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Vor bald einem Jahr hat die Corona-Pandemie begonnen – und das Jahr 2020 bestimmt. Sie hat in die Leben vieler Milliarden Menschen eingegriffen, Gesellschaften ungeahnte Entscheidungen abverlangt und auch die Wissenschaft vor völlig neue Herausforderungen gestellt. Was bedeutet die Ausbreitung von Sars-CoV-2 für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und für die Rolle der Wissenschaft? Wo stehen diese ein Jahr nach Ausbruch von Covid-19? Die Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff, Leiterin des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, und Leibniz-Präsident Matthias Kleiner im Gespräch. Das Interview haben wir vor der US-Präsidentschaftswahl am 3. November geführt.

LEIBNIZ Auch wenn es Pandemie-Pläne gab und die Wissenschaft seit Jahrzehnten die nächste Supergrippe erwartet: Die Corona-Pandemie hat die Menschheit erstaunlich unvorbereitet getroffen. Was sind jetzt, nach einem Jahr Corona, die größten Herausforderungen, um die Pandemie zu überstehen?

MATTHIAS KLEINER Der Beginn der Pandemie war in der Tat eine Erschütterung für alle Bereiche, auch für die Wissenschaft. Aber jetzt sehe ich uns auf einem guten Weg. Es gibt natürlich immer noch große Herausforderungen, etwa in der Gesundheitsforschung und der Impfstoffentwicklung. Ich bin überzeugt, dass wir diese in den Griff bekommen. Die größeren Probleme sehe ich inzwischen darin, wie wir als Gesellschaft mit der Pandemie umgehen. In der Gesellschaft rumort es, die Querdenker-Demos zeugen von großen Vorbehalten gegenüber Wissenschaft und Politik.

Ist der Zusammenhalt in Gefahr?

NICOLE DEITELHOFF An sich hat sich durch Corona gar nicht so viel verändert. Die Debatten über den gesellschaftlichen Zusammenhalt haben schon lange vor der Pandemie begonnen und sich vor allem im Fluchtsommer 2015 verschärft. Am Anfang hat die Pandemie sogar den Zusammenhalt gefördert: Es gab Balkonkonzerte und Hilfe beim Einkaufen. Das ist auch ganz typisch am Beginn einer Krise, da stehen die Menschen zusammen.

Aber dann wird die Krise zum Dauerbegleiter …

DEITELHOFF Genau, die Normalisierung der Krise beginnt. Dann brechen die Konflikte wieder auf, die schon die ganze Zeit da waren. Die Querdenker sind kein neues Phänomen, sie stehen jetzt nur zusammen unter dem Stichwort »Corona«. Krisen sind nun einmal Zeiten extremer Unsicherheit, da wird nach Halt gesucht. Und Verschwörungsmythen geben Halt – weil sie Schuldige benennen und eine mögliche Lösung entwerfen. Nach der Krise wird der Anteil der Anhänger dieser Mythen wahrscheinlich wieder sinken.

Heißt das, diese Gruppierungen bekommen nur mehr Aufmerksamkeit?

DEITELHOFF Ja, auch das ist ein typischer Effekt der Krise: Medien werfen ein Schlaglicht auf die Krise und ihre Probleme – und damit erscheinen diese Probleme größer. Die Demonstrationen sind als Phänomen relativ klein. Nur weil wir so genau darauf gucken, sehen sie größer aus. Im Grunde sind die Querdenker Scheinriesen.

KLEINER Ich denke auch, dass wir eher Grund zum Optimismus haben. Unsere Gesellschaft fällt ja eben nicht auseinander, die Zustimmungswerte zur Regierung und den Corona-Maßnahmen sind sehr hoch. Was mich allerdings sorgt, ist ein Anwachsen von rechtsnationalen Netzwerken – und dies auch in Polizei und Bundeswehr. Das könnte uns mittel- bis langfristig bedrohen.

DEITELHOFF Da haben Sie vollkommen Recht, das ist nur ein bisschen anders gelagert. Wir haben schon seit langem einen stabilen rechten Rand. Das zeigen viele Studien. Dynamik sehen wir in der Gewaltbereitschaft, die ansteigt, und in der Bereitschaft, die dazugehörigen Ansichten auch in der Öffentlichkeit zu teilen.

Zwei Personen vor einem Wohngebäude, sie sprechen mit einer älteren Frau, die sich auf dem Balkon befindet.

Man muss aufklären und nicht sagen, die spinnen doch.

MATTHIAS KLEINER

Wie kann Wissenschaft helfen, die Risse zu kitten?

