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Tuberkuloseerreger entwickeln seit Jahrzehnten stetig Resistenzen gegen Antibiotika – Neuentwicklungen gelten aber als wenig rentabel. Während die Pharmaindustrie kaum noch in die Antibiotikaforschung investiert, arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Leibniz-Institut für Naturstoff-Forschung und Infektionsbiologie – Hans-Knöll-Institut (Leibniz-HKI) seit mehreren Jahren an einem neuen Medikament. Mit dem Leiter der »Transfergruppe Antiinfektiva«, dem Chemiker Florian Kloß, haben wir über die Besonderheiten der Substanz und ethische Verantwortung in der Medikamentenforschung gesprochen.

LEIBNIZ  Herr Kloß, zurzeit dreht sich alles um die Impfstoffe gegen Covid-19. Sie kümmern sich um eine andere Krankheit: Tuberkulose. Warum?

FLORIAN KLOß  Wir haben uns in den vergangenen Jahren insbesondere im Bereich der Tuberkulose sehr stark engagiert, weil wir zum einen glauben, dass Pharmakonzerne in dem Bereich viel zu wenig tun. Was uns außerdem Sorge bereitet, ist die Verbreitung zunehmend resistenter Tuberkulose-Bakterien, die man teilweise über zwei Jahre therapieren muss. Für die betroffenen Infizierten hat das enormes Leid zur Folge. Und hier kommt ins Spiel, dass wir am Leibniz-HKI vor einigen Jahren eine völlig neue Wirkstoffklasse gefunden haben, die sehr effektiv gegen den Problemkeim Mycobacterium tuberculosis wirksam ist.

Was für eine Krankheit ist Tuberkulose? Ist sie aktuell wieder auf dem Vormarsch?

Oft wird die Tuberkulose als armutsassoziierte Krankheit beschrieben, weil es vor allem Länder mit niedrigen Einkommen trifft, insbesondere, wenn die Hygienezustände und die Gesundheitsversorgung nicht ideal sind. Wir haben über die vergangenen Jahre weltweit einen relativ konstanten Verlauf: Jährlich infizieren sich ungefähr 10 Millionen Menschen. Über die Atemwege lässt sich die Krankheit leicht übertragen, bereits wenige Bakterien genügen. Wenn man einen guten Immunstatus und eine gute Allgemeinverfassung hat, erkrankt man in der Regel nicht. Anders sieht es aus, wenn Patienten bereits geschwächt sind, zum Beispiel durch eine HIV-Infektion. Ein weiteres Problem sind multiresistente Erreger, die nur schwer zu therapieren sind. Jährlich sterben weltweit circa 1,5 Millionen Menschen an Tuberkulose.

Portrait von Florian Kloß
Foto LEIBNIZ-HKI

Es ist auch eine ethische Verantwortung.

FLORIAN KLOß

Wie bilden sich resistente Bakterien und warum erschwert das die Therapie?

Das Problem ergibt sich daraus, dass man bei einer aktiven Tuberkulose sehr viele Erreger in sich trägt. Billionen Bakterien können den Körper besiedeln, und jedes Bakterium ist geringfügig anders. Wird nun ein einzelnes Antibiotikum verwendet, überleben zwangsläufig solche Erreger, die mit dem Antibiotikum zufällig besser umgehen können, also resistent sind. Der Patient erfährt zunächst eine Genesung, die wenigen resistenten Bakterien vermehren sich aber weiter, und der Gesundheitszustand verschlechtert sich erneut. Eine erfolgreiche Behandlung funktioniert also nur mit mehreren Antibiotika in Kombination.

Wie sieht sie aus?

Üblicherweise setzt man vier Antibiotika ein, die schon seit etwa 50 Jahren gegeben werden. Gerade aber weil diese Kombination so häufig eingesetzt wurde, haben wir heute auch Erreger im Umlauf, die gegen sämtliche Antibiotika der Kombination resistent geworden sind und sich von Mensch zu Mensch übertragen lassen. Unter diesen Umständen dauert eine Therapie sehr lange. Weitere Antibiotika müssen dann verordnet werden.

Aber mittlerweile reicht das nicht mehr aus?

Für Patienten, die mit resistenten Erregern infiziert sind, werden neue Antibiotika dringend gebraucht, aber nicht nur ein einzelnes. Wenn beispielsweise nur ein Antibiotikum dieser »alten« Kombination ersetzt wird, reicht das unter Umständen nicht aus, da die Erreger teilweise schon gegen mehrere ältere Antibiotika resistent geworden sind. Neue Resistenzen entwickeln sich dann relativ schnell und das neue Antibiotikum verliert binnen weniger Jahren seinen therapeutischen Nutzen. Deshalb ist es so wichtig, mehrere neue Antibiotika in wirksamen, neuen Kombinationstherapien zusammenzuführen.

