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Das vergangene Pandemie-Jahr hat den Bildungssektor vor große Herausforderungen gestellt – und längst nicht alle konnten gemeistert werden. Besonders prominent wird die Situation in den Schulen und Kitas diskutiert. Dass auch Bildungsangebote, die sich an Erwachsene richten, betroffen sind, ist dagegen kaum ein Thema. Dabei ist die Erwachsenenbildung, gemessen an der Zahl der Einrichtungen, der Beschäftigten und der Teilnehmenden, der größte Bildungsbereich in Deutschland. Wie sie die Krise bislang bewältigt hat, hat uns Josef Schrader erzählt. Er ist Wissenschaftlicher Direktor des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung – Leibniz-Zentrum für Lebenslanges Lernen in Bonn.

LEIBNIZ In den vergangenen Monaten hat man in Deutschland viel über Bildung debattiert. Doch nur selten ging es um die Erwachsenenbildung. Wie hat die Pandemie Fort- und Weiterbildungsangebote getroffen?

JOSEF SCHRADER In vielerlei Hinsicht auf jeden Fall härter und anders als den Schulbereich. Die öffentliche Debatte um die Schulen hat sich zunächst mal klar auf die Nutzung digitaler Medien fokussiert. Sie ist natürlich auch in der Weiterbildung ein wichtiges Thema, doch die Erwachsenenbildung ist ganz anders strukturiert als die Schulen und deshalb auch viel fundamentaler betroffen von der Corona-Pandemie. Etwas zugespitzt formuliert: Mit oder ohne Präsenzunterricht, mit oder ohne digitale Medien – die Schulen werden überleben und die Lehrenden werden ihre Beschäftigung nicht verlieren. Das gilt für die Erwachsenenbildung so nicht.

Warum nicht?

Für die Erwachsenenbildung ist die Corona-Pandemie eine existenzielle Bedrohung, weil viele Weiter- und Fortbildungskurse während der Lockdowns ausgefallen sind. Die Einnahmen der Institute sowie ihrer Lehrkräfte, Dozenten, Trainer und Teamer, die meist nebenberuflich in der Weiterbildung arbeiten, sind einfach weggebrochen. Es stand also schnell die Frage im Vordergrund: Wird die Branche die Pandemie finanziell überstehen? Das ist die große Differenz zur Schule.

Wie viele Einrichtungen sind durch die Pandemie in finanzielle Schieflage geraten?

Während des ersten Lockdowns, also im Frühjahr 2020, mussten etwa 80 Prozent der Veranstaltungen ersatzlos gestrichen werden. Rund 50 Prozent der Einrichtungen schätzten ihre finanzielle Situation danach als schwierig ein. Im Jahr zuvor waren es nur 12 Prozent. Und ich vermute, dass die finanziellen Nöte nach dem Ende des zweiten Lockdowns noch viel größer sein werden. Besonders kommerzielle Einrichtungen, aber auch die Volkshochschulen leiden unter der Pandemie sehr stark, es hat wirklich dramatische Einschnitte gegeben.

Porträt von Josef Schrader
Foto ROTHBRUST/DIE

Die technische Ausstattung ist schlechter als in den Schulen.

JOSEF SCHRADER

Welche Strategien haben die Weiterbildungseinrichtungen entwickelt, um die Herausforderungen zu meistern?

Als erste Nothilfe wurden Digitalisierungsstrategien entwickelt. Sie zielen darauf ab, den Lehrbetrieb irgendwie aufrecht zu erhalten. Damit konnten die normalerweise angebotenen Kurse zwar nicht vollständig kompensiert werden, aber digitale Medien haben plötzlich sehr viel Aufmerksamkeit bekommen.

Aus den Schulen haben wir von massiven Problemen gehört, was die Digitalisierung von Lernangeboten angeht: Es fehlt vielerorts eine funktionierende digitale Infrastruktur, und nicht alle Schülerinnen und Schüler haben Zugang zu Computern, Laptops oder Tablets. Ist das in der Erwachsenenbildung ähnlich?

Ja, hier ist das Problem sogar noch schärfer. Viele Weiterbildungseinrichtungen sind klein und verfügen nicht über die finanziellen Möglichkeiten, aus eigener Kraft eine digitale Infrastruktur mit Lernmanagementsystemen und Online-Plattformen aufzubauen. Ihre technische Ausstattung ist oft noch schlechter als in den Schulen. Einrichtungen, die schon vorher digitale Kurse angeboten haben, konnten natürlich besser und flexibler reagieren.

Wer sind diese Positivbeispiele?

Die Volkshochschulen konnten schnell Veränderungen umsetzen, weil der Volkshochschul-Verband, die Dachorganisation der Volkshochschulen, bereits eine Cloud aufgebaut hatte, die nun unter Pandemiebedingungen für die Lehre genutzt werden konnte. Einrichtungen, die nicht über solche verbandlich getragenen Infrastrukturen verfügen, waren hingegen heillos überfordert, den Kursbetrieb digital aufrecht zu erhalten.

Wie hat sich während der Pandemie die Nachfrage nach Weiter- und Fortbildungen verändert?

Wir haben dazu aktuell noch keine Daten. Man kann aber sicherlich davon ausgehen, dass, wenn das Angebot in Teilbereichen der Erwachsenenbildung um 70 Prozent wegbricht, auch die Nachfrage dramatisch zurückgeht. Wahrscheinlich bricht sie spiegelbildlich zum Rückgang des Angebots ein. Natürlich mit unterschiedlicher Ausprägung: Digital affine Menschen und jene, die es sich finanziell leisten können, können sich schnell neue Angebote suchen. Doch es gibt viele Geringqualifizierte, die auf Weiterbildungsangebote ihrer Betriebe angewiesen sind, und die fallen jetzt in manchen Branchen oft ersatzlos weg. Da wird die Schere sicher noch weiter auseinander gehen.

