Wenn sie einmal auf ihr Leben zurückblicken: Was davon würden sie nachfolgenden Generationen mitgeben – und was nicht? Wie Menschen über diese Frage denken, ist das grundlegende Interesse der Vermächtnisstudie, die als repräsentative Befragung seit 2015 mehrfach erhoben wurde. Indem die Befragten darauf Antworten geben, machen sie dabei immer Aussagen über das Verhältnis, in dem sie zu anderen stehen. Sehen sie ihr Verhalten und ihre Einstellungen im Gleichklang mit der Mehrheit oder nicht?
Als die Corona-Krise begann, war unser Buch zur Vertrauensfrage
längst fertig geschrieben und gerade in den Handel gekommen. Zu spät also, um darin etwas zu den aktuellen Ereignissen zu sagen. In den Interviews, die Jutta Allmendinger und ich zum Erscheinen des Buchs gaben, dominierte aber ebendiese Frage: Welche Rolle spielt Vertrauen in der Pandemie?
Konnte man ohne entsprechende Datengrundlage überhaupt etwas dazu sagen? Mehr, als wir zunächst glaubten. Das Studiendesign, auf das sich unsere Analyse stützt, basiert auf einem Vergleich von Wahrnehmungen des eigenen Denkens und Handelns im Vergleich zu dem, was man an anderen beobachtet. Den Eindruck des Einzelnen, dass die anderen
sich nicht gegen einen selbst stellen, sehen wir dabei als Grundlage eines gesellschaftlichen Vertrauens in das große Wir
, das über den sozialen Nahbereich, das kleine Wir
, hinausgeht.
Auf Basis der Daten der Vermächtnisstudie aus dem Sommer 2018 fanden wir unterschiedliche Bilder in unterschiedlichen Bereichen. Keines war jedoch von einem generellen Vertrauensverlust geprägt – immer zeigten sich Konstellationen von Vertrauen und Misstrauen. Und sie alle geben Anlass zur Annahme, dass sie auch in der Krise gelten.
Das meiste Vertrauen beobachteten wir bei der Frage nach dem Wert der Arbeit. Nicht nur betonten die Befragten wie in kaum einem anderen Bereich, wie wichtig es ihnen sei, eine Arbeit zu haben. Sie zeigten sich auch überzeugt davon, dass es den anderen ebenso wichtig sei wie ihnen selbst. Ganz anders aber sah es aus, wenn wir nach dem Wert guter Arbeit fragten. Zwar sagten die Befragten mehrheitlich, dass sie eine Arbeit hätten, die sie auch ohne das Geld machen würden. Doch gefragt nach den anderen, zeigten sie großes Misstrauen. Für sich selbst also erleben die meisten Menschen Arbeit als sinnstiftend; sie glauben aber nicht, dass es bei den anderen auch so ist.
Diese Erkenntnis ist auch für den Strukturwandel im Arbeitsmarkt wichtig, der die Qualität von Arbeitsbedingungen ganz unterschiedlich verteilt. Er läuft im Zuge von Digitalisierung und Automatisierung schon lange, verschärft sich aber durch die Corona-Krise weiter. Viele Menschen verlieren ihre Jobs oder fürchten darum. Was verlorengehen kann, ist nicht allein das Einkommen. Denn die Alternative zur Arbeitslosigkeit besteht oft in Jobs mit schlechteren Arbeitsbedingungen, zu deren Annahme der Sozialstaat drängt. Gebraucht wird also heute mehr denn je eine Politik des Vertrauens
– also Maßnahmen, die der erwerbsfähigen Bevölkerung die Vorschüsse an Leistungen geben, die sie benötigt, um in einer sich wandelnden Arbeitswelt zurechtzukommen.
Dazu gehört zunächst die politische Umsetzung eines Rechts auf Bildung, insbesondere für jene, die durch Bildungsungleichheit benachteiligt sind. Das gilt auch für Arbeitslose. Viel zu oft wird von staatlicher Seite angenommen, dass Arbeitslosigkeit zum Missbrauch sozialstaatlicher Leistungen führt. Dabei sollte sie vielmehr als eine Phase begriffen werden, in der man eine Zweit- oder Drittausbildung anfangen kann. Die berufliche Neuorientierung kann sogar schon beginnen, wenn man noch im alten Job ist. Eine derart präventiv angelegte Arbeitsmarktpolitik gibt Beschäftigten Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, weil sie wissen, dass sie die Unterstützung bekommen, die sie brauchen, ohne dabei gegängelt zu werden.
Wir brauchen heute mehr denn je eine Politik des Vertrauens.
JAN WETZEL
Ein anderes Ergebnis, das hilft, die Folgen der Corona-Krise zu verstehen, ist die Wahrnehmung der solidarischen Finanzierung des Gesundheitssystems. Zwar sagte die Mehrheit der Befragten, dass jemand mit mehr Geld keine bessere Behandlung erhalten solle, und ging auch davon aus, damit ähnlich zu denken wie die Bevölkerungsmehrheit. Misstrauen zeigte sich aber bei der Frage nach dem tatsächlichen Gesundheitsverhalten: Zwar sagt die Mehrheit über sich, dass sie sich um ihre Gesundheit kümmere. Dass die anderen das ebenso tun, davon sind jedoch viel weniger Menschen überzeugt. Den Kontext solcher Aussagen bilden Modelle bedingter Solidarität, die insbesondere durch die Digitalisierung attraktiver werden. Die Gesundheitsleistungen werden in diesen Modellen davon abhängig gemacht, dass man auch nachweisen kann, sich um seine Gesundheit gekümmert zu haben, sei es durch Vorsorgeuntersuchungen, Fitnesstracker oder eine nachweisbar gesunde Ernährung.
Die Wahrnehmung des Verhaltens anderer ist entscheidend für die Bewertung gesellschaftlicher Konfliktlagen – das zeigt auch die Corona-Krise deutlich. Verantwortungsvolles Gesundheitsverhalten wurde zur Vertrauensfrage: Wer konnte, sollte zuhause bleiben und damit nicht nur sich, sondern auch die anderen schützen. Die Wahrnehmung, dass andere im Gegensatz zu einem selbst die körperliche Distanz nicht einhielten, führte zum Eindruck eines Kontrollverlustes. Dieser wurde schnell zur Begründung staatlicher Maßnahmen herangezogen, das öffentliche Leben per gesetzgeberischer und polizeilicher Gewalt einzuschränken. Die weitgehende Einhaltung dieser Maßnahmen zeigte das ungeahnte Vertrauen, das staatlichen Institutionen in dieser Notlage geschenkt wurde, dass sie diese Macht nicht missbrauchen würden.
Dass das Leben zum gegenwärtigen Zeitpunkt trotz allem relativ normal weitergehen kann, zeugt von der großen Bereitschaft vieler Menschen, Vertrauen in die Zukunft zu investieren. Die langfristige Bewältigung der Krise wird sehr davon abhängen, inwiefern die großen Vorschussleistungen, die manche gesellschaftlichen Gruppen – etwa das Pflegepersonal oder alleinerziehende Mütter – derzeit mehr erbringen als andere, auch entsprechend honoriert werden.