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Das Recht auf Zugang zu sauberem Trinkwasser gibt es schon lange – aber kaum jemand hat davon profitiert. Welche Maßnahmen notwendig wären, um die Situation zu verbessern, weiß THILO MARAUHN. Er ist Leiter der Forschungsgruppe »Völkerrecht« am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main und Professor für Völkerrecht an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Wir haben mit ihm über rechtliche Standards und die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft gesprochen.

LEIBNIZ  Herr Marauhn, Sie beschäftigen sich aus völkerrechtlicher Perspektive mit der Ressource Wasser. Dennoch zunächst eine nicht-juristische Frage: Wie drängend ist das Problem Wasserknappheit?

THILO MARAUHN  Sehr drängend. Die Wassersituation ist aus vielerlei Gründen sehr angespannt. Es handelt sich um eine lebenswichtige und zugleich begrenzte Ressource, die global sehr unterschiedlich verteilt ist. Durch den Klimawandel und die zunehmende Verschmutzung der Gewässer verknappen wir Menschen das Angebot weiter.

Die Realität drängt uns also zum Handeln. Was kann getan werden?

Es ist richtig und wichtig, dass wir rechtliche Ansprüche auf fundamentale Güter wie Wasser formulieren. Grund- und Menschenrechte emanzipieren die Einzelnen gegenüber dem Staat, dem man solche Fragen nicht paternalistisch überlassen sollte. Ein allgemeines Recht auf Wasser gibt den Einzelnen ein Instrument in die Hand, im Zweifelsfall ihrem Staat Beine zu machen.

Die UN setzt mit dem Menschenrecht auf Wasser quasi den Goldstandard.

THILO MARAUHN

Aber die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat doch bereits 2010 das Recht auf Zugang zu sauberem Wasser als Menschenrecht anerkannt.

Richtig. Die Resolution der Generalversammlung ist allerdings für die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen nicht rechtsverbindlich. Sie ist lediglich eine freundliche Empfehlung. Ergänzend kann man das Menschenrecht auf Wasser unter anderem auch aus Artikel 11 Absatz 1 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ableiten. Dabei handelt es sich zwar um eine völkerrechtlich verbindliche Norm – diese bedarf aber der Konkretisierung.

Also toll in der Theorie, aber sinnlos in der Praxis?

Nein, ganz so ist es auch nicht. Man muss das in einer größeren Perspektive sehen. Früher war das Völkerrecht ein Spezialbereich, mit dem sich eine kleine Elite beschäftigt hat, Diplomatie, Wissenschaft und Politik. Die rechtliche Struktur ist zwar gleichgeblieben, aber gesellschaftlich hat sich die »Ownership« des Völkerrechts inzwischen verändert. Zivilgesellschaftliche Gruppen und Individuen – also immer mehr Akteure – nutzen das Völkerrecht und berufen sich darauf. So wird es zu einem gesellschaftspolitischen Instrument.

Ein Junge pumpt Wasser in einen Kanister

Was bedeutet das konkret für die »freundliche Empfehlung«, Menschen doch bitte Zugang zu Wasser zu geben?

Durch den veränderten Umgang mit dem Völkerrecht und die Formulierung einer Rechtsposition im Rahmen der Vereinten Nationen ist der politische Druck gestiegen. Das ist ein ganz wesentlicher Schlüssel, um Dinge zu verändern. Die Resolution der Generalversammlung gibt den Menschen mehr Möglichkeiten, als wenn es eine solche politische Festlegung nicht geben würde.

Gibt es ein Beispiel, wo das Menschenrecht auf Wasser in der Realität geholfen hat?

Es gibt ausdrückliche Bezugnahmen nationaler Gerichte auf die Resolution der Generalversammlung. So hat schon 2011 ein Berufungsgericht in Botswana in einem Fall, in dem es um die Zwangsumsiedlung einer indigenen Gemeinschaft ging, diese Resolution zur Begründung eines Menschenrechts auf Wasser herangezogen und im Ergebnis die Zwangsumsiedlung als rechtswidrig verurteilt.

Die UN sollen und wollen das Verhalten der Staaten koordinieren und deren Zusammenarbeit fördern – und dennoch reicht es offenbar nicht, ein solches Recht auf dieser Ebene zu haben. Wie muss man das Verhältnis von UN und Staaten hier verstehen?

Wir sind uns einig, dass es gut ist, ein solches Recht auf UN-Ebene zu formulieren. Die UN setzt damit quasi den Goldstandard. Dieser sollte bestenfalls auch rechtlich verpflichtend sein und nicht nur eine freundliche Empfehlung. Aber selbst wenn letzteres der Fall wäre: Man muss ein Menschenrecht auch praktisch machen.

Küche

Und hier kommen die Staaten ins Spiel?

Genau. Denn die Vereinten Nationen können ja nicht Wasser zur Verfügung stellen. Für das Funktionieren eines sozialen Menschenrechts bedarf es einer intakten Leistungsverwaltung, die den Zugang zu Wasser schlussendlich ermöglicht und für eine gerechte Verteilung sorgt. Das kann und muss der Staat liefern. Sie sehen, es gibt also ein Spannungsverhältnis zwischen einem universellen Menschenrecht auf Wasser und der staatlichen Aufgabe, diese Ressource zur Verfügung zu stellen.

