An einem saumäßig verregneten Tag steigt Christian Wolter bei Reitwein an der Oder aus seinem Volkswagen, zieht einen dickwandigen Friesennerz übers Hawaiihemd und stapft los in die Aue. Hüfthoch steht das Schilf, dazwischen Ulmen, Weiden, Baumgerippe und Unmengen vom Strom abgeschnittene Wasserläufe.
So sieht ein Fluss aus, wenn der Mensch nicht eingreift
, sagt Wolter, Fischökologe am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei. Steigt das Wasser in der Oder, darf der Strom sich in der Aue bis zum Winterdeich ausbreiten (so viel Eingriff gibt es dann doch). Das ist nicht nur deshalb eine gute Idee, weil viele Menschen eine Auenlandschaft hübscher finden als ein betoniertes Ufer mit vierspuriger Schnellstraße. Sondern auch, weil der Fluss so weniger Schaden anrichten kann. Von der Flutkatastrophe im Juli 2021, die vor allem den Westen Deutschlands traf, blieb die Oder zwar verschont. 1997 aber stieg ihr Wasser teils dreieinhalb Meter über den üblichen Pegel, verursachte in Deutschland Schaden in dreistelliger Millionenhöhe und kostete europaweit mehr als 70 Menschen das Leben (eine ähnlich gewaltige Flut 2010 richtete dank verbessertem Schutz deutlich weniger Zerstörung an).
Genau darum geht es bei der »Stromregelung der Grenzoder«, ein Abkommen, das Polen und Deutschland 2015 geschlossen haben: Was lässt sich tun, um auch bei den immer heftigeren Fluten, die der Klimawandel wohl bringen wird, eine weitere Katastrophe zu verhindern? Dass das wünschenswert ist, darüber sind sich alle Beteiligten einig. Aber da hört die Einigkeit auch schon auf.
Das Problem ist, dass die Stromregelung hinten und vorne nicht funktioniert.
CHRISTIAN WOLTER
Zusammengefasst sieht die Stromregelung vor, die Grenzoder auf 160 Kilometern so zu vertiefen, dass einheitliche Fahrtbedingungen für die Schifffahrt entstehen – etwa, um allzeit freie Bahn für Eisbrecher zu sichern. Wie immer, wenn sich die Natur menschlicher Geradlinigkeit unterwerfen soll, gibt es Opfer, in diesem Fall etwa gleich mehrere Fischarten, die sich nur in unsortierten Flüssen wohlfühlen. Und wie immer, wenn der Wunsch der Verwaltung nach einer geradlinig sortierten Natur auf die vor Ort ermittelten, kleinteiligen und oft quer zu allen Paragrafen sprießenden Erkenntnisse der Biologie trifft, wird es kompliziert. Davon handelt dieser Text.
Die Fotografin führt einen Schirm mit sich, der Autor trägt Mütze und Kapuze. Wolter lässt sich den Schädel vollregnen, dass es von der Nasenspitze tropft. Er ist in seinem Element, die Oder so etwas wie sein Zweitwohnsitz. Mehrmals im Jahr fährt Wolter den Fluss von Eisenhüttenstadt bis Schwedt ab, kann von jedem Tümpel sagen, welche Flut ihn schuf. Nur das Parallelwerk an Kilometer 605, ein steinerner Damm, der mitten in der Oder flussabwärts verläuft, kennt er noch nicht. Es ist neu, Teil besagter Stromregelung, steingewordener Kompromiss zwischen Wasserstraßenamt auf der einen, Wissenschaft und Naturschutz auf der anderen Seite.
Nach ein paar hundert jeansdurchnässenden Metern durchs Schilf steht Wolter am Ufer, das mannshohe, schwarz-rot-gelb angemalte Pfeiler säumen. Auf dem Deich hinter dem anderen Ufer stehen auch Pfeiler, aber die sind weiß-rot gestreift. Die Grenze zwischen Polen und Deutschland verläuft mitten im Fluss, der sich grau und träge Richtung Ostsee wälzt.
Bloß an der Stelle, die Wolter angesteuert hat, da tut sich was: Rechtwinklig ragt das Parallelwerk ins Wasser, die Oberfläche krumm gepflastert wie eine Altstadtgasse. Beim sommerlich-regnerischen Wasserstand von 175 Zentimetern würde ein Kleinbus darauf passen. Ein paar Meter in den Fluss hinein klafft eine drei Schritte weite Lücke im Damm. An dieser Stelle beschleunigt das Wasser, rauscht sprudelnd durch eine Stromschnelle. Dahinter taucht der Damm wieder auf, macht bald einen Knick und verläuft dann auf knapp 600 Metern in Flussrichtung des Wassers.
Von oben betrachtet bildet das Parallelwerk ein L: Der kurze Schenkel mit der Lücke ragt in den Fluss, von ihm zweigt der lange Schenkel parallel zum Ufer ab. So bewahrt der Damm einen träge fließenden Nebenarm direkt am Ufer vor zu großen Wassermassen, die seine dynamische Weiterentwicklung und Lebensräume zerstören könnten. Gleichzeitig verengt er zur Flussmitte hin den Teil der Oder, der tatsächlich fließt. Weil dort das Wasser unverändert Richtung Meer drängt, wird es schneller. Schneller fließendes Wasser trägt mehr Sand und Kies vom Boden ab, vertieft also sein eigenes Bett.
