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Mathematiker können fast alles berechnen. Sogar die Koordinaten des Paradieses. Die Herleitung ist eine Gleichung mit vielen Wurzeln und ein paar Unbekannten und ergibt: 48 Grad, 19 Minuten und 12 Sekunden Nord und 8 Grad, 15 Minuten und 11 Sekunden Ost. Auf der Landkarte ist das ein Punkt in einem abgelegenen Schwarzwald-Tal, in dem sich ein paar kleine Weiler verlieren, Kühe auf Weiden grasen und wo sich an Werktagen das Zwitschern der Vögel mit dem Kreischen der Sägeblätter aus dem nahen Sägewerk mischt.

Etwas oberhalb, am Hang, liegt ein modernes Gebäude, rechteckig, quaderförmig, das für Mathematiker aus aller Welt die Erfüllung und oftmals auch die Erlösung bedeutet: das Mathematische Forschungsinstitut Oberwolfach, kurz MFO. Wer in das Leibniz-Institut eingeladen wird, kann sicher sein, weltweit zu den Besten seines Faches zu zählen. Die Einladung gilt als Ritterschlag und in manchen Professorenzimmern dieser Welt hängt sie so prominent wie ein Forschungspreis an der Wand.

Die Anfänge des Instituts fallen in eine Zeit der Auflösung. Im November 1944 ist die Wehrmacht an fast allen Fronten auf dem Rückzug, Deutschland liegt in Trümmern, die Nazi-Größen verstecken sich in Bunkern. Dennoch glauben manche in ihrem Wahn noch an den »Endsieg«. Obwohl die US-Truppen schon Aachen erobert haben und die Rote Armee in Budapest steht, soll der Krieg mithilfe der Mathematik doch noch gewonnen werden. Im selben Monat wird auf dem Landgut »Lorenzenhof« im Schwarzwald das »Reichsinstitut für Mathematik« gegründet. Die Rechnung geht, man weiß es, nicht auf: Sechs Monate später ist der Krieg verloren.

Wie schnell aus minus plus werden kann, dafür ist Oberwolfach ein gutes Beispiel. Französische und englische Besatzungsoffiziere erkennen den Wert einer derartigen Forschungseinrichtung früh, und schon 1949 treffen sich im Lorenzenhof erstmals französische und deutsche Mathematiker zum Gedankenaustausch.

Der Neuanfang in Oberwolfach beginnt mit Holzsammeln (für die Heizung), gegessen und getrunken wird, was man selbst mitgebracht hat. Notfalls auch Châteauneuf-du-Pape, ein Spitzenwein, wie sich ein früher Teilnehmer, der Fields-Medaillen-Gewinner Jean-Pierre Serre, erinnert. Mathematiker, die sich kurz zuvor möglicherweise noch bewaffnet gegenüber gestanden hatten, suchten nun gemeinsam nach Lösungen für komplizierte Fragestellungen.

Sie lieben Probleme. Und ist eines gelöst, sind drei neue entdeckt.

In einem erleuchteten, modernen Gebäude mit großer Glasfront stehen zwei Personen vor einer Tafel.
Geometrische Papierfigur auf einem kleinen Bücherregal.

Seither hat sich das MFO zu einer der exklusivsten Adressen für höhere Mathematik entwickelt. Was rund 3.000 Mathematiker hier heute jedes Jahr in wöchentlich wechselnden Workshops und in kleinen Forschergruppen miteinander besprechen, versteht meist nur, wer mindestens ein Vordiplom in Mathematik absolviert hat.

An einem Mittwochvormittag im Mai treffen sich rund 50 Wissenschaftler im holzvertäfelten Konferenzsaal zu einem Talk. Es ist der dritte Tag des Workshops mit dem Namen Nonlinear Hyperbolic Problems: modeling, analysis and numerics. Professoren aus den USA, China, Frankreich, Italien, aus insgesamt neun Nationen, starren an die Wand, vor der Alina Chertok von der North Carolina State University über Asymptotic Preserving Numerical Methods for Hyperbolic Systems of Conservation and Balance Laws spricht und an der im Sekundentakt mathematische Formeln aufscheinen.

Sie zerlegt Gleichungen so routiniert wie ein Metzger das tote Schwein. Nach einer halben Stunde hat sie gefühlt 250 Formeln abgehandelt und daraus wieder eine neue Formel hergeleitet, »... when Epsilon goes to zero«. Mit diesem Schlusssatz beendet sie ihren Vortrag, und Applaus braust auf.

