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MARCUS SCHÄFER
ist Student des Masterstudiengangs »Public History«, den die Freie Universität Berlin in Kooperation mit dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) anbietet. Sein Beitrag erschien zunächst auf zeitgeschichte | online.

Nur Frauen tragen Kleider, Männer tragen blau. Männer sind stark, Frauen hysterisch. Das ist selbstverständlich alles ausgemachter Quatsch, dennoch behaupten sich solche antiquierten, geschlechtsspezifischen Zuschreibungen und Stereotype ausdauernd, selbst in der Gegenwart.

Gleiches galt lange Zeit für die Tätowierung, die in westlichen Gesellschaften wie den USA viele Jahrzehnte als rein maskulines Ausdrucksmedium betrachtet wurde, ähnlich dem Bodybuilding. Historisch lässt sich diese Deutungsweise damit begründen, dass die Tätowierung seit ihrer Wiederbelebung in der westlichen Welt ab den 1770er Jahren im Zuge der Seefahrt tatsächlich von tätowierten und tätowierenden Männern dominiert wurde, was laut der US-Forscherin Christine Braunberger [...] aus der Homosozialität in der Seefahrt und beim Militär hervorging. 

Frauen blieben aus dieser Kultur in der Regel ausgeschlossen, von einigen wenigen, überschaubaren Phasen abgesehen. Ein Beispiel hierfür sind die schwertätowierten Showfrauen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die sogenannten carnival ladies. Nach deren Zenit und Niedergang waren dann vor allem die 1940er und 1950er Jahre stark männerdominiert. Gerade für Frauen galt die als »asozial« empfundene Tätowierung als unschicklich. Hinzu kam, dass sich Frauen in den patriarchalisch geprägten USA jener Jahre dem Willen eines Mannes in ihrem Umfeld – Vater, Partner oder Ehemann – beugen mussten. Der entschied über ihren Körper und dessen Urteil zum Tattoo-Wunsch fiel getreu dem Slogan »Nice girls don’t get a tattoo« meist negativ aus. Einige Tätowierkünstler verweigerten sich generell dem Stechen von Frauen, da sie Handgreiflichkeiten und andere Konflikte mit deren Vätern, Partnern oder Ehemännern vermeiden wollten. Zeitzeug*innenaussagen nach ließen sich in diesen Jahren beinahe ausschließlich homosexuelle oder wenige Frauen der lower class stechen – das sollte sich aber schon bald ändern.

Der Beinahe-Tod der Tätowierung nach dem 2. Weltkrieg

Tätowierungen sind in der westlichen Welt derzeit wieder modern, möglicherweise moderner denn je. Das war nicht immer so. Der Anthropologin Margo DeMello zufolge hatte der Hautstich in den wenigen Jahrzehnten zwischen den beiden Weltkriegen trotz aller destruktiven Stigmatisierungsprozesse bereits eine bemerkenswerte Hochphase hinter sich. Diese Periode ist auch als »goldenes Zeitalter der Tätowierung« in die Geschichtsbücher eingegangen. In den USA genoss die Kunstform vor allem unter Männern eine relativ hohe Popularität.

Akzeptanz, Verbreitung und Prestige nahmen nach 1945 aber rapide ab. Dieser Wandel lag auch in einer unter den Vorzeichen des Kalten Krieges zwischenzeitlich noch konformistischer und konservativer werdenden Gesellschaft begründet. Das Bekanntwerden der nationalsozialistischen Praxis, Inhaftierte von Konzentrationslagern mit Tätowierungen zu entmenschlichen und auf Nummern zu reduzieren, hatte möglicherweise ebenfalls mit diesem gesellschaftlichen Abstieg zu tun. Auch verschärfte staatliche Alters- und Gesundheitsverordnungen trugen hierzu bei. Weiterhin wurde das Tätowieren in einigen Bundesstaaten wie New York zwischenzeitlich sogar komplett verboten, was – zum damaligen Zeitpunkt vielleicht nicht ganz zu Unrecht – mit der Eindämmung von Krankheiten begründet wurde. Schon bald wurde das endgültige Verschwinden der Tätowierung prognostiziert. Doch stattdessen fristete sie in den nächsten Jahrzehnten ein Dasein in sozialen Randgebieten, etwa in der entstehenden Biker-Subkultur, bei Chicano-Gangs und auch unter Gefängnisinsassen fand und findet sie einigen Anklang.