Der Nebenarm bleibt sich selbst überlassen, und das ist gut für die Fische. Zumindest für einige Arten. Das Parallelwerk erreicht also sowohl die Ziele der polnisch-deutschen Stromregelung, als auch die des Ökologen Wolter. Es ist aber eine Ausnahme, denn der Bau eines Parallelwerks ist aufwändig und teuer. An den meisten anderen Abschnitten der Oder sieht das Abkommen deshalb vor, dass stattdessen hunderte der bereits vorhandenen, aber abgetragenen Buhnen saniert werden, um den Fluss zu regulieren.
Buhnen ragen ebenfalls etwa rechtwinklig in den Strom, nur dass sich kein hunderte Meter langer Damm anschließt. Aus der Vogelperspektive sieht ein Fluss mit Buhnen an beiden Ufern aus wie ein offener Reißverschluss. Was die Stromregelung betrifft, wird mit Buhnen dasselbe erreicht wie mit einem Parallelwerk: Eine unveränderte Menge Wasser muss auf knapperer Breite Richtung Meer; den benötigten Raum gräbt sie sich aus dem Flussbett. Nur entsteht hinter einer Buhne statt eines künstlichen Nebenarms mit natürlicher Flussrichtung ein sogenanntes Buhnenfeld, in dem der Wasserstrom teils ruht, teils kreiselt – für manche Fischarten eine Gefahr, zu der wir später noch kommen.
Das Problem ist
, sagt Wolter, dass die Stromregelung so nicht funktioniert, und zwar hinten und vorn nicht.
Jedenfalls nicht, wenn gleichzeitig die angestrebte Vertiefung erreicht und die Vorschriften des Gewässer- und Artenschutzes eingehalten werden sollen. Wolter wäre es daher am liebsten, die Stromregelung würde gar nicht erst umgesetzt, sodass der Fluss sich weiterhin selbst überlassen bliebe (auch der BUND oder die Bundestagsfraktion der Grünen sind gegen das Projekt in seiner aktuellen Form).
Laut der zuständigen Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes ist der Hauptgrund für die geplante Regelung, dass die Grenzoder – in den vergangenen Jahrzehnten vielerorts sich selbst überlassen – versandet sei. Dies könne dazu führen, dass sich winters im zu flachen Wasser dicke Eisschollen verkanteten, etwa an Brückenpfeilern, und so weiteres Eis aufstauten. Bei Tauwetter lösten die schmelzenden Eismassen schlimmstenfalls ein Hochwasser aus. Der niedrige Wasserstand verhindere zudem, dass Eisbrecher die Grenzoder ungehindert befahren könnten. Deshalb müsse die Oder eine mittlere Tiefe von 1,80 Meter haben, und zwar – je nach Abschnitt – über 80 oder 90 Prozent des Jahres.
Seit 1947 hat es auf der Grenzoder aber gar keine Hochwasser gegeben, die durch Eisstau ausgelöst wurden
, sagt Wolter. Vielmehr sei die Zahl der Eistage seit 1961 um mehr als ein Drittel gesunken – ein Trend, der sich mit dem Klimawandel verstärken dürfte. Das Eis mit den vorhandenen Schiffen aufzubrechen, so Wolter, sei noch nie ein Problem gewesen – auch nicht im vergangenen, vergleichsweise kalten Winter.
Im Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt (WSA) Oder-Havel in Eberswalde sieht man das anders: Mit dem Klimawandel nehmen extreme Wetterereignisse eher zu
, sagt die Ingenieurin Astrid Ewe, beim WSA für die Regelung der Oder zuständig. Vielleicht wird es seltener Frost geben. Aber schon eine durch Eisgang ausgelöste Überschwemmung in Jahrzehnten würde die Regulierung rechtfertigen.
Schließlich, so Ewe, würden auch die Nordseedeiche nicht für den durchschnittlichen Herbststurm gebaut, sondern für die Jahrhundertflut.
Wolter wirft den Behörden aber einen noch grundlegenderen Fehler vor: Die geplante Vertiefung lässt sich mit der Sanierung der bestehenden Buhnen gar nicht erreichen.
Dafür seien stattdessen ein Ausbau der Bauwerke im Fluss und sogar neue Buhnen nötig. Dieser aber würde womöglich gegen europäisches Recht verstoßen. Astrid Ewe widerspricht Wolters Darstellung: Der Ausbau der Oder wurde vor 100 Jahren begonnen und nie abgeschlossen. Die ursprünglich vorgesehenen, teilweise viel größeren Wassertiefen wollen wir gar nicht herstellen.
Es gehe, so Ewe, um eine Reparatur und Modifikation der Buhnen – mit dem Ziel, besagte 1,80 Meter mittlere Wassertiefe während mindestens 80 Prozent des Jahres zu erreichen.
