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MARCO FEY
war von 2009 bis 2017 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz­-Institut Hessische Stiftung Friedens-­ und Konfliktforschung. In seiner Doktorarbeit untersucht er die amerikanische Raketenabwehrpolitik zwischen 1995 und 2014.

LEIBNIZ Für Vladimir Putin gefährden die Raketenabwehrpläne der NATO die Weltsicherheit, China erwägt wirtschaftliche Sanktionen gegen Südkorea, weil die USA dort Teile ihres Abfangschirms installieren. Warum fühlen sich Staaten von Raketenabwehrsystemen bedroht, geht es nicht um Verteidigung?

MARCO FEY Eigentlich sind das rein defensive Systeme, insofern mag die Aufregung überraschen. Aber wenn man sich die größere Gleichung der strategischen Stabilität anschaut, wird schon klarer, warum sie durchaus als bedrohlich wahrgenommen werden können. Die Raketenabwehr kommt darin gleich doppelt ins Spiel: Zum einen kann sie die eigenen Vergeltungswaffen schützen, zum anderen die wenigen Waffen abfangen, die dem Gegner nach einem nuklearen Erstschlag bleiben.

Im Kalten Krieg spielte das Ausbalancieren solcher Gleichgewichte eine zentrale Rolle. Ist die Raketenabwehr ein Kind dieser Zeit?

Sie ist im Grunde so alt wie das Zeitalter der ballistischen Raketen selbst. Die Entwicklung begann nach dem Zweiten Weltkrieg, akut wurde es in den 1950er Jahren mit dem »Sputnik-Schock«. Die Sowjets schossen einen Satelliten ins All, den Amerikanern war klar, dass sie mit dieser Technologie auch eine ballistische Rakete über den Atlantik feuern konnten. Sie investierten in den Aufbau eines Abwehrschirms – und die Sowjets taten es ihnen gleich.

Der Auftakt zu einem Wettrüsten.

Es hat sich immer weiter hochgeschaukelt. Irgendwann überlegten amerikanische Nuklearstrategen, ob sich so etwas wie ein »Gleichgewicht des Schreckens« einpendeln ließe. Ihre Idee: So lange wir uns gegenseitig zerstören können, herrschen Stabilität und Frieden. 1972 verpflichteten sich die Großmächte aus diesem Grund, keine landesweiten Raketenabwehrschirme aufzubauen. Erst Ronald Reagan rüttelte am sogenannten ABM-Vertrag, den George W. Bush 2002 schließlich kündigte. Seitdem tüfteln die USA kräftig an ihrer Abwehr.

Die Spannungen zwischen Ost und West haben zuletzt wieder zugenommen. Russland drohte mehrfach, mit Aufrüstung auf die Abwehrpläne der USA reagieren zu wollen.

Die Russen betrachten den Aufbau der amerikanischen Raketenabwehr als Gefahr, auch wenn die gegenwärtige Technologie keine Bedrohung für ihre Nuklearwaffen darstellt. Sie argumentieren wohl nicht völlig zu Unrecht, dass man nie wissen könne, welche technologischen Durchbrüche es geben wird und wie sich die politischen Verhältnisse in Washington entwickeln werden. Raketenabwehr ist ein Hauptgrund dafür, dass es in den Beziehungen der USA und Russlands seit Jahren bergab geht.

Gibt es denn auch von russischer Seite Ambitionen, sich zu schützen?

Die Russen haben ein Raketenabwehrsystem aus Zeiten des Kalten Krieges. Der ABM-Vertrag erlaubte es ihnen, einen Ort im Land zu schützen — die Hauptstadt oder einen Raketensilo. Das System ist nach wie vor um Moskau stationiert und wir wissen, dass Russland nicht nur seine Raketen- und Nuklearwaffenarsenale modernisiert, sondern auch seine Abwehr. Auch die Chinesen basteln an einem System. Beide nennen die Aktivitäten der USA als Hauptgrund ihrer Investitionen.

Kim Jong Un wird heute deutlich besser schlafen.

MARCO FEY

Der US-­Rüstungsexperte Stephen Schwartz charakterisiert die amerikanische Raketenabwehr als Programm, das nicht funktioniert, sich gegen eine nicht­existente Gefahr richtet und mit Geld aufgebaut wird, über das man nicht verfügt. Hat er Recht?

Zumindest zwei seiner Punkte sind ziemlich treffend. Seit den 1990er Jahren ist in den USA, chronischen Haushaltsdefiziten zum Trotz, ein Heidengeld in das System geflossen. Mittlerweile sind es über 50 Milliarden Dollar. Die Testbilanz liegt dabei bestenfalls bei 50 Prozent erfolgreicher Abschüsse — und das nicht einmal unter realistischen Einsatzbedingungen. Man könnte genauso gut eine Münze werfen.

Was bedeutet das für den Fall eines — sagen wir — nordkoreanischen Angriffs?

Die meisten Experten bezweifeln, dass die USA ihr Gebiet verteidigen könnten. Um eine einzige nordkoreanische Rakete zu zerstören, müsste man ihr vier bis fünf Abwehrraketen entgegenschicken. Bei derzeit lediglich 36 in Alaska und Kalifornien stationierten Geschossen kann man sich ausrechnen, wie viele Raketen bestenfalls abgefangen werden könnten.