Matrosen an Bord des amerikanischen Kriegsschiffs USS New Jersey, 1944.
Matrosen an Bord des amerikanischen Kriegsschiffs USS New Jersey, 1944.
Die Renaissance der Tätowierung seit den 1960er Jahren

Der allmähliche und bis heute anhaltende Wiederaufstieg der Tätowierung wurde durch die rebellische Gegenkultur der 1960er und 1970er Jahre eingeleitet. Diese wollte gesellschaftliche Werte und Normen radikal in Frage stellen. Die Teile dieser unbeständigen Bewegung kämpften unter anderem für die Rechte afroamerikanischer Bürger*innen und gegen Rassismus, sie propagierten alternative Lebensentwürfe, protestierten gegen den kontroversen Vietnamkrieg und traten für geschlechtliche Gleichheit ein. 

Durch diese Gegenkultur zündete die Renaissance der Tätowierung, ein Begriff, der die bis heute anhaltende Repopularisierung und zunehmende Anerkennung als ernstzunehmende Kunstform sowie verschiedene signifikante künstlerische, technische und industrielle Zäsuren innerhalb der sich transformierenden Tattoo-Branche zusammenfasst. Erstmals hielt die Tätowierung Einzug in die middle class der USA. Viele Akteur*innen der Gegenkultur trugen sie laut DeMello nun mitunter als Symbol des Widerstandes gegen die Werte der heterosexuellen, weißen Mittelschicht. Auch viele Frauen interessierten sich zunehmend für diese Kunst. Der Tätowierer Lyle Tuttle – eine Instanz der modernen US-amerikanischen Tätowierung – antwortete auf die Frage, wodurch die Renaissance maßgeblich befördert wurde, besonders konkret: Die Frauenbefreiung! Hundertprozentig die Frauenbefreiung! Das machte das Tätowieren wieder populär. Mit ihrer neu gewonnen Freiheit, konnten sich Frauen tätowieren lassen, wenn sie das wollten. [...] Drei Jahre lang habe ich fast nur Frauen tätowiert.

Die seit 1978 tätowierende Mary Jane Haake – eine der wenigen weiblichen Pionierinnen der modernen Tätowierung in den USA und zu Beginn ihrer Karriere von Ihren männlichen Kollegen argwöhnisch beäugt – hebt im Interview hervor, wie groß der Einfluss der Musikerin Janis Joplin als Ikone des Feminismus war. Die präsentierte ihre Tätowierungen stolz der Öffentlichkeit als Teil ihrer Persona: Alles war auf den Kopf gestellt. Es war und ist wahrscheinlich noch immer nicht unüblich, dass junge Frauen alles verstecken, was sie in dieser Zeit gemacht haben [...]. Als wir aber so berühmte Leute wie Janis sahen, die diese Dinge offen taten und darüber sprachen, fühlte es sich an, als wären wir Teil eines »größeren« Ganzen. 

Auch die seit 1972 tätowierende Vyvyn Lazonga – wie Haake eine der wichtigsten US-amerikanischen Pionierinnen auf diesem Gebiet und eine der ersten Frauen überhaupt, die ein Tattoo-Studio eröffneten – ordnet die »Entdeckung« der Tätowierung durch Frauen als Folge der sozialen Veränderungen ein: Zu Beginn der 1970er Jahre kamen viele Aspekte des sozialen Bewusstseins zusammen, und das Tätowieren für Frauen war nur ein kleiner Teil dieses riesigen sozialen Wandels. Auch sie erwähnt Vorurteile, Schmähungen und Diskriminierungen, die ihr als Tätowierte entgegenschlugen. Stark tätowierte Männer hingegen waren weitaus akzeptierter.

Tätowierungen galten als Symbol des Widerstands.

Vyvyn Lazonga im Profil, sie hält eine Tätowiermaschine in der Hand.
Zwei wichtige US-amerikanische Pionierinnen der modernen Tätowierung: Vyvyn Lazonga...
Porträt von Mary Jane Haake
... und Mary Jane Haake.

Der Körper wurde zum Schauplatz und Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. 

Der Körper als politisches Instrument und Ort der Zuschreibung

Akteur*innen der Gegenkultur nutzten nun also vermehrt verschiedene Praktiken der Körpermodifikation und gerade die Anzahl tätowierter und auch tätowierender Frauen nahm rapide zu. Einige Beobachter*innen halten dieses Phänomen für eine Begleiterscheinung der Aktivitäten rund um die »zweite Welle« der Frauenbewegung. Es gebe eine Verbindung zwischen dem Aufbegehren der Frau gegen ihre gesellschaftlich verankerte Benachteiligung und dem Interesse an den Funktionen und Möglichkeiten, welche die Körpermodifikation biete, so die Individualisierung, die Rebellion und das Infragestellen gesellschaftlicher Normen.

