LEIBNIZ Frau Brünger-Weilandt, anders als etwa in den Wirtschaftswissenschaften würde man nicht bei allen Instituten sofort erwarten, dass sie Politiker beraten.
SABINE BRÜNGER-WEILANDT Es stimmt, als Infrastruktureinrichtung sind wir nicht das typische Forschungsinstitut. Unser Schwerpunkt liegt darauf, wissenschaftliche Dienstleistungen wie Forschungsinformation oder Forschungsdatenmanagement zu entwickeln beziehungsweise zu betreiben, und in diesem Kontext forschen wir. Wir stehen dabei eher im Kontakt mit Ministerien oder der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz von Bund und Ländern. Anfragen der Parteien erreichen uns bislang selten.
Wie beraten Sie dann?
BRÜNGER-WEILANDT Es ist nicht so, dass wir auf Anfragen aus der Politik warten. Vielmehr wollen wir aktiv Debatten anstoßen. Wir haben sehr früh darauf aufmerksam gemacht, dass es im Zuge des digitalen Wandels — eines Epochenumbruchs in Wissenschaft und Gesellschaft — dringliche Fragen gibt, mit denen sich die Politik auseinandersetzen muss. Der Rat für Informationsinfrastrukturen etwa beschäftigt sich damit, wie solche Strukturen die digitale Transformation und die wissenschaftliche Wertschöpfung nachhaltig unterstützen können. Dass es diesen Rat überhaupt gibt, dass seine Gründung im letzten Koalitionsvertrag verankert wurde, das ist das Ergebnis von zehn Jahren Überzeugungsarbeit, wenn Sie so wollen: von Politikberatung.
Herr Brunsch, wie sieht es bei Ihnen in den Agrarwissenschaften aus?
REINER BRUNSCH Wir werden ebenfalls eher von Ministerien angefragt. Aber auch nach meinem Verständnis ist es nicht mehr so, dass die Politik fragt und wir antworten. Ich verstehe uns als Teil der Gesellschaft mit einem spezifischen Auftrag in der Arbeitsteilung zwischen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft.
Politik muss die Wissenschaftsfreiheit akzeptieren, Wissenschaft den Primat der Politik.
HUBERTUS HEIL
Und was macht gute Beratung aus Sicht der Politik aus?
HUBERTUS HEIL Vieles in unserem Alltag basiert auf Wissenschaft — vom Smartphone bis zur Teflonpfanne. Durch diese Innovationsschübe wird die Welt aber auch immer komplexer. Deshalb müssen wir eine möglichst evidenzbasierte politische Steuerung anstreben und dafür gute Politikberatung organisieren. Von einer solchen Beratung müssen wir auch erwarten, dass sie die Rollen von Wissenschaft und Politik anerkennt.
Welche Rollen sind das?
HEIL Politik ist keine Wissenschaft, sie funktioniert nicht wie ein angeordneter Versuch. Bei ihr gibt es nicht die eine Wahrheit, sondern einen Streit um die beste Lösung, häufig in einen Kompromiss mündend. Politik muss Respekt vor der Wissenschaftsfreiheit haben und Wissenschaft muss den Primat der Politik akzeptieren. Da darf es keine wechselseitigen Übergriffe geben.
MICHAEL KRETSCHMER Ja, am Ende entscheidet die Politik. Mir sind dennoch streitbare Wissenschaftler lieber, die »Ja, aber« sagen, anstatt mir grundsätzlich Recht zu geben. Gute Politikberatung muss deshalb das Ergebnis freier Forschung sein, die sich nicht vereinnahmen lässt. Das schließt nicht aus, dass sich Wissenschaftler für die Demokratie engagieren, auch in Parteien. Für das gegenseitige Verständnis finde ich das sogar wünschenswert. Und ohne Demokratie gibt es auch keine Wissenschaftsfreiheit.
Aber der Vorwurf vermeintlich »gekaufter Gutachten« begegnet politikberatenden Wissenschaftlern häufig.
KRETSCHMER Manchmal gibt es in der Politik den Wunsch, die eigenen politischen Vorstellungen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu untermauern. Das wird immer so sein. In solchen Fällen ist es wichtig, dass andere Wissenschaftler widersprechen und die »Selbstreinigungskräfte der Wissenschaft« wirken.
HEIL Und es ist ja durchaus menschlich. Trotzdem sollte es nicht die Regel sein, abweichende Meinungen zu ignorieren, sonst handelt man irgendwann an der Realität vorbei.
Wir sollten offen über Unschärfen und Unsicherheiten unserer Erkenntnisse sprechen.
REINER BRUNSCH
Ist Wissenschaft nicht automatisch politisch, wenn sie sich einbringt — etwa mit einer Forderung nach Informationsinfrastrukturen?
