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Es ist 9.30 Uhr im Schlesischen Zoologischen Garten in der Stadt Chorzow, und die Hoffnung liegt am Boden. Um sie herum drängen sich geschäftig 15 Menschen. Die Tierpfleger und Wissenschaftler bereiten heute einen besonderen Eingriff vor: 100 Mikrogramm Zellmaterial wollen sie einem Zweieinhalb-Tonnen-Koloss abgewinnen — einem Südlichen Breitmaulnashorn mit dem Namen Hope.

Thomas Hildebrandt und drei Kollegen vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) sind für diese schwierige Mission aus Berlin in den Südwesten Polens gereist. Es geht um Leben und Tod, nicht für Hope, sondern für ihre Verwandten: die nördliche Unterart der »Weißen Nashörner«. Mit einem zwei Meter langen Spezialinstrument, in das Hildebrandt zehn Jahre Entwicklungsarbeit gesteckt hat, wollen sie Hope unter Vollnarkose lebende Eizellen entnehmen. Sie trainieren für den Ernstfall. Denn später in der »Ol Pejeta Conservancy«, einem Reservat unweit des Mount Kenya, darf nichts schiefgehen.

Dort ereignet sich nur wenige Monate zuvor, am 19. März 2018, ein schwarzer Tag für den Artenschutz. Sudan, der letzte männliche Vertreter des Nördlichen Breitmaulnashorns, stirbt. Jetzt sind nur noch zwei Weibchen übrig: Sudans Tochter Najin und seine Enkelin Fatu. Die Unterart gilt damit als »funktionell ausgestorben« — auf natürlichem Wege wird es keine Nachkommen mehr geben. Doch einige Forscher wollen nicht aufgeben: Wissenschaftler aus Italien, Tschechien, Japan, den USA und Deutschland bündeln ihre Kräfte. Biologen, Gentechniker, Reproduktionsmediziner, Zoologen. Jedes Institut bringt sein Spezialwissen ein, Gelder werden akquiriert, Unternehmen für das Projekt gewonnen. Die Rettung des Nördlichen Breitmaulnashorns läuft an.

Als der englische Naturforscher Richard Lydekker die Tiere 1908 erstmals wissenschaftlich beschrieb, grasten hunderttausende von ihnen in den Savannen und Sumpflandschaften Zentralafrikas. Doch binnen weniger Jahrzehnte rotteten Großwildjäger und Wilderer das Nördliche Breitmaulnashorn systematisch aus. In den 1960er Jahren lebten in der Wildnis nur noch 2.250 Tiere. Ihre Hörner wurden illegal gehandelt, als Trophäen und für die traditionelle Chinesische Medizin. Die Nachfrage nach gewilderten Tierprodukten steigt stetig — bis heute: Die Vereinten Nationen schätzen, dass Händler jedes Jahr mehr als 200 Milliarden Dollar mit Hörnern, Fellen und Knochen umsetzen.

Anfang der 1990er Jahre sind nur 15 Exemplare des Nördlichen Breitmaulnashorns übrig. Sie leben im Garamba- Nationalpark im Kongo, streng bewacht von Naturschützern und Wildhütern. Leise Hoffnung macht sich breit, der Bestand erholt sich zumindest etwas. Doch 1996 bricht der Erste Kongokrieg aus, Auftakt zu Jahrzehnten der Gewalt. Immer wieder wird der älteste Nationalpark Afrikas von schwer bewaffneten Rebellen und Wilderern heimgesucht, die mit dem Verkauf der gewilderten Hörner ihre Kriegskasse aufbessern. 2008 erklärt die Weltnaturschutzunion das Nördliche Breitmaulnashorn für in der Wildnis ausgestorben.

Mit jeder natürlichen Ressource, die wir vernichten, verlieren wir einen Teil unserer Lebensgrundlage.

THOMAS HILDEBRANDT

Welche Folgen sein Verschwinden haben wird, kann heute noch niemand abschätzen. Es ist eine »Regenschirmart«: Durch ihr Grasen halten die Nashörner Flächen offen, die vielen anderen Tieren und Organismen eine Lebensgrundlage bieten, von Raubtieren über Vögel bis hin zu Mikroben. »Mit jeder natürlichen Ressource, die wir vernichten, verlieren aber auch wir einen Teil unserer Lebensgrundlage«, sagt Thomas Hildebrandt. Die Menschheit müsse dringend diskutieren, welchen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wert sie der Natur beimisst. Und Verantwortung übernehmen: »Das Nördliche Breitmaulnashorn ist nicht ausgestorben, weil sein Bauplan in der Evolution gescheitert ist«, sagt Hildebrandt. »Der Mensch hat es systematisch ausgerottet.« Jetzt sei es an ihm, diesen schwerwiegenden ökologischen Fehler zu korrigieren.

Im Nashornstall des Chorzower Zoos zeigt sich, dass das eine tückische Aufgabe ist. »Mist, irgendetwas funktioniert nicht«, ruft Thomas Hildebrandt. Am Monitor seines Ultraschall-Laptops hat er seinen Kollegen, Tiermediziner Robert Hermes, der das zwei Meter lange Spezialgerät bedient, mittlerweile zu Hopes Eierstöcken navigiert. Auf dem Bildschirm zeichnen sich die kugeligen Schemen eines Eibläschens ab. Eigentlich müsste jetzt die Nadel an der Spitze des Geräts aktiviert werden, durch die Darmwand sollte sie ins Zentrum des Follikels stechen. Anschließend könnte Reproduktionsbiologin Susanne Holtze die Eizelle per Vakuum aus dem Follikel saugen. Doch die Nadel lässt sich nicht ausfahren. Noch ein Versuch, auch er misslingt.