Gegen die Stromregelung spricht auch, dass ein vertieftes Flussbett den Grundwasserspiegel sinken lässt
, so Wolter. Darunter würden nicht nur die Feldfrüchte leiden, die hinter dem Winterdeich wachsen, sondern auch die Auen. Sie sind auf ständige Feuchtigkeit angewiesen.
Intakte Flussauen wiederum sollen die in Zukunft immer häufiger erwarteten Hochwasser zähmen helfen: In diesem Fall würde die Stromregelung, statt den Fluss gegen Fluten zu wappnen, ihn sogar anfälliger für heftiges Hochwasser machen.
Vor allem aber, so Christian Wolters Vorwurf, würde sie die Artenvielfalt gefährden: Die Auswirkungen verstärkter Buhnen auf die Strömung könnten den Bestand einiger Fischarten gefährden, weil sie die letzten verbliebenen Laichplätze zerstören würden: Davon bedroht wären unter anderem der Lachs, die Quappe (eine Kusine des Dorschs) und der baltische Stör. Oder der Goldsteinbeißer
, sagt Wolter, noch immer kapuzenlos im strömenden Regen, ein Stiefel auf dem Kopfsteinpflaster des Parallelwerks. Hier ist die einzige Stelle, an der wir ihn bisher in der Oder nachgewiesen haben.
Der fingerlange, torpedoförmige Winzling, der mit seinem braun-gelblichen Fleckenmuster eine gute Schlange abgeben würde, laicht am Ufer, braucht aber auch Strömung. Deshalb wurde das Parallelwerk – anstelle von Standardbuhnen – genau an dieser Stelle errichtet. Es bewahrt einen gemächlich durchflossenen Nebenarm, in dem der Nachwuchs des Goldsteinbeißers eine Chance hat. In den odertypischen Buhnenfeldern mit ihrem unnatürlichen Strömungsmuster klappt das nicht.
Aber selbst wenn Geld keine Rolle spielte, würde es aus der Perspektive des Artenschutzes nichts bringen, den Strom komplett mit teuren Parallelwerken zu regeln: Das wäre zu monoton
, sagt Wolter. Jede Fischart benötigt andere Bedingungen.
Der Ostseeschnäpel etwa, ein halbmeterlanger Verwandter von Lachs und Forelle, steuert zum Laichen seichtere, strömende Gewässerabschnitte an. Diese Kombination gibt es typischerweise an Sandbänken in der Flussmitte, und die trägt ein künstlich beschleunigter Fluss ab. Astrid Ewe vom WSA in Eberswalde sagt, diesen Vorwurf könne sie bisher weder bestätigen noch widerlegen. Sie verweist auf ein laufendes Monitoring, das untersucht, wie sich die Fischbestände entwickeln.
Es gibt aber noch einen zweiten Grund, warum die Oder reguliert werden soll. Die deutschen Behörden weisen in ihren Veröffentlichungen eher verschämt darauf hin. Unabhängig von der Hochwassergefahr, heißt es etwa in einem Gutachten der Bundesanstalt für Wasserbau von 2011, sei auf der Oder auch »die Binnenschifffahrt behindert«. Allerdings ist diese auf deutscher Seite mit jährlich 250.000 Tonnen so unbedeutend, dass der Fluss in der Bundesstatistik nicht einmal gesondert ausgewiesen wird. Die Schiffer auf der Elbe bewegen 40-mal, die auf dem Rhein über 650-mal mehr.
Es gibt gar nicht genug Güter, die aus den angrenzenden Regionen zur Ostsee transportiert werden müssen
, sagt Christian Wolter. Zumal entlang der Oder auch noch eine Bahnstrecke verlaufe. Laut Daten der beiden Schleusen beim brandenburgischen Hohensaaten, die etwa auf halber Strecke der Grenzoder liegen und nicht den gesamten Verkehr erfassen, sind 2020 gut 40 Prozent weniger Güter transportiert worden als 2016 (der Trend bestand bereits vor der Covid-19-Pandemie). Für Astrid Ewe sind gerade solche Zahlen ein Argument für die Regulierung: Die Oder kann nur dann von der Binnenschifffahrt genutzt werden, wenn ausreichende Tiefen vorhanden sind.
Kritiker des Vorhabens glauben, zumindest Polen habe ohnehin ganz andere Pläne: Wenn die Oder unter dem Deckmantel des Hochwasserschutzes erst einmal ausgebaut ist, kann sie in eine höhere Wasserstraßenklasse hochgestuft werden
, so Wolter. Das wiederum bedeute Zugang zu Fördergeldern aus der Europäischen Verkehrsnetzentwicklung (die regionale Wasserwirtschaftsverwaltung im polnischen Stettin äußerte sich auf unsere Nachfrage hin nicht zur Stromregelung).
Wolter hofft nun auf eine höhere Instanz: Ließe sich nämlich nachweisen, dass die Regulierung keine Sanierung darstellt, sondern einen Ausbau, müssten die Behörden gemäß EU-Wasserrahmenrichtlinie nachweisen, dass ihr Vorhaben einem übergeordneten öffentlichen Interesse dient. Dagegen wiederum könnten Umweltverbände vor dem Europäischen Gerichtshof klagen. Der könnte letztlich das ganze Projekt stoppen.