Schon als die Sonne aufgeht, ahnen die Neapolitaner: Der 10. Oktober 1465 wird ein Tag, der einer königlichen Hochzeit gebührt, ein Spätsommertag wie Samt und Seide. Seit Wochen bereiten die Zeremonienmeister die Hochzeit des erst 17-jährigen Alfons II. von Aragón mit Ippolita Maria Sforza vor, einer gebildeten jungen Frau aus der mächtigsten und reichsten Familie Mailands. Mittags säumen Tausende die Straßen in Erwartung des prächtigen Hochzeitszugs. Doch bald bemerkt Ippolita irritiert, dass nicht das irdische Schauspiel die Blicke der Menge anzieht, sondern ein himmlisches. Ein zeitgenössischer Bericht schildert das Spektakel: »Die Sonne veränderte ihre Farbe von der natürlichen zu einem dunklen Lila und Blau, sie erhielt die größte Bewunderung — und nicht der Einritt der neuen Dame.«
Als Martin Bauch 550 Jahre später diesen Satz liest, hat er gefunden, wonach er sucht. Einen eindeutigen historischen Beleg für den zweitgrößten Vulkanausbruch der vergangenen 1.000 Jahre. Eine Eruption mit der Wucht von hunderttausenden Atombomben, die Staub und Gas aus dem Inneren der Erde 40 Kilometer hoch in die Stratosphäre stieß. Bauch, Mittelalterhistoriker am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa in Leipzig, versucht eine der großen Debatten der Klimageschichte neu aufzurollen. Niemand weiß, wo sich der Vulkan befand und in welchem Jahr er ausbrach.
Legenden aus Polynesien berichten, dass vor etwa 20 Generationen ein Berg explodierte, der ganze Inseln zerstörte, riesige Tsunamis auslöste und Tausende in den Tod riss. In den 1980er Jahren fanden Forscher in Bohrkernen aus grönländischen Gletschern und im Eis der Antarktis massive Ablagerungen vulkanischer Partikel aus der Mitte des 15. Jahrhunderts.
Seitdem zerbrechen sich Vulkanologen, Klimaforscher und Historiker den Kopf. Immer neue Theorien wuchern um den Supervulkan, dessen Kraterreste viele auf dem Meeresgrund bei der untergegangenen Südseeinsel Kuwae vermuten. Einige Wissenschaftler nehmen an, der Vulkan sei 1452 ausgebrochen und habe seine Wirkung ein Jahr später weltweit entfaltet. Damals belagerte das osmanische Heer Konstantinopel, das heutige Istanbul.
Berichte der Belagerten erzählen von seltsamen Lichtern über der Hagia Sophia und Feuern am Horizont, weit hinter dem türkischen Lager. Die Zeitgenossen verstanden die Schilderungen des schaurigen Scheins metaphorisch: Die Hauptstadt des orthodoxen Christentums habe ihren göttlichen Schutz verloren.
Heute nehmen einige Forscher die Quellen wortwörtlich: Damals sei die gewaltige Aschewolke des Kuwae-Ausbruchs in Europa angekommen. Und weil das folgende Jahrzehnt zu den kältesten seit Menschengedenken gehörte, mit Jahren ohne Sommer, mit Hungersnöten, Pestwellen und Sintfluten, die Leichen aus ihren Gräbern schwemmten, schließen sie eine weitere Vermutung an: Der Ausbruch des Kuwae-Vulkans habe die kleine Eiszeit ausgelöst.
Plötzlich ging die blaue Sonne überall auf.
Martin Bauch hält beide Thesen für nicht ausreichend belegt. Vulkane interessierten den Mediävisten ursprünglich herzlich wenig. Während des Quellenstudiums überblätterte er immer wieder seitenlange Abhandlungen mittelalterlicher Schreiber über das Wetter. Bis er auf die Litanei eines Konstanzer Chronisten stieß. Die Feldfrüchte seien das ganze Jahr nicht gereift: »Die sone ist vil tag blahe gesehen worden.« Eine blaue Sonne, viele Tage lang.
Das kam Bauch bekannt vor. Er kramte einen Bericht des Notars Angelo de Tummulillis über die Fürstenhochzeit in Neapel hervor, von vielen Forschern bislang als unzuverlässige Quelle abgetan. Sie sahen in Tummulillis einen Fantasten, der von Himmelsereignissen fabulierte, die es nicht geben kann. Oder doch? Bauch suchte weiter. Und plötzlich ging die blaue Sonne überall auf: in Berichten aus Rom, Umbrien, Bologna, Dortmund, Maastricht. Halb Europa scheint im September 1465 unter einer blauen Sonne gestanden zu haben. Wie kann das sein?