Und was bedeutet das für die rechtliche Situation?

Solange wir in einem von Staaten geprägten System leben, sollte ein solches Recht im Idealfall national auf verfassungsrechtlicher Ebene verankert sein. Nur so können Menschen in Indien oder Paraguay auch praktisch einen Zugang zu Wasser einfordern. Selbst in Staaten ohne ein ausdifferenziertes Verwaltungsrecht stellt solch ein verfassungsrechtlicher Anker ein entscheidendes politisches Vehikel für die Menschen dar.

Manche Staaten haben ein Recht auf Wasser tatsächlich schon in ihre Verfassung aufgenommen. Wer sind die Vorreiter?

Auf Leistungsansprüche generell bezogen sind die lateinamerikanischen Staaten sehr fortschrittlich, etwa Bolivien. Auch einige afrikanische Staaten, zum Beispiel Südafrika, haben moderne Leistungsansprüche gegen den Staat in ihre Verfassungen aufgenommen.

Eine Frau trägt einen Eimer mit Wasser auf dem Kopf

»In Deutschland haben wir im Grundgesetz kein Recht auf Wasser.«

 

Deutschland haben Sie nicht genannt, dabei sehen wir uns selbst gerne als besonders fortschrittlich an. Gibt es bei uns ein explizites Recht auf Wasser?

Tja, ich muss sie wohl enttäuschen. Wir haben so etwas im Grundgesetz nicht.

Wir hinken in diesem Bereich Ländern wie Bolivien und Südafrika hinterher?

Ja, formal schon.

Aber?

Aber so ein Recht bringt natürlich nur etwas, wenn es nicht nur auf dem Papier geschrieben steht, sondern auch in der Lebenswirklichkeit der Menschen ankommt. Dazu hat das Bundesverfassungsgericht mit Bezug auf die Bereitstellung vorhandener staatlicher Leistungen klargestellt, dass es ein Grundrecht auf gleichberechtigten Zugang zu knappen Ressourcen gibt. Im konkreten Fall ging es um Studienplätze. Wenn man das aber auf andere knappe Güter überträgt, lässt sich daraus auch ein soziales Grundrecht auf gleichberechtigten Zugang zu Wasser konstruieren.

Aber die Lage ist doch recht eindeutig: Bei uns gibt es kein Recht auf Wasser.

Das könnte man meinen. Aber es lässt sich auch ohne ein ausdrückliches Recht auf Wasser argumentieren, dass wir dem deutschen Grundgesetz das Recht auf ein Existenzminimum entnehmen und es auf diesen Bereich übertragen können. Es impliziert ja ein Recht auf Wasser, denn ohne Wasser keine Existenz. Von daher muss man Ihre formal korrekte Kritik an Deutschland etwas relativieren.

In Ordnung. Aber ein explizites Recht auf Wasser würde ja nicht schaden. Warum gibt es das bei uns nicht?

Ich glaube, weil der politische Bedarf – nicht der rechtliche – nicht gegeben ist. Die Menschen erleben im Alltag, dass Ihnen Trinkwasser aufgrund einer funktionierenden Infrastruktur, einer staatlichen Leistungsverwaltung und eines ausdifferenzierten Verwaltungsrechts zur Verfügung steht. Mit Blick auf andere Staaten sehen wir, dass die Forderung nach einem rechtlichen Anspruch meist dort entsteht, wo Menschen eben kein Wasser bekommen, wo es an einer intakten Leistungsverwaltung ganz real fehlt.

Kochtöpfe und zum Trocknen aufgehangene Decken

Den Beitrag haben wir mit Fotos von DAWIN MECKEL illustriert. In Südafrika hat er sich mit der Privatisierung von Trinkwasser beschäftigt.

An Wasserquellen ist auch zwischen Staaten Streit ausgebrochen. Der Brahmaputra beispielsweise entspringt im chinesischen Hochland, fließt durch Indien und mündet schließlich in Bangladesch in den Indischen Ozean. Zwischen den Anrainern gibt es einen heftigen Streit über die Nutzung seines Wassers. Wer soll in solchen Fällen entscheiden? Die UN, als überparteiliche Institution von oben?

Ich fürchte, im gegenwärtigen System wird ein Top-down-Ansatz nicht funktionieren. Die UN haben zwar 1997 ein Übereinkommen über das Recht der nichtschifffahrtlichen Nutzung internationaler Wasserläufe auf den Weg gebracht, das 2014 auch in Kraft getreten ist. In jedem Einzelfall müssen sich die Staaten aber untereinander verständigen und eine gemeinsame Lösung finden. Wie beim Klimawandel oder beim Artenschutz. Das ist der einzige, wenn auch deutlich langwierigere Weg.

Können Sie ein Beispiel nennen, wo dieser Weg zum Ziel geführt hat?