Gerade in den 1960er und 1970er Jahren wurde der Körper erstmals flächendeckend als Schauplatz und Gegenstand politischer Auseinandersetzungen wahrgenommen, wodurch der Begriff der body politics an Bedeutung gewann. Geschlecht, sexuelle Orientierung und eben der Körper wurden nun als Elemente des politischen Kampfes begriffen, und hierbei eben auch als Mittel, um der Politik »von oben«, jenen Machtstrukturen, welche den Körper formen, eine Politik »von unten« entgegenzusetzen und die Gesellschaft aktivistisch zum Besseren zu transformieren. Diese Funktionalisierung kann als »subversive Praxis« oder auch körperpolitischer »Gegendiskurs« definiert werden. Sie ist vergleichbar mit den Tätowierungen von trotzigen Prostituierten, Schausteller*innen, Kriminellen und Seeleuten als Methode, um im Zuge der öffentlichen bürgerlichen und akademischen Verdammung der Kulturtechnik im 19. Jahrhundert dem Diskurs [...] eine »ehrenhafte Selbststigmatisierung«, der sozialen Exklusion eine eigene soziale Exklusivität entgegenzusetzen, wie es der Ethnologe Erhard Schüttpelz akkurat zusammenfasst. 

Mit zunehmendem Interesse der Gegenkultur am körperpolitischen Aktivismus wurde das »Anderssein« ein wichtiger politischer Akt, diese Identifikation mit »dem Anderen« bei gleichzeitiger Ächtung des »Normalen«, also gesellschaftlich legitimierter Standards. »Freak Out« hieß diese politische Handlung und der Tätowierung kam hier eine bedeutende Rolle zu: In den 1970er Jahren gab es überall Freaks, und insbesondere Frauen konnten den Ruf nach Mutation, nach radikaler, grundlegender Veränderung, mit einem Engagement zeigenden Tattoo beantworten. Indem sie ihre Körper auf militante Weise neu markierten und sich eine alternative Körperästhetik zu eigen machten, wurde der Geist der tätowierten Frauen der Karneval-Sideshows wiederbelebt und verschönert,  meint die Expertin für Frauen- und Geschlechterforschung Christine Braunberger hierzu. Die Vermutung liegt nahe, dass sich diese US-amerikanische Frauen der Tätowierung eben auch deshalb angenommen haben, um sich gegen hegemoniale Ideale von Weiblichkeit zu stellen und diese zu dekonstruieren. Die Herausforderung des Genormten und Gesetzten durch die Gegenkultur jener Jahre war eben auch eine ästhetische, die sich auf den Körper und dessen Formung auswirkte.

Die Demonstrantinnen in New York halten Banner und Plakate in die Höhe.
Am 26. August 1970 beteiligten sich in New York etwa 50.000 Frauen am Women's Strike for Equality. Foto FLICKR
Herrschaft(en) einschreiben, Freiheit einschreiben

Warum lassen sich Menschen überhaupt tätowieren? Umfragen hinsichtlich der Motivation zeigen bei Männern und Frauen diverse Gemeinsamkeiten. Beide Geschlechter heben beispielsweise die Individualisierung des eigenen Körpers und/oder spirituelle Gründe als wichtige Faktoren hervor. Es lassen sich aber auch signifikante Unterschiede erkennen. So lassen sich Frauen bedeutend häufiger aus Gründen der Kontrolle, Heilung und Ermächtigung tätowieren. Dem Körper könne zwar Herrschaft eingeschrieben, also eine aufgezwungene inscription of power zugefügt werden, doch könne er auch gegenteilig besetzt werden, durch eine freiwillige counterinscription, die ein wichtiger Schritt zur Rückgewinnung des Körpers sein kann. 

In diesem Kontext kann eine Tätowierung, so die Soziologin Beverly Yuen Thompson, befreiend wirken: Wenn Frauen bewusst die Schönheitskultur ablehnen, kann das befreiend sein. Frauen drücken aus, dass sie ihre Körper zurückfordern und ein erhöhtes Selbstbewusstsein entwickeln. Diese Praxis funktioniert auch umgekehrt: Wenn sich Opfer von Menschenhandel, die mitunter zur Kennzeichnung tätowiert werden, ihrem Mal entledigen, dann kann dieser Akt ebenso befreiend wirken.