Um herauszufinden, was damals in der Stratosphäre, 40 Kilometer über der Erde, geschah, muss Martin Bauch keine 40 Meter weit laufen: Der Experte für Himmelsphänomene ist sein Nachbar. Patric Seifert, Meteorologe am Leibniz-Institut für Troposphärenforschung, untersucht Wege und Wirkung von Aerosolen in der Atmosphäre. Von den winzigen Partikeln der Vulkanasche zum Beispiel.
Dafür sendet seine Arbeitsgruppe mit Lidar-Geräten Photonenpakete in den Leipziger Himmel: Die Methode funktioniert ähnlich wie ein Radar, nur mit Licht. Tag und Nacht pulst jedes der Instrumente einen grünen Laserstrahl senkrecht nach oben, 20 bis 30 Mal pro Sekunde. Dazu ultraviolette und infrarote Strahlen. Trifft das Licht auf Partikel, wird es gestreut, abgelenkt oder ändert seine Schwingungsrichtung. Ein kleiner Teil wird genau zum Institut zurückreflektiert und mit Spiegelteleskopen eingefangen. Und daraus, wie dieser winzige Rest Streulicht beschaffen ist, kann Patric Seifert schließen, auf welche Partikel das Licht in der Atmosphäre gestoßen ist.
Seifert kennt das Phänomen des Purpurlichts: »Wenn Himmel und Sonne sich in der Dämmerung intensiv rot-bläulich färben, befinden sich in der Stratosphäre sehr kleine Partikel, die das Sonnenlicht streuen.« Die Stratosphäre liegt oberhalb der sogenannten Wetterschicht, etwa zwölf bis 50 Kilometer über dem Erdboden. Wenn die Menschen in Europa 1465 über einen längeren Zeitraum Purpurlicht auch tagsüber gesehen haben, müssen zuvor große Mengen von Partikeln in diese Höhen gelangt sein. Das passiert nur durch gewaltige Katastrophen, ausgedehnte Waldbrände zum Beispiel. Oder durch den Ausbruch riesiger Vulkane.
Martin Bauch ist sich sicher: Die blaue Sonne 1465 über Europa ist ein Hinweis auf den Ausbruch des Kuwae-Vulkans und die bisherige Datierung auf 1452 wahrscheinlich falsch. Doch stürzte die Eruption die mittelalterliche Welt tatsächlich in eine Klimakatastrophe?
PARTIKELFLUG
Die erste Eruption ereignet sich am 20. März 2010. Lavafontänen schießen aus dem Vulkan, Aschewolken bilden sich. Doch außerhalb von Island nimmt kaum jemand Notiz von dem Naturschauspiel. Erst einen Monat später, am 14. April, wird man überall in Europa versuchen, den Namen dieses Vulkans korrekt auszusprechen: Eyjafjallajökull. Kilometerhoch schleudert er die Asche an diesem Tag in die Luft, der Wind trägt sie bis nach Europa. Über 100.000 Flüge fallen aus, rund zehn Millionen Passagiere sitzen fest. Fünf Tage dauert es, bis in Deutschland die ersten Maschinen wieder abheben. Die Europäische Union beziffert die Einbußen für die Luftfahrtunternehmen auf etwa 150 Millionen Euro pro Tag. Insgesamt betragen die Umsatzausfälle 1,5 bis 2,5 Milliarden Euro.
»Vulkane stoßen einerseits Asche aus, also sehr kleine Bimssteinpartikel, andererseits auch Schwefeldioxid«, erläutert Patric Seifert. Das Gas oxidiert in der Stratosphäre zu Schwefelsäure. »Obwohl die Partikel nur etwa ein Mikrometer groß sind, können wir mit Lidar die runden Schwefelsäuretropfen in der Stratosphäre deutlich von den kantigen Aschepartikeln unterscheiden.« Und ihren Weg zurückverfolgen.