Ein bemerkenswerter Fall ist das auf die Ressource Wasser bezogene Arrangement zwischen den politisch in ständigem Streit befindlichen Staaten Indien und Pakistan. Trotz bewaffneter Feindseligkeiten konnten dank des 1960 geschlossenen Indus-Wasservertrages Konflikte um diese Ressource erfolgreich verhindert werden. Hier sehe ich prinzipiell auch die Funktion eines Menschenrechts auf Wasser: Nur mit einem solchen Menschenrecht kann ich als Individuum oder als Teil einer gesellschaftlichen Gruppe meinen Anspruch artikulieren und einfordern – und so die staatlichen Akteure zwingen, sich mit dem Problem zu beschäftigen.

Wenn wir uns des Problems nicht entschieden annehmen, drohen Kriege um Wasser.

 

Das klingt für mich sehr nach dem Prinzip Hoffnung.

Nein. Hoffen allein reicht nicht aus. Die internationale Gemeinschaft ist durchaus in der Pflicht. Das macht Artikel 2 des eingangs erwähnten Pakts der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte deutlich: Wenn es Staaten – aus welchen Gründen auch immer – nicht schaffen, Wasser zur Verfügung zu stellen, sind sie verpflichtet, sich gegenseitig zu helfen und solche Hilfe auch zu akzeptieren. Nach Artikel 2 ist jeder Vertragsstaat »einzeln und durch internationale Hilfe und Zusammenarbeit« zur Realisierung der in dem Pakt gewährten Rechte verpflichtet. Auf diese Weise sind die sozialen Rechte ein Vehikel, um das diffuse Konstrukt der internationalen Gemeinschaft in Bewegung zu bringen.

Ist es das Recht der internationalen Gemeinschaft oder ihre Pflicht, zu helfen?

Das ist eine sehr schwierige Frage. Rein rechtlich gibt es keine Möglichkeit, gegen den Willen einer Regierung einzugreifen. Aber es gibt erste Ansätze für diesen Weg. In einem völlig anderen Kontext hat die internationale Gemeinschaft beispielsweise das Konzept der »Responsibility to Protect« übernommen. Die Staaten können sich jedenfalls nicht einfach zurücklehnen und sagen: Das ist uns alles egal. Auf der anderen Seite steht jedoch die Souveränität der Staaten. Im gegenwärtigen Rechtsrahmen kann man nur unter ganz engen Voraussetzungen gegen den ausdrücklichen Willen der Staaten handeln. Hier muss weiter nachgedacht werden.

Thilo Marauhn vom Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main
Thilo Marauhn vom Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main Foto: HSFK

Wir diskutieren bislang vor allem über die Rolle von Staaten und deren Pflichten. Wenn Staaten aber Probleme bei der Versorgung mit Wasser haben, sind dann nicht auch private Akteure in der Pflicht? Lebensmittelkonzerne wie Nestlé, die Wasser verkaufen und mitunter gar Quellen betreiben.

Aus meiner Sicht kommen private Akteure ins Spiel, wenn es um die Umsetzung eines solchen Rechts geht. Denn es bedarf weit mehr als nur eines Rechtanspruchs. Benötigt werden eine funktionierende Verwaltung oder die entsprechende Infrastruktur in Gestalt von Pumpen, Leitungen, Reservoirs und vielem mehr. Gerade ärmere Staaten können das meist nicht leisten. Dann kann das in einem gewissen Umfang auch von Privaten übernommen werden.

Das bedeutet, in schwachen Staaten soll es der Markt regeln?

Nein, so habe ich das nicht gemeint. Rein private Ansätze sind nicht die Lösung, denn hier spielt immer auch die Gewinnmaximierung eine Rolle. Aber auch rein staatlich funktioniert es zumeist nicht. In solchen Fällen sollten gemeinsame Lösungen gefunden werden. Ein denkbarer Ansatz ist hier etwa das sogenannte integrierte Wasserressourcenmanagement, das von den UN propagiert wird. Hier werden nicht nur unterschiedliche Wasserressourcen zusammengeführt, sondern auch unterschiedliche Akteure auf der Ebene der Nutzer und der Leistungserbringer.

Das bedeutet: Nur, wenn alle sich konstruktiv beteiligen, ist eine Lösung des Problems möglich?

Es geht darum, die Versorgung mit einem knappen Gut zu optimieren. Das kann kein Staat alleine schaffen, das können aber auch die Vereinten Nationen nicht alleine. Was ein Menschenrecht an dieser Stelle gewährleisten kann, ist, dass wir inklusive Problemlösungen erarbeiten. Mit diesem Ansatz kann es gelingen, alle relevanten Akteure ins Boot zu holen. Wir brauchen also die Verzahnung von nationaler, internationaler und transnationaler Ebene. Das gelingt nur, wenn wir ein allgemeines Menschenrecht auf Wasser formulieren.

Und wenn nicht alle mitmachen?

Wenn wir uns des Problems nicht entschieden gemeinsam annehmen, drohen die bereits bestehenden Konflikte um das knappe Gut Wasser zu eskalieren. Hier geht es ums reine Überleben. Dann drohen uns Kriege um Wasser.

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