BRÜNGER-WEILANDT Ich sehe meine Rolle nicht darin, nur Forderungen zu stellen, sondern zu vereinfachen, erklären, warum gehandelt werden sollte und Empfehlungen zu formulieren. Wie mit unseren Empfehlungen umgegangen wird, das ist dann Sache der Politik. Ein Beispiel: Bei den Informationsinfrastrukturen geht es auch um die immensen Kosten, die den Universitäten entstehen, wenn jede ihre eigenen IT-Landschaften anlegt, und um mögliche Alternativen: Sie könnten Forschungsdaten in Clouds oder in Kompetenzzentren speichern. Hier besteht Entscheidungs- und Handlungsbedarf. Dabei geht es nicht nur um die Frage: Was ist günstiger? Sondern auch: Wie sieht es mit Datensicherheit und -schutz aus? Wer haftet bei Datenverlust? Werden die Daten auch nach diversen Technologiesprüngen noch les- und analysierbar sein? Und: wem gehören sie? Dürfen öffentlich finanzierte, in Deutschland erarbeitete Forschungsergebnisse kommerziellen Unternehmen überlassen werden, die ihren Sitz in der Regel im Ausland haben? Andererseits sind diese Firmen Treiber des technologischen Fortschritts. Wie man sich auch entscheidet: Es sollte weder Politik noch Wissenschaft egal sein. Und es ist wichtig, dass man sich gegenseitig zuhört und Respekt für die Haltung der jeweils anderen Seite hat.
HEIL Da stimme ich Ihnen zu. Problematisch wird es vor allem, wenn die Wissenschaft ihre Handlungsempfehlungen allzu absolut setzt. Da greift sie unberechtigt in das Metier der Politik ein, weil demokratische Politik immer Alternativen braucht.
BRUNSCH Für mich wird heute immer noch zu oft von Transfer gesprochen und zu wenig von einer Kultur des Rückkoppelns, wenn es um große gesellschaftliche Herausforderungen geht. Wir sollten mit der Gesellschaft schon im Forschungsprozess offen über die Unschärfen und Unsicherheiten unserer Erkenntnisse sprechen und sie nicht erst informieren, wenn wir uns zu 99,9 Prozent sicher sind. Außerdem sollten sich Wissenschaftler noch stärker mit der Komplexität vieler Fragen auseinandersetzen, sie im Gesamtkontext betrachten.
WER BERÄT? WER ENTSCHEIDET?
Es ist umstritten, in welchem Verhältnis Wissenschaft und Politik zueinander stehen sollten. Wer hat das letzte Wort? Beratende oder Beratene? Im technokratischen Modell, das auf den Soziologen Helmut Schelsky zurückgeht, ist es die Wissenschaft. Sie beschneidet den Spielraum der Politik massiv: Nicht von Werten und Weltanschauungen geleitete Menschen entscheiden — sondern durch Forschung generierte Fakten. Das auf den Ökonom Max Weber zurückgehende dezisionistische Modell sieht die Politik in übergeordneter Position. Es fußt auf einer strikten Rollentrennung: Politiker entscheiden über Ziele und Mittel politischen Handelns, Wissenschaftler liefern ihnen Wissen zum Erreichen dieser Ziele. Die Politik entscheidet selbst, ob sie sich dieser Erkenntnisse bedient. Einen Mittelweg bildet das durch den Philosophen Jürgen Habermas geprägte pragmatische Modell. Wissenschaft und Politik treten in einen kritischen Austausch, der den wissenschaftlichen Kenntnisstand und die Anforderungen der politischen Praxis berücksichtigt.
Haben Sie ein Beispiel?
BRUNSCH Nehmen Sie eine Biogasanlage. Die kann ein Verfahrenstechniker so entwickeln, dass sie für sich genommen perfekt funktioniert. Wenn der Mais für den Betrieb der Anlage aber erst aus 50 Kilometern Entfernung herangeschafft werden muss, der erzeugte Strom vor Ort nicht benötigt wird und dann auch noch die Anwohner gegen das Vorhaben protestieren, sieht die Sache schon ganz anders aus.
KRETSCHMER Die Energiewende ist ein gutes Beispiel, denn sie wurde politisch entschieden, ist aber wissenschaftlich sehr umstritten. Deshalb brauchen wir die Stimmen in der Wissenschaft, die die Instrumente, das Tempo und die Machbarkeit hinterfragen, sonst wird die Debatte schnell ideologisch.
HEIL Wenn aber Wissenschaftler Politikern vorwerfen, ideologiegetriebene Lobbyisten zu sein, ist die zulässige Grenze überschritten. Um ein Ziel zu erreichen, gibt es in der Regel mehrere Wege. Das gilt für die Biogasanlage im Kleinen genauso wie für die Energiewende im Großen.