Sind die Pharmakonzerne aufgrund dieser Schwierigkeiten ausgestiegen?

Die Pharmaindustrie tut aktuell sehr wenig in diesem Bereich. Denn es ist ja nicht so, dass man da »nur« ein neues Antibiotikum entwickelt. Man muss auch alle Neuentwicklungen anderer Entwickler – normalerweise wären das Konkurrenten – auf dem Schirm haben, da diese potentiell mit der eigenen neuen Substanz kombinierbar sein müssen. Das ist für die Pharmaindustrie aus zweierlei Hinsicht unattraktiv: Einerseits ist die Entwicklung eines einzelnen Antibiotikums bereits sehr teuer, andererseits muss man sich dann noch darauf einstellen, es zusammen mit mehreren Partnern zu entwickeln. Weiterhin müssen Tuberkulose-Therapeutika vor allem in Ländern mit geringem und mittlerem Einkommen günstig verfügbar sein. Das heißt konkret: keine Gewinnaussichten, sehr viel Unsicherheit und enorme wissenschaftliche und strategische Herausforderungen. Das ist für Wirtschaftsunternehmen keine Aufgabe, der man sich gerne stellt!

Warum übernehmen Sie am Leibniz-HKI diese Aufgabe? Sehen Sie sich in einer gesellschaftlichen Verantwortung?

Ja, selbstverständlich. Wenn sich eine Substanz findet, die eine Chance hat, das Leid in der Welt zu reduzieren, dann sind wir schlicht in der gesellschaftlichen Verantwortung, daraus etwas zu machen. Die Pharmaindustrie kann sagen, das lohnt sich nicht – wir machen das nicht. Die öffentliche Hand hat diese Wahl meiner Meinung nach nicht, denn dem Gesundheitswesen entstehen enorme Kosten durch Resistenzen. Es ist aber natürlich auch eine ethische Verantwortung, die da eine Rolle spielt.

Inwiefern?

Hier geht es schließlich um die Weltgesundheit. Die Tuberkulose bremst gerade ärmere Länder in ihrer Wirtschaftsfähigkeit aus. Wenn es uns langfristig gelingt, die Krankheit einzudämmen, hat man diesen Ländern eine nachhaltige Entwicklungshilfe geleistet.

Wird auch anderswo an Medikamenten gegen Tuberkulose geforscht? Denn Deutschland ist ja eigentlich gar kein Risikogebiet ...

Geforscht wird viel, weil Wissenschaftler die Tuberkulose längst als ein ernstzunehmendes Problem erkannt haben. Und wenn wir von akademischer Forschung reden, spielen Gewinne und Risiken nicht die entscheidende Rolle. Es geht hier mehr darum, wie gesellschaftlich bedeutsam ein Forschungsprojekt ist. Bei der zielgerichteten Entwicklung von Medikamenten sieht das allerdings anders aus. Laut WHO laufen weltweit aktuell nur sieben klinische Programme. Wie viele Medikamente es tatsächlich in die Apotheke schaffen und vor allem wirksam kombiniert werden können, ist erst einmal unklar.

Was ist das Besondere an der Substanz, an der Sie im Moment forschen?

Das Besondere an dieser neuen Substanz, wir nennen sie »BTZ-043«, ist ihre außerordentlich gute Wirksamkeit gegen den Tuberkuloseerreger. Außerdem gehört sie einer neuen Wirkstoffklasse an und wirkt nach einem neuen Prinzip, also anders als die zugelassenen Marktprodukte. BTZ-043 ist vor einigen Jahren in Zusammenarbeit einer Mikrobiologin des Leibniz-HKI mit einem russischen Wissenschaftler entdeckt worden. Die Substanzklasse der Benzothiazinone wurde zunächst als Stoffwechselprodukt einer Vorläufersubstanz in Bakterienkulturen erkannt. Dabei wurde vor allem die hohe Aktivität gegen tuberkuloseähnliche Bakterien beobachtet. Anschließend haben die beiden Wissenschaftler diese Substanzklasse umfangreich chemisch erkundet und zu einer Leitstruktur weiterentwickelt. Später zeigte sich dann, dass sich die Aktivität tatsächlich auf Tuberkuloseerreger übertragen lässt. Um die Wirkstärke von BTZ-043 einmal zu veranschaulichen: Wenn Sie einen kleinen Kristall von einem Milligramm in eine Badewanne fallen lassen, reicht die Konzentration bereits aus, um alle Mykobakterien darin zu töten.

 

Ein Arzt bereitet eine grüne Ampulle vor. Er trägt Gummihandschuhe. Hinter ihm sitzt eine Frau auf einem Krankenhausbett, sie wird von einem weißen Vorhang halb verdeckt.
Maryland County, Liberia: In einem Krankenhaus bereitet ein Arzt eine Antibiotika-Injektion vor. Liberia gehört zu den Ländern mit den meisten Tuberkulose-Infektionen weltweit – besonders betroffen sind in Armut lebende Menschen.

