergleiche mit Menschenaffen an. Schimpansen leben in Gruppen von 20 bis 30 Individuen, noch größer sind die Gruppen bei Zwergschimpansen. Bei den Frühmenschen war es wahrscheinlich ähnlich. Fossile Zähne zeigen, dass die Kindheit seit zwei Millionen Jahren immer länger dauert und Familienstrukturen deshalb wichtiger wurden. Großeltern halfen, die Kultur weiterzugeben. Die Gruppe sorgte vermutlich auch für alte und kranke Mitglieder. Man habe zum Beispiel einen Homo erectus gefunden, der schon zu Lebzeiten alle Zähne verloren hatte. »Jemand muss ihn versorgt haben, weil er im Sozial- und Familienverband eine tragende Rolle spielte«, sagt Schrenk.
Aus all diesen Puzzleteilchen können sich Paläoanthropologen ein Bild zusammensetzen, wie die ersten Menschen miteinander lebten. Manchmal fallen sie dabei auf die eigenen Weltbilder herein. In den von Flower-Power bewegten 1970er Jahren etwa fanden Prähistoriker die Überreste einer Neandertaler-Bestattung, die über und über mit Hyazinthenpollen bedeckt waren. Sie schlossen: Die ersten Blumenkinder! »Hinterher stellte sich raus, dass Wühlmäuse die Pflanzen in die Höhle geschleppt hatten«, sagt Schrenk und schmunzelt.
Er selbst hat mit seiner Diplomarbeit mitgeholfen, eine andere Hypothese zu widerlegen. Prähistoriker hatten in einer Höhle spitze Knochenstücke gefunden, die als Mordwaffen einer kannibalischen Großfamilie gedeutet wurden: »Killeraffenmenschen!« In solchen Fällen meldet sich bei Schrenk das Bauchgefühl. Dann geht er vor wie damals im Anatomiestudium und seziert die Beweisführung der Kollegen Schicht um Schicht, bis nichts mehr davon übrig bleibt.
»Im Kalten Krieg wollte man Aggressivität als naturgegebene Eigenschaft sehen«, sagt er. »Meinem Menschenbild entsprach das nicht.« Also kroch er in Südafrika monatelang durch Hyänenhöhlen und setzte sich mit den gefundenen Knochen vor das einzige Rasterelektronenmikroskop der Universität Witwatersrand in Johannesburg. So lange, bis er nachweisen konnte, dass nicht Menschen, sondern Hyänen und Leoparden die Knochen zerbrochen hatten. Die Urmenschen waren Gejagte, keine Jäger.
Und wie würde man heute das Zusammenleben unserer Vorfahren interpretieren? Ganz einleuchtend findet Schrenk eine aktuelle Studie. Erst kommt er nicht auf den Namen, irgendwas mit einer Serie. »Ich hatte noch nie im Leben einen Fernseher.« Dann doch: die »Game of Thrones-Hypothese«. »Wahrscheinlich haben die frühen Menschen in Klans zusammengelebt«, sagt Schrenk. Erweiterte Großfamilien mit Anhang, die durch gemeinsame Interessen oder Ideen zusammengehalten wurden. »Aber das sah sicher nicht so aus wie Familien in heutigen westlichen Gesellschaften.«
Überhaupt, die westliche Gesellschaft. Da kann Schrenk sich in Rage reden, auf seine sanfte Art. Über Wissenschaftler, die Europa in den Mittelpunkt ihres Denkens stellen. Über Projekte, die nur deutsche Forscher fördern. Über Politiker, die Grenzen am liebsten abriegeln wollen. »Das sichert unseren Wohlstand vielleicht zwei, drei Generationen lang. Aber Homo sapiens ist nur deshalb so erfolgreich, weil er kooperiert.« Rassismus ist sein zweites, großes Thema. In der Zeit der Flüchtlingskrise hat sich Schrenk immer wieder öffentlich geäußert und klar gemacht: Migration ist eine Konstante der Menschheitsgeschichte.
Einer wie Schrenk hat die Perspektive der langen Zeiträume. Außerdem hat er sich auf das Leben in Afrika eingelassen, hat Freunde gefunden und in Malawi eine zweite Heimat. Wenn er aus der Tür seines Frankfurter Büros tritt, blickt er auf ein zwei Meter langes Panoramafoto seines Forschungscamps in Karonga. Nach all den Jahren der Gastfreundschaft und der Zusammenarbeit will Schrenk den Menschen etwas zurückgeben. Deshalb fördert er die Ausbildung malawischer Paläoanthropologen und half bei der Gründung eines Museums, in dem die Geschichte Malawis erzählt wird. Das Motto: »From Dinosaurs to Democracy«.
Vielen Afrikanern sei bis heute nicht bewusst, dass ihr Kontinent die Wiege der Menschheit ist. Kein Wunder, denn die »weiße« Wissenschaft habe sich lange dagegen gesträubt, den Ursprung der Menschheit im vermeintlich primitiven Afrika zu akzeptieren, sagt Schrenk. »Man hat sogar Fossilien gefälscht, um nachzuweisen, dass der Mensch aus England stammt.« Langsam werde aus den Überresten unserer Vorfahren jedoch eine wichtige Quelle für die Identität der Afrikaner. Äthiopien etwa griffe nicht mehr auf die Königin von Saba zurück, sondern auf die »Urmutter Lucy«. Dieses Bewusstsein will Schrenk auch in Malawi stärken.
»Ich werde immer zusehen, dass ich dort etwas zu tun habe«, sagt er. »Wenn ich an einem Ort bleiben müsste, egal ob Afrika oder Frankfurt, wäre mir das zu langweilig.« Vielleicht fühlt er auch deshalb diese Verbindung zu unseren Vorfahren. Weil er wie sie zumindest zeitweise ein Nomade ist. Das nächste Projekt in Karonga hat er schon geplant: Schrenk will den Boden des tausend Meter tiefen Malawi-Sees untersuchen. Er geht den Dingen auf den Grund.