KLEINER Als Wissenschaftler bin ich der Aufklärung verpflichtet, man muss diesen Weg konsequent gehen, selbst wenn man gelegentlich daran zweifelt. Man muss also aufklären und nicht sagen, die spinnen doch. Das gilt auch für den Präsidenten der Leibniz-Gemeinschaft, wenn ihm in Mails vorgeworfen wird, er sei an einer großen Weltverschwörung beteiligt. Man muss geduldig immer wieder auf den Stand der Erkenntnisse hinweisen, auf Zusammenhänge – und man muss manchmal auch gelassen bleiben.

DEITELHOFF Wissenschaft kann zweierlei: Sie kann Fakten prüfen und in den öffentlichen Diskurs einbringen. Ebenso wichtig ist aber, dass sich Wissenschaft auch in gesellschaftliche Debatten einschaltet. Sie sollte also nicht nur Fakten liefern, sondern auch Orientierung geben und Einordnung ermöglichen, indem sie Positionen zugänglich macht. Woher kommen diese Argumente, was haben sie für Implikationen? Damit können wir Auseinandersetzungen fördern und einfordern und so zur politischen Urteilsbildung beitragen.

Reicht das als Kitt?

DEITELHOFF Es ist das Wesentliche. Was wir als Gesellschaft brauchen, sind Ventile; Räume, in denen Differenzen ausgesprochen und verarbeitet werden können. Man muss thematisieren können, wo man steht und warum man da steht. Unsere Gesellschaften werden längst nicht mehr im Konsens regiert, sondern im Konflikt. Es muss Verfahren geben, damit das für alle erträglich ist und damit man sich dafür entscheiden kann, trotzdem in dieser Gesellschaft leben zu wollen.

Das Vertrauen in die Wissenschaft ist während der Pandemie erheblich gewachsen. Aber wie erreicht man die Zweifler? Wer an Verschwörungsmythen glaubt, ist in der Regel nicht offen für wissenschaftliche Argumente.

DEITELHOFF Ja, Argumente führen bei Menschen, die Verschwörungsmythen anhängen, eher zur Verhärtung. Aber es ist auch nicht unsere Rolle als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, diese Menschen zu überzeugen. Wir müssen dagegen Menschen, die unsicher sind, Orientierung ermöglichen. Wir müssen Ordnung schaffen im Hickhack der politischen Positionen, damit Bürgerinnen und Bürger die Chance haben, zu verstehen, worum es eigentlich geht, und einen eigenen Standpunkt finden zu können.

KLEINER Und dabei müssen wir auch offen genug sein. Die 10.000 bis 30.000 Klimawandelleugner und Impfgegner bedrohen uns nicht. Eine aufgeklärte Gesellschaft kann das verkraften. Deshalb hätte auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft viel gelassener mit der Videobotschaft des Kabarettisten Dieter Nuhr umgehen können, die sie zuerst erbeten, dann von ihrer Website genommen und zuletzt aber glücklicherweise wieder online gestellt hat. Nuhr kommuniziert anders und ist sicher kein Sprecher der DFG, aber er verbreitet viele unserer Gedanken und Werte in einer Weise, die dicht am Publikum ist.

DEITELHOFF Wir sind oft zu dünnhäutig, das sehe ich auch so.

Um die deutsche Gesellschaft machen Sie sich also keine Sorgen. Aber wie sieht es mit dem internationalen Zusammenhalt aus? Gegenseitige Schuldzuweisungen und die Konkurrenz um Impfstoffe wirken mitunter bedrohlich.

DEITELHOFF Im Prinzip gilt hier das Gleiche wie für die nationale Gesellschaft: Corona hat nichts Neues aufgebracht, nur Dinge verstärkt oder ins Blickfeld gerückt. Das internationale System hat ja schon gekrankt. Seit Jahren klagen wir über die Krise der Weltordnung – dass Normen plötzlich nicht mehr gelten, dass die UN blockiert werden. Das ist in der Pandemie nur stärker geworden.

Es ist also nicht nur Donald Trump, der etwa durch das Aushebeln der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die internationale Gemeinschaft spaltet?

DEITELHOFF Nein, der politische Wille fehlt leider vielen Staaten. Dabei haben wir einen riesigen Bedarf an global einheitlichem Handeln und bräuchten dazu starke, handlungsfähige internationale Organisationen wie die WHO und die UN. Doch überall gibt es Blockaden. Die Corona-Pandemie bewirkt schon jetzt einen Anstieg an extremer Armut und von Kindersterblichkeit, und das sind nur zwei Bereiche, in denen wir auf internationale Kooperation und Hilfe angewiesen sind. Für eine Friedens- und Konfliktforscherin sind das frustrierende Zeiten.