BTZ-043 wurde also nur durch Zufall entdeckt?

Unsere Kollegen haben damals schon nach Substanzen gegen Mykobakterien gesucht, das ist nicht rein zufällig passiert. Aber was die enorme Aktivität von BTZ-043 angeht, war die Entdeckung schon sehr überraschend, vor allem weil man zu dieser Zeit keine Substanzen mit ähnlicher Wirkstärke kannte. Später stellte sich dann heraus, dass wir es mit einem vollkommen neuen Wirkmechanismus zu tun haben. Die Substanz hemmt einen Schlüsselschritt, der für die Bildung der Zellwand der Bakterien verantwortlich ist. Diese Hemmung ist irreversibel, da BTZ-043 an dieses Enzym kovalent – also unlösbar – bindet.

Was macht die Entwicklung von so einer neuen Substanz besonders schwierig?

Die Entwicklung einer neuen Strukturklasse ist immer mit enormen Unwägbarkeiten verbunden. Generell hat man in der Arzneimittelentwicklung vor allem bei kleinen Molekülen sehr hohe Ausfallquoten: Man kann sich nie sicher sein, dass eine Substanz, die im Labor heute gut aussieht, vielleicht eine hohe Wirksamkeit im Tiermodell zeigt oder in mikrobiologischen Tests sehr gut abschneidet, morgen dann auch wirklich weit kommt. Besonders schwierig an unserer neuen Substanzklasse ist, dass sie einzigartige chemische Eigenschaften aufweist: Sie wird im Körper beispielsweise ganz anders verstoffwechselt als bisher bekannte Arzneistoffe. Es ist also ein komplizierter Entwicklungsprozess, damit die Substanz im Patienten schlussendlich eine optimale Wirkung erzielt. Auch sonst gibt es bei neuen Substanzklassen immer wieder Überraschungen, die manchmal tief im Detail stecken.

Wie hoch sind die Chancen, dass der Wirkstoff am Ende eingesetzt werden kann?

Natürlich stellt sich die Frage: Wie gut ist die Wirksamkeit, wie viel Wirkstoff brauche ich idealerweise für eine Therapie. Seit 2018 wird unser Wirkstoff am Menschen auf seine Aufnahme und Verträglichkeit getestet, seit 2019 auch auf seine Wirksamkeit. Bisher sind die Ergebnisse äußerst motivierend. Zur Kombinierbarkeit mit anderen Wirkstoffen können wir noch keine verlässlichen Aussagen machen, hierfür sind weitere klinische Studien vorgesehen.

Werden Infizierte sich das Medikament denn auch leisten können?

Bezüglich der Erschwinglichkeit habe ich weniger Sorge in den europäischen Ländern oder den USA, denn hier spielt der Preis nur eine untergeordnete Rolle. Aber für Länder mit niedrigen Einkommen ist es natürlich ein Riesenproblem, wenn ein Wirkstoff zu teuer ist. Deswegen tun wir alles dafür, die Substanz langfristig in einem angemessenen Preisrahmen herstellen zu können. Ab 2022 will unser Entwicklungsteam aus Wissenschaftlern des Leibniz-HKI und des Klinikums der Ludwig-Maximilians-Universität München in zulassungsrelevante Studien einsteigen.

Wie wirkt sich die Corona-Pandemie auf die Tuberkuloseforschung aus? Wird an Ressourcen gespart, die jetzt in Corona-Forschung fließen?

Vor allem klinische Studien sind durch die Pandemie stark ausgebremst. Das hat verschiedene Ursachen, vor allem aber sind klinische Studien in Corona-Zeiten deutlich aufwändiger in der Planung und im Risikomanagement geworden. In klinischen Studien wird häufig hospitalisiert. Geeignete Patienten für einen längerfristigen Krankenhaus-Aufenthalt zu rekrutieren, ist in Pandemiezeiten teilweise sehr schwierig geworden.

Wie sieht das mit Blick auf Forschungsgelder aus?

Sicher fließen derzeit viele Fördermittel in die Corona-Forschung. Für andere Infektionskrankheiten hat die Corona-Pandemie aber auch ein öffentliches Bewusstsein erweckt. Das merkt man als Infektionsforscher sehr deutlich auf verschiedenen Ebenen, auch bei den Geldgebern. Bei der Tuberkulose hat man verstanden, dass die Corona-Pandemie sogar noch zur Verschärfung der Situation führt, da besonders in Lockdown-Perioden keine hinreichende medizinische Versorgung gewährleistet werden kann. So wird noch deutlicher, wie dringend neue Medikamente mit kürzeren Therapiedauern in diesen Zeiten vor allem bei der multiresistenten Tuberkulose benötigt werden.

Die Substanz BTZ-043 hat einen völlig neuen Wirkmechanismus.

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