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Die Frau, die an einem sonnigen Septemberabend einen steilen Abhang hinunterhüpft, als wäre sie noch keine 53 Jahre alt, ist zwar schmutzig, aber gut gelaunt. Professorin Madelaine Böhme hat den ganzen Tag im Dreck gewühlt, jetzt macht sie Feierabend. Guter Tag war das, tolle Leute, interessante Funde!, sagt sie auf dem kurzen Weg zu dem weißen Transporter, der seiner Aufschrift nach zur »Universität Tübingen« gehört. Aber wir müssen uns jetzt beeilen. Bald setzt der Herbstregen ein, dann ist es für dieses Jahr mit den Grabungen vorbei.

Hier, in der Tongrube »Hammerschmiede«, einem unscheinbaren Stückchen Erde auf halbem Weg zwischen Alpenrand und Donau, haben die Geowissenschaftlerin Madelaine Böhme vom Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment und ihr Team vor viereinhalb Jahren einen Sensationsfund gemacht. In den meterdicken Ablagerungen eines urzeitlichen Flusses entdeckten sie die Knochen gleich mehrerer Menschenaffen. Ihr Alter: etwa 11,6 Millionen Jahre.

Im Labor stellten die Tübinger Forscher später fest, dass jene Urzeitwesen nicht nur sehr alt sind, sondern aufgrund verschiedener Knochen- und Gelenkmerkmale wohl auch in der Lage waren, sich auf zwei Beinen fortzubewegen. Als sie ihren Fund dann vor einigen Monaten publik machten, stieß die Nachricht weltweit auf Resonanz. Und was für den aufrecht gehenden Laien erst einmal nicht nach einer Revolution klingt, versetzt auch Madelaine Böhme noch heute in Verzücken. Sie sagt: Wir müssen die Herkunft des Menschen vollkommen neu diskutieren.

Bislang ging die Wissenschaft davon aus, dass unsere Vorfahren später aufgestanden sind, vor drei bis sechs Millionen Jahren und wahrscheinlich nicht in Mitteleuropa. In Äthiopien haben Forscher Skelettreste eines Australopithecus afarensis entdeckt, den sie »Lucy« tauften. Lucys Beckenknochen belegten, dass sie vor 3,2 Millionen Jahren aufrecht gehen konnte. Weitere Funde, darunter der 4,4 Millionen Jahre alte Ardipithecus in Äthiopien und der 6 Millionen Jahre alte Orrorin, bestärkten die These: Die »Wiege der Menschheit« liegt in Afrika. Mit dem deutlich älteren Fund im Allgäu wäre das nicht mehr so eindeutig.

Madelaine Böhme mit Eimer und Hacke in einer Tongrube.
Bierzelte und kleiner Bagger am Rand der Tongrube.

Da haben wir ihn einfach ›Udo‹ genannt!

MADELAINE BÖHME

Da drüben haben wir ihn gefunden, sagt Madelaine Böhme, als sie am nächsten Morgen in die Grube zurückkehrt, und zeigt mit dem Finger auf eine Stelle unterhalb des Grabungshorizonts. Am 17. Mai 2016 haben sie dort im Ton den erstaunlich gut erhaltenen Unterkiefer eines männlichen Menschenaffen entdeckt. Und weil von früh bis spät Musik von Udo Lindenberg aus dem Radio gedudelt war, der an diesem Dienstag im Mai 70 Jahre alt wurde, hatten sie auch gleich den passenden Namen für den Fund parat: Wir haben ihn ›Udo‹ genannt.

Neben Udos Knochen haben die Forschenden mittlerweile die Fossilien zweier Weibchen und zweier junger Exemplare des Vormenschen ausgegraben. Wissenschaftlich korrekt tragen sie die Bezeichnung Danuvius guggenmosi. Der etwas gewöhnungsbedürftige Name ist dem Fundort in einem ehemaligen Flussbett geschuldet und dem lokalen Hobbyforscher Sigulf Guggenmos, der bereits in den 1970er Jahren die Bedeutung der Hammerschmiede als wichtige Lagerstätte für Fossilien erkannte. Mit jedem Grabungstag erweitern sich seither die Kenntnisse über die rätselhaften Vorfahren der Menschheit und die Welt, in der sie lebten.