Die Tätowierung als potenzielle Rebellion muss immer wieder neu betrachtet und bewertet werden. Die Möglichkeit, mit ihrer Hilfe gesellschaftlich verankerte Schönheitsideale infrage zu stellen, funktioniert selbstredend nur dann, wenn sie nicht bereits selbst als Teil dieses Ideals gilt. Dieses Potenzial ist in den USA oder im Westen allgemein gegenwärtig gewiss geringer als in den 1960er und 1970er Jahren, wenngleich hier kulturelle und regionale Unterschiede sowie auch Positionierung, Anzahl und Motiv (und eben Geschlecht) berücksichtigt werden müssen. Stark und sichtbar »zugehackte« Menschen und hier wieder besonders Frauen sind auch heute noch gesellschaftlichen Stigmatisierungen und Diskriminierungen ausgesetzt.

Im Zeitzeuginnengespräch erinnert sich Haake daran, dass sie zu Beginn ihrer Karriere beinah ausschließlich Frauen tätowierte, welche sich als »man’s property« markierten, sich also mit dem Namen oder den Initialen von Lebenspartnern und Ehemännern kennzeichnen ließen. Die Tätowierung wurde und wird also nicht nur als Instrument der Individualisierung und Rückgewinnung des Körpers genutzt, sondern auch zur Abwertung als »Besitz«, der Markierung als »Eigentum« – wobei die Bewertung dieses Phänomens noch eingehender diskutiert werden muss. Eine weitere Anekdote beschreibt einen Trick, den einige Männer anwendeten: Wenn ein Pärchen den Shop betrat, um sich Partnertätowierungen stechen zu lassen, und sich die Frau zuerst tätowieren ließ, verweigerte sich der Partner daraufhin seiner Tätowierung. Über die Verbreitung dieses Kuriosums ist wenig bekannt und es liegen hierzu keine Zahlen vor, die darüber Auskunft geben könnten.

Frauen lassen sich häufig aus Gründen der Kontrolle, Heilung und Ermächtigung tätowieren.

Lady Betty Broadbent im kurzen Kleidchen, den Blick rückwärts gewandt.
Lady Betty Broadbent, am 4. April 1938. Die Tattoo-Ikone wurde auch «the Tattooed Venus» genannt und stellte das weibliche Schönheitsideal ihrer Zeit infrage. Foto RAY OLSEN

Nicht jede Tätowierte ist automatisch aktivistische Feministin.

Mehr tätowierte Frauen – ein differenziertes Bild

Wenn Tätowierungen in westlichen Gefilden gemeinhin als maskuline Attribute betrachtet werden, wird eine tätowierte Frau von Kritiker*innen oft als vermeintlich weniger weiblich betrachtet und somit auch eher sozialen Sanktionen wie Schmähungen ausgesetzt. Im Umkehrschluss macht diese Feindseligkeit aber auch das körperpolitische Potenzial deutlich, welches eine Tätowierung für eine Frau der 1960er und 1970er Jahre im Sinne einer selbstbestimmten Modellierung des eigenen Körpers bei gleichzeitiger Verweigerung gesellschaftlicher Schönheitsideale und eines Infragestellen zugewiesener Geschlechterrollen bot. Die Frauenbewegung und mit ihr die forcierte Befreiung des Körpers schuf einen Zugang in diese Subkultur, wenngleich auch eher nebenbei. So wurden Frauen nicht nur zu Tätowierten, sondern auch zu Tätowiererinnen und somit zu gestaltenden Künstlerinnen.

Die Beobachtung einer gegenteiligen Strömung, welche die Tätowierung eher als Besitzmarkierung denn als befreiendes Element nutzte, darf jedoch nicht ausgeblendet werden. Somit ergibt sich ein differenzierteres Bild. Jenes warnt davor, die Verbindung beider Phänomene als reine Erfolgsgeschichte hochzujubeln. Mit dem Verweis auf diese Gegenströmungen, sowie auf die Komplexität von Gesellschaften und Einzelindividuen als auch eine eher dürftige Datenlage wird sich auch der Autor nicht anmaßen, ein vollständiges Bild über die Motivation zur Erlangung einer Tätowierung zeichnen zu können. Nicht jede Tätowierte ist automatisch aktivistische Feministin. Nichtsdestotrotz kann die Renaissance der Tätowierung und der Anstieg tätowierter und tätowierender Frauen insgesamt als Indikator sozialen Wandels gesehen werden, als indirekter Nebeneffekt der gegenkulturellen Strömungen jener Jahre und somit eben auch der wirkmächtigen »zweiten Welle« der Frauenbewegung.

Einer Umfrage des Marktforschungsinstituts Harris Insights & Analytics zufolge sind in den USA übrigens seit 2012 mit 23 Prozent erstmals mehr Frauen als Männer (19 Prozent) tätowiert. Im Jahr 1993 wurde das Geschlechterverhältnis noch auf ca. 20 Prozent (Männer) zu 7 Prozent (Frauen) geschätzt. Das ist doch eine schöne Entwicklung.

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