1991 zum Beispiel waren die Aerosolwolken des Vulkans Pinatubo auf den Philippinen vier bis acht Wochen unterwegs, bis sie in Europa ankamen. Aus der tiefer liegenden Wetterschicht wären die Partikel in dieser Zeit schon längst durch Niederschläge ausgewaschen worden. In der Stratosphäre jedoch konnten die Dunstschleier jahrelang um die Erde wehen und das Sonnenlicht ablenken. »Durch die Vulkanaerosole des Pinatubo kamen pro Quadratmeter etwa zwei Watt weniger Sonnenenergie auf dem Erdboden an«, sagt Seifert. »Zwei Jahre lang hat der Vulkan damit die Erderwärmung, die von uns Menschen durch erhöhten CO2-Ausstoß verursacht wird, komplett ausgeglichen.«
Die Eruption des Pinatubo war einer der mächtigsten Vulkanausbrüche des 20. Jahrhunderts, doch sie war ein Zwerg im Vergleich zum rätselhaften Kuwae-Ausbruch, dessen Spur Martin Bauch aufgenommen hat. Die enormen Partikelwolken könnten die Durchschnittstemperatur im 15. Jahrhundert um mehrere Grad gesenkt haben.
In der jüngeren Vergangenheit dürfte einzig der Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora 1815 mit dem des Kuwae vergleichbar sein. Seine Aerosolwolken führten zu einer Kältewelle, anhaltender Feuchtigkeit und nach verheerenden Missernten zur schlimmsten Hungersnot des 19. Jahrhunderts. Gab es im 15. Jahrhundert ein ähnliches Muster?
Bauch tauchte wieder ab ins Archiv und durchsuchte alle Quellen, derer er habhaft werden konnte: Berichte, Tagebücher und Chroniken aus Europa, Russland und Arabien zwischen 1460 und 1470. »Grauenhaft viel Arbeit.« Und doch, am Ende bleibt das Bild unscharf. »Das individuelle Gedächtnis reicht 20 Jahre zurück, in den Quellen ist ständig vom ›kältesten Winter‹ die Rede oder ›der größten Flut seit Menschengedenken‹.« Das Jahrzehnt war kühl und feucht, das ist sicher. Aber allein von solchen Schilderungen auf den Vulkanausbruch als Auslöser der kleinen Eiszeit zu schließen, sei vorschnell, sagt Bauch. Von einer Klimakatastrophe könne keine Rede sein. Zumindest nicht in Europa.
In China fiel die Asche wie »schwarze Hirse« oder »schwarzer Reis« vom Himmel.
Zurzeit spannt Bauch deshalb ein weltweites Netz zu anderen Historikern, um den Ausbruch des Kuwae als globales Ereignis zu erfassen. Bereits jetzt zeichnet sich ab, dass Menschen im heutigen Indien, Myanmar, Australien und Mexiko die Auswirkungen gespürt haben. In China fiel die Asche sogar wie »schwarze Hirse« oder »schwarzer Reis« vom Himmel.
Um herauszufinden, wann und wo der Vulkan ausgebrochen ist, intensiviert Bauch außerdem die Zusammenarbeit mit Naturwissenschaftlern wie Patric Seifert. Er will Klimamodelle mit historischen Daten füttern. »Wir Historiker können teilweise sogar tagesgenaue Hinweise auf Eruptionen geben und liefern in diesem Fall feinere Daten als die Naturwissenschaften.«
Bauch vermutet, dass ein großer Vulkanausbruch mit anderen Ereignissen zusammenfallen muss, damit eine kleine Eiszeit ausgelöst wird. »Für den Ausbruch des Tambora ist gut belegt, dass die Vulkanaersole nur für ein Drittel der Abkühlung verantwortlich waren.« Heiße Kandidaten für den zusätzlichen Faktor X seien Sonnenflecken. Ihre Zahl nimmt alle elf Jahre ab und reduziert zyklisch die Sonnenstrahlung. Immer wieder gibt es auch besonders schwache Sonnenzyklen — und der Tambora- Ausbruch fiel genau in eine solche Zeit.
Patric Seifert blickt derweil gespannt in die Zukunft. Seit dem Ausbruch des Pinatubo 1991 ist die Technik zur kontinuierlichen Beobachtung von Vulkanaerosolen weit fortgeschritten. Die Daten des Ausbruchs von Eyjafjallajökull 2010 auf Island sind vollständig ausgewertet. Der Ausbruch legte zwar den europäischen Flugverkehr lahm, nahm aber keinen Einfluss aufs Klima. Er war vergleichsweise klein und seine Asche schaffte es nur bis in die Troposphäre, die in etwa zwölf Kilometern Höhe endet.
Seifert und seine Kollegen sind für den nächsten Vulkan gewappnet, der seine Asche nach Europa schickt. Aktiv sind jedes Jahr 50 bis 60 Vulkane. Doch gewaltige Eruptionen wie Kuwae und Tambora erlebt die Menschheit nur alle 500 Jahre.