Zwei Jugendliche sitzen an einem Brunnenrand, die Polizei weist sie an, Abstand zu halten.

Auch die Wissenschaft ist unter Druck. In den USA nimmt Donald Trump Einfluss auf Behörden wie die CDC, die NIH und die FDA und drängt zur schnellen Produktion von Impfstoffen. Wie groß ist die Gefahr, dass die Wissenschaft dauerhaft Schaden nimmt?

KLEINER Die Vorgänge in den USA etwa bereiten mir große Sorgen. Aber die USA sind hier natürlich nicht der einzige Ort. Auch in Ungarn und Belarus zum Beispiel ist die Wissenschaft unter Druck. Die Pandemie verstärkt das, weil Einschränkungen von Wissenschaftsfreiheit, drängende Fragen zum Klimawandel oder zur Welternährung aus dem Fokus geraten. Der Global Research Council vereint mittlerweile etwa 90 Wissenschaftsorganisationen; aber auch dort merkt man, dass die Energie sich derzeit auf andere Dinge konzentriert. Insofern sehe ich die Pandemie durchaus als Bedrohung für die globale Wissenschaft.

Macht denn wenigstens die EU Hoffnung, die sich immerhin gemeinsam um Impfstoffe kümmert?

DEITELHOFF Die EU ist, bei allen Differenzen, ein positives Beispiel – gerade auch mit dem Corona-Investitionspaket, das Steuerelemente auch für die Zukunft beinhaltet. Da sieht man vieles, was wir brauchen, etwa gemeinsam zu fragen: Wie kann man Aktionen koordinieren, wie Geld gut ausgeben?

Bietet Corona also die Chance für eine bessere Zusammenarbeit auch bei anderen Themen wie dem Klimawandel?

DEITELHOFF Europäisch gibt es da momentan viel Potenzial. Für die globale Ebene bräuchten wir im Grunde einen Marshallplan. Damit die internationalen Organisationen endlich tun können, was sie tun sollen, nämlich Frieden und Sicherheit in der Welt schaffen.

KLEINER Hier kommt der internationalen Scientific Community eine besondere Rolle zu, die Verbindungen nicht abreißen zu lassen, sich nicht hineinziehen zu lassen in die Konfrontationen der Politik, sondern mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit weiterzuarbeiten. Das ist nicht immer leicht, weil wir natürlich sehen, dass es auch Instrumentalisierungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in manchen Staaten gibt, starke Beziehungen zwischen Wissenschaft und Militär zum Beispiel.

Wie sehr darf sich Wissenschaft denn in die Politik einmischen? Wie fordernd darf und sollte sie werden?

DEITELHOFF Gerade Forschende aus den Sozialwissenschaften verstehen sich als Demokratiewissenschaftlerinnen und Demokratiewissenschaftler. In diesem Sinne mischen wir uns in öffentliche Debatten ein. Aber wir stellen keine konkreten Forderungen, wir sind ja keine politischen Interessenvertreterinnen und -vertreter.

KLEINER Unser Zusammenleben als Gesellschaft hängt von unserem Wissen, unseren Kenntnissen, unseren Perspektiven ab. Mit dem Wissen, das jemand hat, wächst seine Verantwortung. Aber es gibt eine Grenze zwischen dem, der besonders gut informiert ist, und dem »Klugscheißer«, der meint, immer alles besser zu wissen oder gar besser entscheiden zu können. Als Wissenschaftler müssen wir Respekt haben vor der demokratisch legitimierten Politik und ihrer Entscheidungsverantwortung. Und zugleich sollten wir uns kräftig einmischen. Und zwar auch, wenn wir von manchen Dingen erst zu 80 oder 90 Prozent überzeugt sind.

DEITELHOFF Das ist gerade jetzt eine große Herausforderung. Wir werden als öffentliche Intellektuelle gebraucht, aber die Daten zur Pandemie laufen gerade erst auf, wir benötigen eigentlich noch ein bisschen Zeit. Das erfordert von uns, dass wir die Unsicherheiten immer mitkommunizieren müssen – und dass wir uns selbst nicht so wichtig nehmen. Wir brauchen keine Philosophenkönige, sondern Leute, die sich einmischen und erklären und auch mal mit Leuten reden, die ihnen vielleicht unangenehm sind.

Wir müssen uns klar werden: Was ist unsere Rolle und was können wir nicht?