Auch heute arbeiten gut zwei Dutzend Menschen an des Rätsels Lösung. Mit kleinen Spateln tragen sie Zentimeter um Zentimeter der sandig-tonigen Erdschichten ab, die sich hier vor Millionen von Jahren abgelagert haben. Das Sedimentmaterial wurde von Flüssen und Bächen transportiert, die von Süden nach Norden mäanderten. Die Pflanzenreste (Hölzer, Blätter, Pollen), die man dort freilegen kann, lassen auf ein warmes, saisonal trockenes Klima schließen. Es dauert nicht lange, bis die Metallklingen der Ausgrabenden in der weichen, grau-gelben Erde auf harte, dunkle Stellen stoßen. Mal ist es die Platte eines Schildkrötenpanzers, mal der Zahn einer Antilope.

Hier, im Molassebecken des oberen Miozäns, wie die nördliche Voralpenlandschaft zu Zeiten von Udo bezeichnet wird, lebte eine erstaunlich vielfältige Tierwelt. Die mehr als 15.000 bislang geborgenen Fossilien konnte das Grabungsteam von Madelaine Böhme 134 verschiedenen Wirbeltierarten zuordnen, darunter Hyäne, Säbelzahnkatze, Igel, Bär und Hirsch. Aufgeregt trägt eine ältere Dame einen drei Zentimeter langen, grauschwarzen Stein zu Böhme. Die schaut ihn nur zwei Sekunden an und sagt: Der Finger eines Pandabären, tolles Fundstück, gratuliere!

Schlamm wird mit beiden Händen über ein Wasserbecken gehalten.
Junger Mann mit orangefarbener Warnweste durchforstet sitzend mit einer Schaufel die Erde.

Die Frau, die den fossilen Knochen ausgegraben hat, ist Rentnerin aus dem Nachbardorf. Neben den Profis arbeiten im Grabungsteam auch Ehrenamtliche. Ein weiterer Freiwilliger ist Manfred Schmid. Sein braunes Gesicht unter dem Lederhut lässt erahnen, dass ihn seine Leidenschaft für fossile Funde seit Jahrzehnten in die Tongrube treibt. Schmid war es auch, der hier zusammen mit Sigulf Guggenmos die ersten Knochen fand. Er wundert sich bis heute, warum damals nicht sofort ein wissenschaftliches Grabungsteam ins Allgäu entsandt wurde.

Doch 2011 kamen Madelaine Böhme und ihre Kollegen – und in der Region brach das Udo-Fieber aus: Vom Zahnarzt bis zum Bauarbeiter, alle wollen dabei sein, wenn das nächste Fundstück ihrer Urahnen ans Licht kommt. Und bei Bäcker Kroneberg in der Nachbargemeinde Irsee gibt es seit kurzem »Udo-Knochen« zu kaufen, als Laugengebäck.

Noch ungleich bedeutender als die Laugenknochen ist für die Menschheit aber die Frage, welche Rückschlüsse aus den Funden gezogen werden können. 21 Skelettknochen, die sie Udo zurechnen, haben Böhme und ihr Team bereits geborgen, und die zeichnen ein ziemlich genaues Bild des ersten bekannten »Fußgängers«: Er wog 31 Kilogramm, war rund einen Meter groß und besaß einen breiten Brustkorb. Seine Ellenbogen konnte er komplett durchstrecken, was ihm beim Klettern erheblich half. Gegessen hat er wohl vor allem zähe Gräser und harte Wurzeln, denn seine Backenzähne sind stark abgerieben.

Alles schön und interessant, aber die wesentliche Frage lautet: Konnte Danuvius guggenmosi vor 11,6 Millionen Jahren tatsächlich auf zwei Beinen gehen? Madelaine Böhme und ihr Forscherteam bejahen diese Frage: Die Beschaffenheit des Sprunggelenks, des Kniegelenks, seine verlängerte Lendenwirbelsäule und die Anatomie der Brustwirbel sprächen dafür. Auch dass er seinen Rumpf durch eine s-förmig gebogene Wirbelsäule aufrecht halten konnte, ist für sie ein Indiz für Udos Zweibeinigkeit. Den Gang des Menschenaffen dürfe man sich dabei aber keineswegs wie jenen heutiger Menschen vorstellen. Und rennen konnte er ganz sicher nicht.

Böhme hat sogar eine Erklärung, warum erst sechs Millionen Jahre später aufrecht gehende Vormenschen auf dem afrikanischen Kontinent nachgewiesen sind. In einer Phase der Klimaabkühlung seien potenzielle Nachfahren von Danuvius guggenmosi aus Europa tausende Kilometer südwärts gewandert, bis nach Afrika. Stimmt Böhmes These, würde das bedeuten, dass sich der aufrechte Gang bereits vor mehr als elf Millionen Jahren in Bäumen entwickelte, und nicht erst sechs Millionen Jahre später, als die Menschenaffen diese auf der Suche nach neuen Lebensräumen langsam verließen.