Vor ihr sitzen Kollegen, die zu den absoluten Koryphäen des Faches zählen, László Székelyhidi zum Beispiel, von der Universität Leipzig, Träger des Leibniz-Preises von 2018, oder Yachun Li von der Shanghai Jiao Tong University, auch er mehrfach ausgezeichnet. Es sind die Besten der besten Universitäten, und nun sitzen sie ausgerechnet in einem Schwarzwälder Seitental zusammen und brüten über mathematischen Problemen von Strömungsprozessen.

Sie lieben Probleme. Probleme sind die Antriebskraft zum Nachdenken und ist eines gelöst, sind drei neue entdeckt. Alle mathematischen Rätsel können zwar grundsätzlich gelöst werden, aber nicht unbedingt innerhalb der Lebensspanne eines einzelnen Mathematikers. Manche dieser Rätsel beschäftigen ihre Disziplin schon seit Generationen, wie etwa die Euler-Gleichungen. Dabei handelt es sich um ein mathematisches Modell, das die Strömung reibungsfreier elastischer Fluide beschreibt. Diese Gleichungen sind einfach formuliert, dahinter aber verbirgt sich eine geometrische und analytische Komplexität, die Denker seit mehr als 200 Jahren umtreibt.

Das Institutsgebäude im Grünen

Nur wenige Meter neben dem Konferenzsaal hat Professor Gerhard Huisken sein Büro. Huisken, Experte für Gravitationsprobleme, leitet seit sechs Jahren das MFO und kennt die Erfolgsformel seiner Einrichtung: »Die Abgeschiedenheit fördert die Konzentration.« Niemand kann sich hier einfach zu einem Workshop anmelden. »Man wird eingeladen«, erklärt Huisken, »und nur sehr selten schlägt jemand eine solche Einladung aus. Dann gibt es aber meist einen wichtigen Grund.«

Eine Kommission aus 25 Wissenschaftlern prüft jeden Themenvorschlag für die knapp 50 Workshops pro Jahr, nicht alle werden angenommen. Mathematik ist nach Huisken eine Wissenschaft, die ganz entscheidend vom Teilen lebt. »Häufig stößt man erst durch das gemeinsame Reden über Probleme auf Wege zu Lösungen. Unser Haus bietet diesen Raum. Am Abend sitzen die Jungen mit den Älteren zusammen und diskutieren.«

In dem Siebzigerjahreflachbau gibt es überall Ecken und Winkel mit Sitzgruppen. Nachdem der alte Lorenzenhof in den 1960er Jahren abgerissen wurde, entstand der Schwarzwälder Mathecampus mit Vortragsräumen und einer Fachbibliothek, die zu den drei besten der Welt zählt: 60.000 Bände umfasst der Lesesaal, und jährlich kommen rund 1.500 Neuerscheinungen dazu.

Daneben steht das Gästehaus mit eigenem Speisesaal, in dem sich jeden Abend neue Gruppen zusammenfinden. Die einen spielen Karten, die anderen reden über hyperbolische Probleme, die dritten kommen vom Joggen zurück. In den Kühlschränken lagern beste Weine aus Baden, 16 verschiedene Sorten Bier und noch mehr Schwarztee-Sorten. Bezahlt wird in eine offene Kasse, gemäß der Huisken’schen Vermutung, dass Mathematiker zuverlässige Zeitgenossen sind.

Unter den Gästen von Oberwolfach sind deutlich mehr Frauen, als es der Anteil der Mathematikprofessorinnen an vielen Universitäten vermuten ließe. »Wir liegen so bei etwa 20 Prozent weiblicher Teilnehmer«, sagt Huisken, »der Anteil ist deutlich gestiegen, aber da geht noch mehr.« Nur einmal, im Januar 2017, lag er bei 94,5 Prozent. Die Veranstaltung hieß Women in Mathematics: Historical and Modern Perspectives. Ein Teilnehmer war männlich.

Wir sind die billigste Wissenschaft — wir brauchen nur Stift, Papier und einen Radiergummi!

Eun Heui Kim von der California State Universitiy, Long Beach ist eine der Mathematikprofessorinnen im Workshop Nonlinear Hyperbolic Problems. Für sie sei es »schon eine Ehre, eingeladen worden zu sein.« Sie ist zum ersten Mal in Oberwolfach, und schon am dritten Tag sagt sie, die lange Reise habe sich allein deshalb gelohnt, »weil ich hier Kollegen aus meinem Fachgebiet treffe und mitbekomme, an welchen Problemen sie forschen.«

Neben den Workshops bietet das Forschungsinstitut weitere Möglichkeiten, Wissenschaftler miteinander zu vernetzen. Im Programm »Research in Pairs« forschen zwei bis vier Mathematiker wochenlang an einem gemeinsamen Projekt. Nachwuchsforscher, die »Leibniz Fellows«, können sich sogar für noch längere Aufenthalte bewerben, um konzentriert an einem Projekt zu arbeiten und für die besten Matheschüler Deutschlands ist das Training im Mekka der Mathematik der Höhepunkt ihrer Vorbereitung auf die Internationale Mathematik-Olympiade.