Übereinandergestapelte weiße iPads, die alle mit einem Ladekabel verbunden sind

Warum wird in der Öffentlichkeit, vor allem in den Medien, so wenig über die Herausforderungen in der Erwachsenenbildung gesprochen?

Erstens ist die Verantwortung verteilt auf Bund, Länder und verschiedene Ministerien. Es gibt also keinen eindeutigen Ansprechpartner in der Politik. Zweitens findet ein Großteil der Weiterbildung im privaten Bereich statt. Deswegen gibt es für die Weiterbildung generell wenig öffentliches Interesse. Drittens hat es mit der individuellen Wahrnehmung zu tun: Für die meisten Menschen hat die Teilnahme an Weiterbildungen nämlich nicht den Stellenwert wie der Schulbesuch oder ein Hochschulabschluss. Und viertens sind die in der Erwachsenbildung tätigen Menschen nicht gewerkschaftlich organisiert, anders als etwa die Lehrerinnen und Lehrer in den Schulen. Es gibt also keine Interessensorganisation, die sich öffentlich stark machen kann für angemessene Arbeitsbedingungen. Es fehlt eine ausgeprägte Organisationspower.

Sie haben mehrfach die Digitalisierung der Weiterbildungsangebote angesprochen. Können wir digital so gut lernen wie analog?

Zurzeit geht es in erster Linie darum, überhaupt Lernmöglichkeiten anzubieten. Und digitale Medien machen Lernen zeit- und ortsunabhängig möglich. Genau deshalb sind sie ja so ein wichtiger Helfer in der Pandemiezeit. Ob das Lernen dabei qualitativ besser wird, ist eine davon losgelöste Frage, die in der aktuellen Debatte kaum eine Rolle spielt. Es wird in Zukunft aber wichtig sein, noch weiter zu erforschen, wie wir mit digitalen Medien lernen, und diese Erkenntnisse dann in die Praxis zu übertragen.

Welche Vorteile hat das Lernen mit digitalen Medien generell?

Man kann individueller lernen und schneller direktes Feedback zu den Lernfortschritten erhalten. Außerdem kann man sich fortlaufend mit anderen Teilnehmenden austauschen, das ist im frontalen Präsenzunterricht so nicht möglich. Es lassen sich auch spielerische Elemente in den Lernprozess integrieren, die man in analogen Formaten nicht realisieren kann. Ob eine effektive Nutzung digitaler Medien in Zukunft gelingt oder nicht, hängt aber maßgeblich davon ab, ob die Lehrkräfte die Potenziale auch erkennen und nutzen werden.

Es fehlt eine ausgeprägte Organisationspower.

Alte Schreibmaschine, auf dem eingespannten Blatt ist »E-Learning« zu lesen.

Die Anbieter müssen sich weiterentwickeln.

Wie wird die Erwachsenenbildung nach Corona aussehen? Kommen die analogen Formate zurück?

Meine Prognose für die Zukunft ist, dass es keine vollständige Rückkehr zu den Lernformaten aus der Zeit vor Corona geben wird. Ich denke zwar, dass die meisten Formate in Zukunft wieder analog stattfinden werden. Doch die digitalen Elemente werden sicherlich zunehmen und den Weiterbildungsalltag nachhaltig verändern. Es wird ein neuer Konkurrenzkampf entstehen, denn die Erwartungen haben sich verändert: Man setzt voraus, dass die Anbieter digitale Plattformen zum Austausch anbieten und dass sie Materialien elektronisch bereitstellen. Die Anbieter werden sich weiterentwickeln müssen. Und schon jetzt während der Pandemie konnte man eine steile Lernkurve beobachten. Die Weiterbildungseinrichtungen erschließen sich neue digitale Möglichkeiten.

Schließen sich die Weiterbildungsanbieter zusammen, um miteinander und voneinander zu lernen? Oder kämpft jeder für sich alleine?

Sie sind viel zu wenig vernetzt. Kooperationen zwischen den Weiterbildungseinrichtungen spielen schon eine gewisse Rolle, sie werden aber in Zukunft noch mehr an Bedeutung gewinnen müssen. Ich denke da auch an Kooperationen mit Unternehmen und Institutionen der Zivilgesellschaft wie zum Beispiel Vereinigungen von Migrantinnen und Migranten oder kulturellen Einrichtungen. Das Ziel muss sein, in allen Regionen Deutschlands ein gleichwertiges Weiterbildungsangebot zu präsentieren. Derzeit haben wir noch große regionale Unterschiede, die innerhalb der Bundesländer oft größer sind als zwischen den Bundesländern, was die Angebote und die Beteiligung angeht; sie werden sich jetzt durch die Pandemie noch verschärfen.

Auch direkt von der zunehmenden Digitalisierung betroffen ist der ökologische Fußabdruck von Weiter- und Fortbildungen. Schließlich machen digitale Angebote An- und Abreise sowie Übernachtungen weitestgehend überflüssig. Ist Nachhaltigkeit ein Thema in der Erwachsenenbildung?

Jetzt gerade sehe ich das nicht, da sind andere Probleme drängender. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass viele der innerbetrieblichen Weiterbildungen, die bislang meist in Hotels oder Tagungshäusern stattgefunden haben, in Zukunft in anderen, nachhaltigeren Formaten stattfinden werden.

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