»Wir müssen abbrechen«, entscheidet Hildebrandt. Er wirft einen fragenden Blick zum Anästhesisten Frank Göritz, der den Koloss nun länger unter Narkose halten muss. Im provisorisch aufgebauten Labor gleich nebenan stellt Hildebrandt fest, dass die Nadel beim Transport aus Berlin beschädigt wurde. Aus einem schwarzen Koffer zieht er ein Ersatzgerät hervor, die Eizellengewinnung kann fortgesetzt werden. Für die vier Berliner Wissenschaftler vom IZW ist der Zwischenfall trotzdem eine wichtige Erfahrung für den Einsatz bei den letzten Nördlichen Breitmaulnashörnern in Kenia.

länglicher Koffer mit der Aufschrift "No Gun – Research Equipment"
Person von hinten in Gummistiefeln in einem Gang mit seitlichen Einbuchtungen und etwas Heu.

Najin und Fatu könnten auf natürlichem Wege selbst dann keinen Nachwuchs mehr bekommen, wenn es noch Bullen gäbe. Beide leiden an einer Erkrankung der Gebärmutter — ein Problem, das häufig auftritt, wenn Wildtiere längere Zeit ohne Nachwuchs bleiben. Nashornkuh Najin hat zusätzlich schwache Achillessehnen. Die Last eines Babys und seiner Fruchthüllen, die bis zu 100 Kilogramm wiegen, könnte sie nicht mehr tragen, und auch ihr Blutkreislauf würde die 16-monatige Trächtigkeit nicht verkraften.

Deshalb wollen die Wissenschaftler den beiden Weibchen in Kenia Eizellen entnehmen — so, wie sie es heute bei Hope erproben. Im Labor wollen sie die Eizellen mit Spermien von Nördlichen Breitmaulnashornbullen befruchten, die in der Kryobank des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung lagern. Entwickelt sich ein Embryo, soll er einer Leihmutter eingesetzt werden. Ein Weibchen der südlichen Unterart würde es zur Welt bringen; dann könnte das Kalb mit seinen letzten Verwandten Najin und Fatu aufwachsen.

Die Rettung wäre das noch nicht, eher ein Etappensieg. Denn wenn die Forscher nur auf die verfügbaren Eizellen und Spermien zurückgreifen, wäre die genetische Vielfalt für eine gesunde, sich selbst erhaltende Population zu gering. Je größer diese Vielfalt aber ist, desto besser kann sich eine Art über Generationen hinweg an veränderte Umweltbedingungen anpassen — und überleben. Die Stammzellspezialisten des internationalen Rettungsteams entwickeln deshalb eine zweite, bahnbrechende Methode: Aus Hautzellen wollen sie Keimzellen gewinnen.

Eingefroren bei minus 196 Grad Celsius liegen in Kryobanken in Berlin und San Diego noch lebende Hautzellen von 13 Nördlichen Breitmaulnashörnern. Aus ihnen wollen die Forscher pluripotente Stammzellen gewinnen. Diese haben die Fähigkeit, sich unbegrenzt zu erneuern und können sich zu jeder beliebigen Zelle weiterentwickeln, auch zu Spermien und Eizellen. Durch künstliche Befruchtung könnten im Labor Embryos entstehen — und die genetische Vielfalt entscheidend erhöhen. Auch die Reagenzglas-Embryos könnten Leihmüttern eingesetzt werden und zu normalen Nördlichen Breitmaulnashornbabies heranwachsen.

Von der Arbeit der Wissenschaftler sollen nicht nur die Nashörner profitieren. Das Team will eine Blaupause für die Rettung stark bedrohter Tierarten entwickeln, eine Methode, die als letztes Mittel zum Einsatz kommen kann. »Es ist ein Glück, dass moderne Technologien uns diese Möglichkeit eröffnen«, sagt Thomas Hildebrandt, »auch wenn wir uns wünschen würden, dass sie niemals notwendig geworden wäre. Unsere große Hoffnung ruht auf dem Wirken zukünftiger Generationen, die sicher verantwortungsvoller mit unserem Planeten umgehen werden.«

Im Stall schläft Hope noch immer tief und atmet gleichmäßig. Hildebrandt trägt die Reagenzgläser mit der Ausbeute des Tages ins provisorische Labor und setzt seine Brille auf. Dann füllt er die Follikelflüssigkeit aus Hopes Eierstöcken in sterile Petrischalen und betrachtet sie unter dem Mikroskop. Er lächelt, als er fündig wird. Mit einer Pipette saugt er die Eizelle an und verstaut sie vorsichtig in einem Transportbehälter. Das Team ist seinem Ziel — der Rettung des Nördlichen Breitmaulnashorns — einen Schritt näher gekommen.

Nashorn, dessen Gesicht mit einem Tuch verdeckt ist. Nur der Stumpf seines Horns schaut heraus.
Zwei Personen in grünen Anzügen, zwischen ihnen dicke Gitterstäbe. Kabel und Messgeräte.
Messgerät am Körper des Nashorns.
Personen mit Schutzhandschuhen und Geräten im Käfig des Nashorns.
Verkabeltes, Blutiges Ohr des Nashorns, vor dem Käfig eine Person, die das dünne Kabel hält.
Das Nashorn legt den Kopf seitlich auf den Boden, in einem Nasenloch steckt ein dünnes Kabel.
Messkasten mit roten Knöpfen und Kabel im Heu.
Eine Person mit einer Box, mit der Aufschrift: Exempt Animal Specimen.
Person im Labor.

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