Während die Professoren zehn Meter weiter über nichtlineare hyperbolische Formeln diskutieren, bereiten sich die 16- bis 17-jährigen Schüler auf Olympia vor. Hier besteht (endlich) auch für weniger Begabte mit fundiertem Halbwissen eine minimale Chance, zu verstehen, was an der Tafel passiert. Tafel und Kreide sind auch im Digitalzeitalter das vorherrschende Werkzeug für Mathematiker. Wahrscheinlich, weil die Entwicklung einer Gleichung aus Hinschreiben, Wegwischen und Hinschreiben besteht.

»Wir sind die billigste Wissenschaft«, hatte ein Matheprof beim Abendessen gescherzt, »wir brauchen nur Stift, Papier und einen Radiergummi.« Sein Nachbar ergänzte: »Nur die Philosophen sind sparsamer, sie verzichten auf den Radiergummi.« Mathematiker-Witz.

Vor den 16 Matheschülern im Seminarraum steht ein Doktorand aus Bonn an der Tafel und formuliert die Aufgabe: »Zehn Gangster stehen auf einer Ebene, und Punkt zwölf Uhr schießt jeder auf den ihm am nächsten Stehenden. Wie viele sterben mindestens?« Endlich eine Fragestellung aus dem prallen Leben. Die Schüler zeichnen konzentriert geometrische Formen aufs Papier und berechnen Entfernungen.

Nach einer halben Stunde ist der große Showdown berechnet. Drei müssen sterben. Mindestens. Die Berechnung wird wohl stimmen. Doch sind diese 16- und 17-Jährigen wahrscheinlich viel zu jung, um John Wayne noch zu kennen. Neun Tote, John Wayne überlebt.

Ein Mann schreibt eine Formel an eine Tafel.
Kleiner roter Sessel vor großer grüner Tafel.

Mittwochnachmittag, es ist Wandertag in Oberwolfach. Der Weg führt in einer steilen Sinuskurve den Hang hinauf, und manchen Teilnehmern kommt der Anstieg vor wie die Suche nach dem Schnittpunkt zweier Parallelen. Professor Gerald Warnecke von der Universität Magdeburg läuft unbekümmert in Birkenstocksandalen und ohne Strümpfe durch den Wald und zitiert Galileo Galilei: »Mathematik ist die Sprache der Natur.« Das Aufstellen von Gleichungen habe auch einen hohen ästhetischen Aspekt. Oft stehe am Ende einer jahrelangen Forschung nur eine kurze Formel. Doch die Beweisführung dahin empfänden Mathematiker als schön, elegant und faszinierend.

Oben auf dem Hochplateau öffnet sich der Blick über saftige Wiesen, an einem alten Bauernhof steht ein Mann vor einer riesigen Mauer aus rotem Sandstein, die noch nicht fertig ist. Mit einem Meißel klopft er den nächsten Stein zurecht. Drei Jahre arbeite er schon an ihr, sagt er, als die Wandergruppe vorbeikommt, aber irgendwann werde er den letzten Stein in die Mauer setzen.

Professor Warnecke lächelt ihm zu, als kenne er das Problem unfertiger Aufgaben, dann wechselt er das Thema. Es gebe da ein Gerücht, warum es keinen Nobelpreis für Mathematik gibt: Der zu Lebzeiten von Alfred Nobel bedeutendste Mathematiker soll Nobel die Frau ausgespannt haben. »Er hätte ihm den Preis verleihen müssen und wollte das verhindern. Wahrscheinlich ist das gar nicht wahr, nicht einmal eine Vermutung, sondern eben nur eine gute Geschichte.«

Nach sechs Stunden trifft die mathematische Wandergruppe wieder im Forschungsinstitut ein. Manche versorgen ihre Blasen, andere treffen sich im Musikzimmer am Steinway-Flügel und üben noch kurz für das angekündigte Konzert nach dem Abendessen. Musik, das hatte Institutsdirektor Gerhard Huisken schon am Vormittag gesagt, sei unter Mathematikern vielleicht deshalb so beliebt, weil sie neben dem Klanggenuss auch immer die Strukturen dahinter erkennen wollen.

Draußen ist es längst dunkel, als das Konzert zu Ende geht. Doch die Lichter in der Bibliothek werden noch lange brennen. In einer Sitzgruppe haben sich vier Forscher zu einer außerplanmäßigen Sitzung zusammengefunden: open problems session — offene Probleme. Es ist ihr Lieblingsthema.

Wandernde Personen auf einem Feldweg, vor ihnen Bauernhäuser.

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