NICOLE DEITELHOFF

Menschen sitzen in Zweiergrüppchen am Wasser in einer Stadt.

Könnte es der Glaubwürdigkeit der Wissenschaft nicht am Ende schaden, wenn allzu unfertige Ergebnisse publiziert werden? Daten werden derzeit oft auf Preprint-Server geladen, manchmal müssen sie revidiert werden.

KLEINER Ich sehe das eher positiv. Eine breite Öffentlichkeit versteht zunehmend, wie Wissenschaft funktioniert. Dass sie keine Wahrheit produziert, sondern Wissen, das durch neues Wissen revidiert oder validiert werden kann. Eben deshalb muss auch klar sein: »Folge der Wissenschaft« heißt nicht, dass Wissenschaft am Ende entscheidet. Sondern dass Wissenschaft etwas darstellen kann und die Politik am Ende entscheidet.

Sollte es auch nach der Pandemie bei dieser Publikationspraxis bleiben?

KLEINER Die Publikationsform, die wir gerade überwiegend nutzen, ist 400 Jahre alt, da kann schon mal eine Reform her. Ich begrüße die frühzeitige Reflexion und Diskussion von Ergebnissen durch die Preprint-Praxis. Aber am Ende sollte aus meiner Sicht doch eine finale Publikation stehen, die jenseits der kritischen Reflexion den jeweiligen Stand des Wissens angibt.

Wissenschaftler werden jetzt auch viel mehr gehört als vor der Pandemie, in Talkshows zum Beispiel.

KLEINER Darüber freue ich mich. Vor einem Jahr habe ich noch gesagt: Wenn in diesen Talkshows zunehmend der gesellschaftliche Diskurs stattfindet und dort politische Entscheidungen vorbereitet werden, warum sind dann nicht mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dort vertreten? Jetzt ist es soweit, das finde ich eine gute Entwicklung.

DEITELHOFF Ich sehe das nicht nur positiv. Man darf nicht übersehen, dass diese unglaubliche Nachfrage nach wissenschaftlicher Einordnung auch eine große Verlockung darstellt. Das kann dazu führen, dass man seine Rolle verlässt und sich hinreißen lässt, Soundbites zu produzieren und die Differenziertheit vermissen zu lassen. Wir müssen uns klar werden: Was ist unsere Rolle und was können wir nicht?

Wie sehen Sie die Rolle der Leibnizianerinnen und Leibnizianer in der Pandemie?

KLEINER Diese Rolle unterscheidet sich nicht so sehr davon, wie die Leibnizianerinnen und Leibnizianer insgesamt arbeiten sollten. Unser Leitmotiv ist die Verbindung von wissenschaftlicher Exzellenz mit gesellschaftlicher Relevanz. Es geht darum, die relevanten Themen für Gesellschaft und Wirtschaft herauszuarbeiten und Erkenntnisse und Anwendungen dazu bereitzustellen. Es geht etwa in den Sozialwissenschaften ganz explizit darum, die Grenze der kritischen Analyse zu überwinden und Lösungsmöglichkeiten für Probleme darzustellen und zu entwickeln.

Wie blicken Sie persönlich auf dieses Jahr und die Herausforderungen? Wie geht es für Sie weiter?

DEITELHOFF Ich bin langsam ganz schön müde. Ich habe das Frühjahr sehr interessant gefunden, das ist wahrscheinlich eine Déformation professionnelle. Ich habe jede Menge Fakten gesammelt und ausgewertet. Aber wie viele berufstätige Mütter habe ich seit März keine Kinderbetreuung mehr, unser Au-pair bekommt kein Visum. Außerdem fehlt mir der persönliche Kontakt zu meinen Doktorandinnen und Doktoranden. Ich sehe sie zu wenig, manche kenne ich noch gar nicht richtig. Ich würde gerne wieder mehr für sie da sein.

KLEINER Auch mir fehlt der persönliche Kontakt vor allem zu den Leibnizianerinnen und Leibnizianern. Aber ich bin doch erleichtert, dass wir als Leibniz-Gemeinschaft die Kommunikation in der Pandemie aufrechterhalten konnten, wenn auch mit anderen Mitteln. Unsere Gemeinschaft mit ihren nunmehr 21.000 Mitgliedern hat wirklich eine hohe Kommunikationsnähe, unsere Festveranstaltung zeigt das immer wieder. Dieses Jahr haben wir immerhin zu einem Livestream eingeladen. Aber ich hoffe, dass wir im kommenden Jahr dann umso mehr in Präsenz feiern können.

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