Der aufrechte Gang hätte seinen Anfang damit nicht in Afrika genommen, sondern in Europa. Und Danuvius guggenmosi könnte als ein möglicher Ausgangspunkt sowohl für den aufrechten, terrestrischen Gang als auch für das vierfüßige Klettern angesehen werden. Udo wäre ein bislang unbekanntes Bindeglied von Mensch und Menschenaffe – der lang gesuchte Missing Link.

Langer Knochen, kleine Knochenteile in Plastiktütchen.
Spatel, Pinsel und Schildchen im Sand

Mittagspause in der Tongrube: Madelaine Böhme brüht sich auf dem Camping-Gaskocher einen Kaffee und zündet sich eine Zigarette an. Die Sonne brennt und manche der Gräberinnen und Gräber suchen Schutz unter einem weißen Zelt. Grabungsleiter Thomas Lechner drückt den »Aus«-Knopf von »Rosi«, einem »Rotations-Sieb« Marke Eigenbau, das ähnlich einer Goldwaschanlage noch die kleinsten Knochenfunde aus der abgegrabenen Erde fischt. Ehrfurchtsvolle Stille breitet sich über der Tongrube aus. Dann zeigt eine Studentin Böhme einen unförmigen, dunkel gefärbten Stein von kaum einem Zentimeter Durchmesser: »Oh«, sagt die und zieht an ihrer Zigarette, »etwas Scheiße von einer Hyäne! Die haben Knochen gegessen, deshalb hat sich ihr Kot so gut erhalten.«

Es geht locker zu im Grabungsteam der Hammerschmiede. In der Paläontologie hat der Sensationsfund aus dem Allgäu derweil eine Kontroverse ausgelöst. Vertreter der etablierten »Out-of-Africa«-Theorie, darunter der New Yorker Paläontologe Scott Williams, kritisieren Böhmes Thesen als »haltlos«. Wichtige Beweisstücke für den aufrechten Gang auf dem Boden, etwa die mittleren Brustwirbel oder die Lendenwirbelsäule, würden fehlen.

Böhme kontert, dass sie einerseits sehr wohl einen mittleren Brustwirbel beschrieben habe und andererseits den menschlich-terrestrischen Gang von Udo nie behauptet hätte, im Gegenteil: Udo lief nicht wie ein Mensch auf dem Boden, sondern war als erster aufrecht in den Bäumen unterwegs. Den wissenschaftlichen Disput nimmt sie gelassen: Forscher sollten immer bereit sein, bestehende Theorien durch neue Erkenntnisse in Frage zu stellen. Das muss man aushalten.

Einige Wochen später haben die ersten kräftigen Herbstregen die Hammerschmiede in ein schlammiges Loch verwandelt, das man nur noch mit Gummistiefeln betreten kann. An ihrem Rand stapeln junge Frauen und Männer Kisten, in denen sie Stative und Messgeräte verpackt haben, um die Grabungsstätte winterfest zu machen. Bis sie hier im Frühjahr weiterarbeiten, wird Madelaine Böhme die Fundstücke des Sommers im Labor untersuchen. Sie hat da schon so eine Vorahnung. Ich denke, wir werden bald von neuen Überraschungen hören.

Der Sensationsfund hat eine Kontroverse ausgelöst.

ZAHNSTEINZEIT

Manche Fundstellen liegen nicht in Tongruben. Die Paläobiotechnologie begibt sich stattdessen in den Mundhöhlen der Neandertaler auf die Suche nach neuen Antibiotika, die etwa gegen resistente Bakterienstämme zum Einsatz kommen könnten. Als Goldgrube erweist sich der fossile Zahnstein unserer Vorfahren: In ihm ist alles konserviert, was sie vor 100.000 Jahren im Mund hatten, Nahrungsreste, aber auch Tausende Arten von Bakterien, die sich mit antibiotischen Stoffen gegen Feinde wehrten. Finden die Forschenden DNA-Abschnitte solcher Substanzen, können sie sie im Labor wiederherstellen und auf ihre Wirksamkeit testen. Mehr darüber, warum es ein Glücksfall ist, dass die Neandertaler keine Zahnbürsten kannten, lesen Sie hier.

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