Hat Schwartz auch Recht, wenn er eine derartige Bedrohung in Frage stellt?

Die Nordkoreaner haben uns insoweit überrascht, als sie scheinbar in der Lage sind, eine Interkontinentalrakete gen USA zu schießen. Ob diese punktgenau treffen, nukleare Sprengköpfe tragen und den Wiedereintritt in die Atmosphäre überstehen könnte, ist fraglich. Einige Experten bejahen es, andere sagen, dass es noch ein paar Jahre dauern wird. Klar ist: Die Bedrohung entwickelt sich. Aber auch: Raketenabwehr kann nie die alleinige Antwort darauf sein.

Warum investieren die USA dennoch Milliarden?

Es ist schwer, ein Programm zu stoppen, das schon Unsummen verschlungen hat. Und der Glaube, alle politischen Probleme technologisch lösen zu können, ist in den USA sehr ausgeprägt.

Porträt von Marco Fey
Foto FABIAN ZAPATKA

Die Alternative wären diplomatische Lösungen?

Rüstungskontrolle und Abrüstung. Die Zahl der nuklearen Sprengköpfe muss weiter runtergehen. Nur so kann auch die Gefahr eines unbeabsichtigten Abschusses reduziert werden. Im Kalten Krieg identifizierte das russische Frühwarnsystem mal einen norwegischen Wetterballon als herannahende Nuklearrakete, mal einen Schwarm Fluggänse. Hätten die handelnden Personen nicht besonnen reagiert, hätten wir einen Nuklearkrieg erlebt. Die Idee, dass atomare Abschreckung dauerhaft fehlerfrei funktioniert, ist im Grunde verrückt.

Wie ist die Situation in Europa?

Die NATO hat den Schutz ihres Gebiets vor ballistischen Raketen zu einer ihrer Kernmissionen erklärt. Dabei geht es allerdings um Kurz- und Mittelstreckenraketen, die effektiver abgefangen werden können als Langstreckenraketen. Jedes Land soll seine Abwehrfähigkeiten beisteuern. Die Bundeswehr ist mit ihren relativ zuverlässigen, aber alten Patriot-Raketen beteiligt. Bald soll ein neues System namens MEADS sie ablösen.

Wovor soll es uns denn schützen?

Die Bundesregierung geht davon aus, dass heute 30 Staaten ballistische Kurz- oder Mittelstreckenraketen herstellen können, bis 2030 wird dieser Club noch mehr Mitglieder haben. Man will vorbereitet sein. Persönlich halte ich die Bedrohung für relativ abstrakt.

In Osteuropa dürfte man das anders sehen.

Polen, Rumänien und andere Länder des ehemaligen Ostblocks haben ein anderes Bedrohungsgefühl, gerade aufgrund der angespannten Lage mit Russland. Diesen Staaten ist wichtig, dass sich amerikanische Soldaten und Installationen, etwa Raketenabwehr, auf ihrem Gebiet befinden. Nur das — so die Überlegung — könne einen Überfall Russlands sicher verhindern.

Wie sieht die Zukunft der Raketenabwehr aus?

Denkbar sind zum Beispiel auf Drohnen installierte Hochleistungslaser. Sie könnten nah an die Abschussrampen des Gegners heranfliegen und Raketen schon beim Start zerstören. In nicht allzu ferner Zukunft werden wir außerdem Versuche der USA sehen, Teile der Raketenabwehr ins Weltall zu verlagern. Eine weitere Entwicklung ist seit Jahren im Gange: Raketen sind die Waffe des kleinen Mannes geworden.

Wie meinen Sie das?

Auch kleine Staaten können Raketen bauen — und so einen Angriff militärisch überlegener Staaten abschrecken. Das dürfte Kim Jong Uns Hauptmotiv für sein Raketen- und Nuklearprogramm sein: Er will eine ultimative Lebensversicherung, die er in seinen Augen nur bekommt, wenn er amerikanische Städte mit nuklearbestückten Langstreckenraketen bedrohen kann. Kim wird heute deutlich besser schlafen als vor ein paar Jahren, als er ständig mit einem Enthauptungsschlag rechnen musste.

Wie oft klingelt Ihr Telefon, seit seinem erfolgreichen Langstreckentest im August?

Es wird vermehrt Expertise im Bereich Raketenabwehr nachgefragt. Eventuell sehen wir bald den allerersten real-weltlichen Einsatz eines Raketenabwehrsystems, nämlich dann, wenn Nordkorea Raketen in Richtung des US-Außengebiets Guam abschießt. Ich hoffe, dass es nicht so weit kommt, denn das Eskalationspotential ist enorm. Laut der Theorie des nuklearen Gleichgewichts ist die aktuelle Konstellation besonders gefährlich, weil Nordkoreas nukleares Arsenal noch sehr verwundbar ist. Das könnte Kim verleiten, es im Ernstfall möglichst früh einzusetzen. Er könnte die Drohgebärden der USA falsch perzipieren und etwa einen Bomberüberflug für einen startenden Erstangriff der USA halten. Das bereitet mir im Moment schon große Sorgen.

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